Fritz Oerter - Revolutionärer Syndikalismus und deutsche Gewerkschaftsbewegung

(Ein Vortrag gehalten vor Sozialdemokraten.)

Sie haben mir den Auftrag erteilt, Ihnen den Unterschied zu erklären zwischen revolutionärem Syndikalismus und deutscher Gewerkschaftsbewegung. Ich werde mich bemühen, Ihnen die Schilderung dieser Gegensätze ohne jede Voreingenommenheit zu geben. Denn es erscheint auch mir nichts lächerlicher und törichter, als wenn ich auf fest eingewurzelte Vorurteile und Voreingenommenheit stoße, deren Auftreten meist auf reaktionäre und rückständige Gesinnung schließen läßt. In unserer fortgeschrittenen Zeit, wo sich dem Gedanken einer fortlaufenden Entwickelung kein vernünftiger Mensch mehr verschließen kann, wo alles fließt und sich bewegt, ich sage, in einer solchen Zeit der fortschreitenden Geistesbewegung »Halt« rufen zu wollen, das ist nicht nur konservativ, rückständig, nein, das ist etwas weit Schlimmeres, das ist eine engpyramidale Dummheit, besonders aber, wenn Arbeiter solches tun. Wir spotten mit Fug und Recht über die Gegner in Unternehmer- und Regierungskreisen, die eine Mauer vor die Sonne bauen, die mit Aussperrungen und Kleinkriegen, mit Polizeimaßregeln uns niederdrücken wollen, die blödsinniger Weise den Sozialismus, — wohlverstanden den Sozialismus, der von der Naturwissenschaft als eine aufbauende Kraft, als eine Naturgewalt erkannt wurde, den Sozialismus, der in der Luft liegt, den man gleichsam mit jedem Atemzug einatmet — vernichten und verleugnen wollen; aber wir dürfen doch nicht in denselben Fehler verfallen, den wir an den Gegnern tadeln, wir dürfen dem Sozialismus, der gleichbedeutend mit Fortschritt ist, keine Grenzen setzen. Wo wir hinblicken, sehen wir Unduldsamkeit und Disharmonie und wenn wir leiden, geschieht es deshalb, weil man Grenzscheiden zwischen den einzelnen Völkern, Grenzscheiden zwischen den einzelnen Klassen, Grenzen zwischen Mensch und Mensch geschaffen hat. Unser edelstes und eifrigstes Bestreben muß es sein, alle Grenzen niederzureissen, alle Grenzen, sowohl zwischen den einzelnen Rassen und Völkern, als auch zwischen den einzelnen Klassen. Und nur der wird den Ehrennamen »Revolutionär« verdienen, der konsequenterweise gar keine solchen Scheidewände mehr anerkennt, dessen Ziel die Einheit, die wahre Freiheit, dessen Sehnsucht die vollendetste Harmonie ist.

