Die grosse Lüge: Parlamentarismus

Der deutsche Republikaner Rittinghausen, Mitglied des Frankfurter Volksparlamentes von 1848 war nach der Niederlage der deutschen Revolution nach Paris und von hier nach dem Staatsstreich vom 2. Dezember nach Belgien geflüchtet und veröffentlichte dort im Jahre 1852 ein Kritik des Parlamentarismus, die u. a. folgende Punkte behandelt:

„Es ist absurd, eine Sache durch etwas ihr diametral Entgegengesetztes vertreten zu lassen: das Schwarze durch das Weiße, das Volksinteresses durch ein Privatinteresse. Volksvertretung ist nichts als Fiktion. Der Abgeordnete vertritt nur sich selbst, denn er gibt seine Stimme und handelt seinem eigenem Willen gemäß und nicht laut dem Willen seiner Auftraggeber. Er kann für seine Person ja sagen, wo die anderen nein sagen würden, und er tut das auch in den meisten Fällen. Die Vertretung des Volkes ist somit aufgehoben, wenn man darunter das beständige Zuwiderhandeln gegen das Interesse und die Meinung des Volkes nicht verstehen will. Es gibt wohl keinen greifbareren Beweis für diese Wahrheit als die Abschaffung des französischen Wahlrechtes, die von denselben Abgeordneten beschlossen wurde, die diesem Wahlrecht entsprossen waren.

Sollte sich jedoch unter den Abgeordneten wirklich ein weißer Rabe, ein wahrer Volksvertreter vorfinden, so wäre trotzdem nur ein kleiner Bruchteil des Volkes vertreten, und auch dieser Teil würde nicht zur Geltendmachung seiner Interessen kommen, wenn sich im Abgeordnetenhause die Mehrheit der übrigen Abgeordneten dagegen erklären würde.

Bei den Wahlen hat der Intrigant stets Vorteil gegenüber einem Ehrenmann, da er über eine Auswahl von Mitteln gebietet, die der Ehrliche verabscheuen muß. Die Dummheit triumphiert über das Talent, denn drei Viertel der Wähler geben ihre Stimme ab ohne ihren Kandidaten zu kennen, oder ihn beurteilen zu können. Folglich ist bei dem Repräsentativsystem schon die Wahl an sich eine grobe Täuschung. Denn entweder wird vom Wähler verlangt, er solle seine Stimme gemäß seiner persönlich über die Fähigkeiten des Kandidaten gewonnenen Überzeugung abgeben und das wäre — das Unmögliche verlangen; oder aber der Wähler stimmt für einen vom Wahlkomitee vorgeschlagenen Kandidaten ohne ihn persönlich zu kennen, dann hat aber nicht der Wähler gewählt, sondern eine kleine Gruppe von Leuten, deren Einzelinteresse doch nicht mit dem Gesamtinteresse des Volkes zu verwechseln ist. Deshalb gibt uns auch die Geschichte den Beweis, daß in Abgeordnetenhäusern die Mittelmäßigkeit vorherrscht, und das Talent die Ausnahme bildet.

Im Parlament ändern viele ehrenwerte Personen ihren Charakter; der Mensch mag noch so ehrlich sein, im Parlament lernt er seine Überzeugung in den allermeisten Fällen verleugnen. Das parlamentarische System enthält eine Unzahl von Versuchungen, denen ein Irdischer nicht ausgesetzt werden darf. So z.B. die Versuchung, sich zu bereichern, sich und seine Familie auf Kosten der Wähler zu erhöhen, ohne damit ein gesetzlich strafbares Verbrechen zu begehen. Hiedurch entstehen fortwährende Meinungswechsel in den Reihen der Gewählten, sodaß es zu einer Majorität uneigennütziger Vertreter fremder Interessen niemals kommt.

Die Furcht, nicht wiedergewählt zu werden, greift bei einem dieser schlimmen Vertreter nicht Platz, denn je mehr er seinem Mandate zuwiderhandelt, desto sicherer ist ihm die Gewißheit, wieder ins Parlament zu kommen, sei es auch mit Hilfe irgend einer korrumpierten Volksvertretung, die ganz zu Diensten der Regierung steht. Auf diese Waise bringen es die verwerflichsten Abgeordneten zur längsten gesetzgeberischen Karriere und überleben alle Regimewechsel. Es wäre nicht schwer, Beispiele zu zitieren, man hätte unter vielen bekannten Namen zu wählen.

Die gesetzgebenden Versammlungen sind die personifizierte Unfähigkeit und Böswilligkeit, sowohl in gesetzgeberischer, als in politischer Hinsicht. In der Gesetzgebung begehen sie fortwährend Attentate gegen die Freiheit des Volkes oder werfen die Steuergroschen des Armen an Spekulanten weg. In politischer Hinsicht ist es noch schlimmer, wenn es Schlimmeres geben kann. Es wird das gute Recht der Nationen dem Despotismus überantwortet. In einem Zeitraum von weniger denn 30 Jahren hat Frankreich unter Ludwig XVIII. den Krieg gegen Spanien zu Gunsten Ferdinand VII. geführt; unter Louis Philipp wurde zu Gunsten der Donna Maria von Portugal interveniert und etliche Mal die Schweiz bedroht; unter der Republik wurde der Absolutismus der Geistlichkeit in den romanischen Staaten wieder hergestellt ..."

*) Man vergleiche bloß die letztwöchentliche Verhandlung des Kongresses für Wohnungsreform in Wien. Anm. d. Red.

Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 9 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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