Volksentrechtung und Terrorismus. Die Propaganda der Tat und ihre Ursachen

Soeben ist eine Broschüre erschienen, betitelt: „Die Ideenwelt des Anarchismus" (Verlag Felix Dietrich, Leipzig, Preis 1,00 Mk.) in der ein Nicht-Anarchist, Dr. W. Borgius, in gedrängter Kürze eine Darstellung der anarchistischen Bewegung und der ihr eigenen Grundgedanken zu geben versucht. Es muss gesagt werden, dass das dem Verfasser nicht übel gelungen ist; man kann mit der dabei geübten Objektivität zufrieden sein und wenn auch die Beschränkung der Arbeit einen ungünstigen Einfluss auf die Anschaulichkeit der Darstellung hatte, bietet Dr. Borgius uns doch ein Schriftchen, das sehr wohl geeignet ist, Fernstehende über Ursprung und Ziele, wie über mancherlei Erscheinungen der anarchistischen Bewegung einigermassen zu belehren.

Am Schluss dieser Broschüre kommt der Verfasser auf die berüchtigten „Internationalen Abmachungen der Regierungen gegen den Anarchismus" zu sprechen. Und in richtiger Beurteilung der Sachlage warnt er die Regierung vor einer gesteigerten Entrechtung des Volkes und einer Verfolgung des Anarchismus durch Ausnahmegesetze.

Er wirft sehr richtig der Regierungsgewalt vor, dass sie „ganz offensichtlich die Begriffe Anarchismus und Terrorismus mit einander verwechselt", und gibt folgende Auseinandersetzung über diese Begriffe wie über den Zusammenhang zwischen Volksentrechtung und Terrorismus:

„Wir haben schon eingangs ausgeführt, dass der Terrorismus, die Taktik der Gewalt, mit dem Anarchismus als theoretische Lehrmeinung in nicht dem geringsten inneren, gedanklichen Zusammenhang steht. Der Terrorismus ist lediglich eine äussere Begleiterscheinung gewisser anarchistischer Richtungen, wie er in früheren Zeiten die so mancher anderen politischen Strömung gewesen ist. Und er ist, wie sich historisch verfolgen lässt, ein Erbteil des russischen Nihilismus, ein Kind der politischen Verhältnisse der russischen Despotie. Das sollte m. E. zu denken geben. Es kann wohl kaum ein Zweifel darüber herrschen: was den Terrorismus in Russland — und schliesslich überall, wo er historisch aufgetreten ist - geboren hat, war die absolute Rechtlosigkeit der bedrückten Bevölkerungsschichten, die gewaltsame Verhinderung von Bestrebungen zur Besserung ihrer Lage, die Unterdrückung jeder Verbreitung von Lehrmeinungen darüber, wie bessere Zustände erreicht werden könnten. Wenn man nun in einem Staat, wo bisher im Wesentlichen das Prinzip freier Meinungsäusserung und der Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz geherrscht hat, gegen einen bestimmten Teil derselben, bezw. gegen eine bestimmte Lehrmeinung mit Ausnahmegesetzen zu Felde zieht, so züchtet man damit künstlich einen Gemütszustand in den nächstbeteiligten Kreisen, welcher gerade dem Aufkommen des Terrorismus den Boden bereitet.

Man mache sich doch einmal klar, welchen Zweck die Taktik des Terrorismus überhaupt verfolgt: Kein anarchistischer Attentäter wähnt, mit der Tötung irgend eines Fürsten oder Präsidenten könnte er die Welt seinem anarchistischen Ideale auch nur den kleinsten Schritt näher bringen. Im Gegenteil, er weiss wohl, dass jedes anarchistische Attentat in der Regel eine Ära der Verfolgung und Unterdrückung einleitet. Was ihn bewegt, zum Dolch oder zur Bombe zu greifen, ist vielmehr lediglich und ausschliesslich der agitatorische Zweck.

Netschajeff folgert: Auf gewöhnlichem Wege, durch Wort und Schrift können wir bei den - in Russland - herrschenden Verhältnissen unsere Gedanken nicht ins Volk bringen. Daher müssen wir auf Umwegen künstlich von uns reden machen. Das beste Mittel hierzu aber sind grosse Verbrechen. Ein solches kann nicht geschehen, ohne allenthalben und in den weitesten Volkskreisen das grösste Aufsehen zu erregen. Alle Welt spricht davon, alle Zeitungen, auch die regierungsfrömmsten, bringen Berichte darüber, Auszüge aus den Prozessverhandlungen, Mitteilungen über die Person des Verbrechers und die Motive der Tat.

Das ist es aber, was wir brauchen, denn, wenn es heisst, ein Nihilist oder ein Anarchist hat dies Verbrechen begangen, dann fragen alle Leute: Was ist denn Nihilismus oder Anarchismus, was wollen diese Menschen, wer sind ihre Führer und was lehren diese? Die Zeitungen und Zeitschriften aller Richtungen müssen aus Rücksicht auf die Wissbegier ihrer Abonnenten darlegen, was ihnen hierüber bekannt ist, und auf diese Weise wird durch die Hand unserer Feinde selbst diejenige Agitation getrieben, die zu treiben sie uns mit allen Mitteln der Macht und List verhindern.

Aus diesem Gedankengang heraus wird es auch verständlich, was immer wieder in der öffentlichen Diskussion so viel Kopfschütteln erregt, warum terroristische Attentate sich keineswegs immer gegen besonders prominente Vertreter der Staatsgewalt oder besonders verhasst gewordene Persönlichkeiten richten, sondern oft so harmlose Opfer suchen, wie der Dolch, welcher die alte Kaiserin Elisabeth von Österreich ermordete oder gar die Bombe, die in ein von gleichgültigen unbekannten Menschen gefülltes Cafe geschleudert wurde. Auf Ziel und praktischen Erfolg des Verbrechens kommt es gar nicht an; im Gegenteil, man möchte beinah sagen: Je sinnloser, je unverständlicher das Verbrechen ist, desto besser und desto sicherer wird der eigentliche Zweck erreicht, dass sich alle Welt über die Motive des Täters den Kopf zerbricht und sich demzufolge über die Lehren zu unterrichten sucht, welche ihm das Mordinstrument in die Hand gedrückt haben.

Hieraus ergibt sich nun einleuchtend: Je liberaler in einem Staate die Vereins - ,Versammlungs - und Pressfreiheit gehandhabt wird, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass in ihm eine terroristische Strömung aufkommt; es gibt aber umgekehrt kein sichereres Mittel, sie zu züchten, als wenn man die Koalitions- und Meinungsfreiheit beschränkt und einzelne Gruppen der Bevölkerung ausserhalb des Gesetzes stellt."

Wir können die kleine Schrift jedem empfehlen, der erfahren will, wie sich der Anarchismus im Kopf eines objektiv urteilenden vorurteilslosen Nicht-Anarchisten spiegelt. Dass sie aber etwa eine Wirkung auf RegieruDgs- und Polizeigehirne haben wird, müssen wir schlechterdings bezweifeln.

Aus: Der freie Arbeiter, 1. Jahrgang, Nr. 29, 1904. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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