Von diesem Standpunkte aus betrachtet, ist der Syndikalismus als eine entschieden revolutionärere Strömung aufzufassen, als die deutsche Gewerkschaftsbewegung. Wollen wir uns einmal zunächst mit dem Begriff »Syndikalismus« befassen. Unter Syndikalismus im allgemeinen versteht man die Gewerkschaftsbewegung der romanischen Länder überhaupt. Wie bei uns, gibt es dort schwarze, gelbe, rote und noch rötere Gewerkschaften. Wenn ich hier das Wort Syndikalismus gebrauche, so verstehe ich den revolutionären Syndikalismus darunter, wie er in Frankreich, der französischen Schweiz und in Italien auftritt. Freilich, betreffs der Mitgliederzahl kann sich dieser Syndikalismus, selbst im Verhältnis betrachtet, auch nicht annähernd mit den Gewerkschaften Deutschlands messen. Wohl gibt es auch in Frankreich große Vereinigungen, die ähnlich wie die deutschen Gewerkschaften das Prinzip gegenseitiger Unterstützung in Krankheits- und sonstigen Unglücksfällen pflegen, aber man hat sich davor gehütet, das Unterstützungswesen mit dem Syndikalismus zu verquicken. Meines Erachtens hat der Syndikalismus dabei sehr klug gehandelt. Objektiv betrachtet, scheint mir z.B. in der Einführung der Arbeitslosenunterstützung seitens der deutschen Gewerkschaften ein Rechenfehler, ein Widerspruch zu liegen. Wer trägt die Schuld, daß plötzliche Krisen und Geschäftsstockungen eintreten? Die Arbeiterschaft selbst? Keineswegs! Wohl aber die unsinnige kapitalistische Produktionsweise mit ihrer krassen Überproduktion, mit ihrer marktschreierischen Reklame, die den Konsumenten völlige wertlose Dinge als Bedarfsartikel anpreist, aber auch mit ihren politischen Fragen, welche den Imperialismus erzeugt haben, dessen Wesen darauf beruht, daß sich die Kapitalistenkliquen der einzelnen Länder, repräsentiert durch ihre Regierungen, um die Vorherrschaft in der Welt balgen. Dieser Imperialismus hat schon wiederholt nicht nur Spannungen zwischen den einzelnen Staaten und damit schlimme Geschäftsstockungen erzeugt, er hat uns auch wiederholt bis hart an den Rand eines in seinen Folgen unermeßlichen Krieges geführt. Ohne Zweifel trägt also die kapitalistische Gesellschaft an den Krisen die Schuld, aber für diese Schuld büßt infolge der Einführung der Arbeitslosenunterstützung nicht das Kapital, sondern die Arbeiterschaft. In einer Zeit, wo das Unternehmertum, durch eine furchtbare Krise selbst in die Enge getrieben, sich an den Arbeitern schadlos zu halten versucht, indem es sich bemüt, die Löhne herabzudrücken, hat die Arbeiterschaft auch noch die ungeheure Bürde der Arbeitslosenunterstützung auf sich genommen. Gewiß ist das edel und zeugt von hervorragender Opferfreudigkeit, aber klug oder auch nur gerecht ist es nicht.

Wo bleibt da die Bewegungsfreiheit und Aktionsbereitschaft der Arbeiter? Wäre es nicht vornehmste Pflicht der Gewerkschaften, dafür zu streben und zu kämpfen, daß jedem Menschen Arbeitsgelegenheit geboten ist, statt durch Einführung von Unterstützungen diesem Bestreben den Wind aus dem Segel zu nehmen. Ich kenne alle die Gründe und die Sophismen, die für das Unterstützungswesen geltend gemacht werden und weiß auch, daß manche darunter sind, die bestechend aussehen. Ich will auch gern annehmen, daß nur die lautersten und menschlichsten maßgebend waren, nicht etwa solche (was auch vermutet werden könnte), die darauf abzielen, die Mitglieder dadurch abhängiger und den Wünschen und Geboten der Beamten willfähriger, widerstandsloser und und gefügiger zu machen. Man sagt auch: Der Erfolg hat uns recht gegeben, die Gewerkschaften sind seitdem ungeheuer gewachsen. Aber fragen Sie sich einmal selbst, welcher Art ist der Zuwachs im allgemeinen? Sind es Leute, wie die französischen Syndikalisten, bereit, jeden Augenblick für ihr hohes Ideal nicht nur mit Worten, sondern mit der Tat, mit ihrer Person, ihrem ganzen Sein, ihrem Leben selbst einzutreten, oder sind es Leute, die, bevor sie einen Schritt wagen, vorsichtig fragen, was kriegen wir, während wir kämpfen?

Dies bringt mich darauf, über das Ziel zu sprechen, das sich die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland und der revolutionäre Syndikalismus gesteckt haben. Es ist dies ein Vergleich, der unbedingt zu Gunsten des letzteren ausfällt. Die deutschen Gewerkschaften werden in mancher Hinsicht als die Exerzierschulen der sozialdemokratischen Partei betrachtet. Ausgehend von dem Gedanken, die politische Macht zu erringen, legt in Deutschland die Arbeiterschaft den Nachdruck auf den politischen Kampf, sie verschwendet das größere Maß von Energie bei Wahlen usw.. Die Tarifgemeinschaften sind im Grunde nichts anderes, als das Prinzip des Parlamentarismus aufs Gewerkschaftliche übertragen. Ganz anders geartet ist der Syndikalismus, der nichts Geringeres im Schilde führt, als die Enteignung des Kapitals durch die gewerkschaftliche Föderation. Wie kleinlich und geringfügig muß uns dabei das Ziel der deutschen Gewerkschaften erscheinen, die häufig schon im Abschluß langfristiger Tarifverträge Heil und Genüge finden, im übrigen aber, namentlich hinsichtlich des Endzieles ihre Mitglieder an die Partei verweisen.

Der revolutionäre Syndikalismus Frankreichs repräsentiert sich als etwas völlig Unabhängiges, er genügt sich selbst. Er steht auf eigenen Füßen und stützt sich auf keine Partei. Wenn in Frankreich der politischen Betätigung der sozialdemokratischen Partei ein Ende gesetzt würde, so müßte immer noch erst der Syndikalismus überwunden werden, welcher immer drohender und kühner das Haupt erhebt; die Gewerkschaften Deutschlands stehen und fallen mit der Partei. Hier klafft ein tiefer Abgrund zwischen den beiden Strömungen Syndikalismus und deutscher Gewerkschaftsbewegung. Jener hält die Eroberung der wirtschaftlichen Macht für die Hauptsache, letzterer aber meint, daß es notwendig ist, die politische zuerst zu erringen. Der Syndikalismus will in logischer Konsequenz seiner Anschauung den Staat als solchen von Grund aus zerstören und die Produktion durch freie, wirtschaftliche Gruppen und Föderationen regeln. Die sozialdemokratischen Gewerkschaften jedoch wollen mit Hilfe oder vielmehr direkt durch die Sozialdemokratie den Staat nur umformen, in einen sozialdemokratischen verwandeln. Die Produktion soll bei ihnen zentralisiert werden. Der Syndikalismus ist demnach durchaus staatsfeindlich, die Sozialdemokratie aber befeindet nur den Gegenwartsstaat, sie will den Staatsbegriff, den Inbegriff der Zentralisation, in der die freien Rechte des Individuums so schmählich unterdrückt werden, in der der Einzelne versinkt wie in einem gleichfarbigen flauen Menschenbrei, durch noch engeren Zusammenschluß, intensivere Zentralisation gleichsam auf die Spitze treiben. Der Syndikalismus sieht in den Regierenden nur die Vertreter, den Ausschuß der Besitzenden, der Kapitalistenklique und erwartet daher von dieser Seite keine Zugeständnisse. Die Sozialdemokratie hält immer noch die Regierenden für die Vertreter des ganzen Volkes, die zwar oft auf die Hühneraugen getreten werden müssen, denen aber nichtsdestoweniger Konzessionen abgetrotzt werden können.

Daraus erklärt sich auch der Unterschied in der Frage des Militarismus. Die revolutionären Syndikalisten tragen sich mit der Hoffnung, daß ihre Ideen auch im Auslande Verbreitung finden, daß den deutschen, englischen, amerikanischen, kurz allen Arbeitern der Welt, nur das eine vorschwebt: die Abschüttelung der kapitalistischen Produktionsweise. Tatsächlich ist dieser Gedanke Sozialdemokraten, Anarchisten und Syndikalisten gemeinschaftlich.

Doch über die Wege dahin und darüber, was an ihre Stelle kommen soll, ist man verschiedener Ansicht. Aber, folgern die Syndikalisten weiter, wenn der Kapitalismus in allen Ländern besiegt ist, was vermöge der immer gleichartigeren Entwicklung der Welt ziemlich gleichzeitig der Fall sein dürfte, dann ist auch der Imperialismus verscheucht, dann hört der Wettbewerb um fremde Absatzgebiete auf, dann haben Staat und Militarismus keinen Sinn und keine Berechtigung mehr. Da sie ferner von dem Grundsatze ausgehen, daß alle die Institutionen, wie Kirche, Staat, Justiz, Polizei und Militär nur zu dem Zweck geschaffen sind, die kapitalistische Gesellschaft zu stützen, so führen sie den Kampf nicht nur gegen diese, sondern sie suchen ihr auch gleichzeitig alle Stützen wegzuziehen.

Es muß daher zugegeben werden, daß sie weitergehen, als die Sozialdemokraten und Gewerkschaftler Deutschlands. Was diese im wesentlichen nur umformen wollen, das wollen jene gänzlich vernichten. An die Stelle des stehenden Heeres verlangt die Sozialdemokratie Deutschlands die Einführung eines Milizsystems. Man erinnert sich, wie verzweifelt Voßmar im bayerischen Landtag sich gegen den Vorwurf der Vaterlandslosigkeit wehrte, man gedenke auch noch der Reden Noskes und Bebels, die sie seinerzeit im Reichstag hielten. Bebel hat bekanntlich einmal erklärt, im Falle eines Angriffskrieges gegen Deutschland selbst noch die Flinte auf den Buckel nehmen zu wollen. Die Syndikalisten sagen: Ob Angriffskrieg oder Verteidigungskrieg, was schert das uns? Was haben denn wir für ein Interesse daran — folgern die Syndikalisten uns für unsere Unterdrücker, unsere Feinde, deren Faust wir täglich fühlen, zu Krüppeln oder totschießen zu lassen, noch dazu im Kampfe gegen Leute, die gleichfalls unterdrückt, die uns naturgemäß viel näher stehen als jene, und die uns niemals etwas zu Leide getan haben. Es wächst der Mensch mit seinem größerem Zwecken, kann man auch hier sagen. »Mein Vaterland muß größer sein«, — heißt es auch für den Syndikalismus. Kein einseitiges Frankreich, Italien, Deutschland usw., die ganze Welt gilt ihm als Vaterland. Aus diesen Gründen wirkt der Syndikalismus auf die jungen Leute bei jeder Gelegenheit in eminent antimilitaristischem Sinne ein.

Sie werden gewiß bereits gehört haben, welche Erfolge in dieser Hinsicht erzielt wurden. Beim vorjährigen Winzeraufstand im Süden Frankreichs weigerte sich z.B. ein ganzes Regiment, die Waffen gegen die Weinbauern zu erheben. Anläßlich der Rekrutierung und anläßlich der Entlassung der Soldaten kommen regelmäßig Unruhen vor. Sogar das französische Offizierkorps ist von dem  Geiste des Antimilitarismus infisziert. Bei einer Gerichtssitzung, wo Hervé verurteilt wurde, konnte es vorkommen, daß angesichts des Gerichtshofes ein Offizier in voller Uniform auf ihn zueilte und ihm tiefbewegt seine Anerkennung ausdrückte. In Frankreich und Italien ist jeder wahrhaft gebildete und gesittete Mensch Antimilitarist. Man betrachte nur einmal die antimilitaristischen Bewegungen in Frankreich, Holland, Schweden, Italien usw. Freilich ist, wie wir ja jetzt so häufig sehen, die antimilitaristische Propaganda in Deutschland keinesfalls leicht und gefahrlos. Die drakonische Strafe von drei Jahren Zuchthaus, zu der Rudolf Österreicher verurteilt wurde, beweist dies zur Genüge. Jemandem die Ehre abzusprechen, deswegen, weil man nicht begreifen kann, daß einer auch eine andere Gesinnung haben kann, als die von den Steuergroschen der Bevölkerung bezahlten Justizbeamten, das ist wohl ein Fall, der Kopfschütteln und Unwillen erregen muß. Übrigens wird ja der Entscheid, was diesen Teil betrifft, wohl ohne Wirkung bleiben, denn kein gebildeter Mensch wird den Zuchthäusler Östreicher deswegen als weniger ehrlich betrachten. Das Volk hat glücklicherweise andere und höhere Ehrbegriffe, als das Häuflein der Satisfaktionsfähigen.

Gemäß seiner Anschauung über den Staat, den der Syndikalismus verwirft, ist auch seine Organisationsform nicht zentralistisch, sondern föderalistisch, d.h. die Initiative liegt in den Gruppen, nicht in der Zentralstelle. Die revolutionären Syndikate besitzen keine so wohlgefühlten Kassen wie die deutschen Gewerkschaften. Wenn ein Streik ausbricht, so wird das in der Weise gemacht, wie das früher bei uns geschah. Für den ersten Moment muß die Lokalkasse herhalten, das übrige muß durch Sammlungen aufgebracht werden. Nach dem Betrag, welcher die Sammlungen ergaben, richtet sich die Höhe der Unterstützung. Im übrigen werden in der Regel in den Streikgebieten kommunistische Volksküchen errichtet, wo die Streikenden und deren Familien Mittagessen erhalten, sodaß wenigstens zunächst der knurrende Magen befriedigt wird. Den Arbeitern ist nicht etwa schon im voraus eine sichere Streikunterstützung garantiert, sie sind genötigt, gewissermaßen einen Sprung ins Dunkle zu wagen. Das mag den Vorteil haben, daß sie es sich vielleicht zweimal überlegen, bevor sie streiken, hat aber andererseits den Vorteil, daß sie, einmal zum Streik entschlossen, auch mit ganzem Herzen dabei sind und zähe aushalten.

Die Syndikalisten machen es nicht wie ihre deutschen Arbeiterkameraden, sie lassen sich nicht mit dem kapitalistischen Goliath in einen Ringkampf ein, sie bekämpfen das Kapital nicht mit Geld, der Waffe, die seine ganze Stärke ausmacht, sondern ihre weithin treffende Schleuder heißt Solidarität. An die Stelle der Disziplin, der Unterordnung, haben die revolutionären Syndikalisten die Gleichordnung, das Einheits- und Mitgefühl, gesetzt. Sie propagieren sowohl die Idee des Solidaritätsstreiks als auch die des Generalstreiks. Man hat Beispiele, die beweisen, welch mächtige Wirkungen oft durch diese beiden Kampfmittel erzielt wurden. Sie erinnern sich wohl noch alle des schönen Erfolgs, den die Pariser Elektrizitätsarbeiter durch ihr gemeinschaftliches Vorgehen erzielten. So sind auch — vor ungefähr zwei Jahren in der französischen Schweiz sowohl Regierung als Unternehmer durch die Solidarität der Arbeiter zum Nachgeben gezwungen worden. Auch dürfte es noch in Ihrer Erinnerung sein, daß das bekannte Oktobermanifest des Zaren, nur unter dem Eindruck eines furchtbaren Riesenstreiks, der den Koloß Rußland in seinen Grundfesten erzittern machte, zustande kam.

Die Sozialdemokratie Deutschlands will nur zur Erhaltung oder Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts dazu schreiten. Das ist von ihrem Standpunkt aus betrachtet nicht unlogisch. Da sie die politische Macht für das Erstrebenswerteste hält und ihre ganze Kraft für den parlamentarischen Kampf einsetzt, so ist es nur konsequent, wenn sie sich dieses Recht nicht nehmen lassen will. Ich für meinen Teil bin freilich der Überzeugung, daß schon die Richtigkeit der Voraussetzung sehr zu bezweifeln ist. Der politische und parlamentarische Kampf erscheint mir völlig aussichtslos.

Die föderalistische Organisationsform verleiht den syndikalistischen Gewerkschaften große Beweglichkeit. So wenig, wie in einem großen Staatsbetriebe der einzelne recht zur Geltung gelangen kann, so wenig ist dies auch in großen Zentralorganisationen der Fall. Der Einfluß des einzelnen ist in einer kleinen Gesellschaft entschieden größer, als in einem ungeheuren Verein. Sie dürfen mich hier nicht mißverstehen. Ich meine nicht, daß sich die einzelnen Lokalvereine nicht um einander bekümmern sollen. Zum mindesten werden sie sich durch das starke Band der Solidarität verbunden fühlen. Aber ihre freie Selbständigkeit muß unter allen Umständen gewahrt werden. Es soll weniger Macht in die Hände einiger weniger gelegt sein, aber dafür soll mehr Macht, mehr Energie, mehr Widerstandsgeist in den vielen einzelnen Mitgliedern lebendig werden. Ich glaube, dabei könnten auch die deutschen Gewerkschaften aufs neue erstarken. Sie werden mir einwenden: Wir sind schon stark. Haben wir nicht gute Kassen, sind wir nicht tausende von Mitgliedern? Und doch ist die deutsche Arbeiterbewegung so glückverlassen, so ohnmächtig wie noch nie.

In den letzten Jahren ist das Unternehmertum, das sich früher im Verteidigungszustand befand, agressiv geworden. Und tatsächlich, wir wollen es uns ehrlich gestehen, haben seine Vorstöße regelmäßig Erfolg gehabt. Kann man von starken Organisationen der Arbeiter reden, wenn sie gezwungen sind, bei jeder Aussperrungsandrohung sich ins Mauseloch zu verkriechen? Die Aussperrungstaktik des Kapitals sollte uns Arbeitern eine dringende Mahnung sein, einmal unsere Waffenrüstung einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Die berittenen Haufen der eisengepanzerten Ritter am Ausgang des Mittelalters hatten im Kampfe mit den aufständischen Bauern ein leichtes Spiel. Die zerstreute Fechtweise, die Carnot bei den Heeren der französischen Revolution einführte, trug über die schwerbeweglichen Truppen der Verbündeten den Sieg davon. Nur infolge ihrer neuartigen Kampfesweise gelang es den Japanern, den Russen manchen Sieg abzuringen. Sie sehen also, auch im wirklichen Kriege haben sich die Anschauungen und auch die Taktik geändert.

Ich habe Ihnen erklärt, in welcher Weise die revolutionären Syndikalisten kämpfen. Ich führte an, daß sie als ein ganz vorzügliches Mittel den Solidaritätsstreik pflegen. Sollten wir diese Waffe gegebenenfalls nicht auch einmal in Deutschland probieren? Ich erwähnte ferner, daß die Syndikalisten über eine freiere, beweglichere Organisationsform verfügen, als die deutschen Gewerkschaften. Wäre es da nicht an der Zeit, nachzuprüfen und zu versuchen, ob sich die Form der Organisation unserer Verbände nicht wieder beweglicher und freier gestalten ließe, freier vielleicht in der Weise, daß sich die örtlichen Vereine wieder mehr Selbständigkeit aneignen. Es sollte überall eifrig darüber disputiert werden, ob man nicht auch hinsichtlich des Antimilitarismus, der direkten Aktion, des Sabots eine andere, durchgreifende Taktik einschlagen sollte.

Sie dürfen überzeugt sein, daß mich nichts mehr erbittert, als tatenlos zusehen zu müssen, wie ein frivoles Unternehmertum rücksichtslos die Arbeiter niederdrückt, und daß ich keine größere Sehnsucht habe, als die Arbeiterschaft in den Stand gesetzt zu sehen, sich von dieser drückenden Last zu befreien. Aus diesem Grunde sage ich: Her mit allen Mitteln, die geeignet sind, alle Grenzwälle und Scheidewände zwischen den einzelnen Klassen und Rassen niederzureissen!

Fritz Oerter (Fürth)

Wir entnehmen diesen Artikel auszugsweise der "Einigkeit" (Nr. 2, 1909), dem Organ der revolutionären Gewerkschaften Deutschlands.

Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 3 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email