Sozialismus und Anarchismus

Es gibt so viele sich widersprechende Ansichten über das Verhältnis von Sozialismus und Anarchismus zu einander, dass es mir notwendig erscheint, das Wesen der beiden Bewegungen mit ein paar Worten zu kennzeichnen.

Der Sozialismus will die Produktionsmittel aus den Händen einer bevorzugten Minorität in die Hände der ganzen Gesellschaft geben, damit die Früchte der Natur und der allgemeinen Arbeit einem jeden Menschen gleich zugänglich werden. Der Anarchismus will der Herrschaft des Menschen über den Menschen ein Ende machen, damit ein jeder selbst über sein Leben verfügen kann.

Worin stimmen diese beiden Bestrebungen überein, und wie lässt sich ihre Verwirklichung mit einander verbinden?

Sozialismus und Anarchismus sind beide das Ergebnis der menschlichen Entwicklung. Die sozialistische und anarchistische Gesellschaft wird nur dann möglich, wenn diese Entwicklung einen bestimmten Punkt erreicht. Dieser Punkt ist einerseits der, auf welchem die Herrschaft des Menschen über die Natur so weit vorgeschritten ist, dass die Mittel zur vollen Befriedigung der Bedürfnisse für alle Menschen vorhanden sind; andererseits, wenn das menschliche Denken sich von allem Aberglauben und von Vorurteilen befreit hat, wenn die Menschen die Einheit und Solidarität allen menschlichen Lebens erkannt haben.

So ist der Ausgangspunkt von Sozialismus und Anarchismus derselbe; und ebenso ist ihr Endziel dasselbe: das Wohl aller Menschen. Sehen wir nun zu, auf welchem Wege sie dieses Ziel zu erreichen trachten.

Der Sozialismus will das private Eigentum abschatten, und die gesamte Produktion durch die Gesamtheit für die Gesamtheit verrichten. Aber das kann nicht mittels Verordnungen und Gesetzen durchgeführt werden. Die Aufgabe der neuen Gesellschaft wird die vernünftige Einrichtung der Produktion und die Sorge für die täglichen Lebensverhältnisse sein; dazu aber ist in erster Linie das selbständige Handeln und die volle freie Betätigung der individuellen Kräfte eines jeden Menschen nötig.

Ein starres Reglement und nur auf Kommando sich bewegende Massen können diese Aufgabe nicht vollbringen. Das ganze gesellschaftliche Leben des Sozialismus muss sich beständig an die schwankenden Bedürfnisse, an die sich stetig ändernden Verhältnisse der Menschen anpassen, und das schliesst von vornherein jede allgemein gültige Rechtsordnung aus; an deren Stelle das in jedem Falle zweckmässige, selbständige Handeln, die von Fall zu Fall getroffenen freien Vereinbarungen treten werden. Die sozialistische Gesellschaft wird nur bestehen können, wenn die Arbeiter, nachdem sie sich endlich von Kapitalisten und Regierungen befreit haben, sich keine neuen Herren an den Hals schaffen — in Form von selbstgewählten Beamten. Die Arbeiter selbst wissen am besten, was sie brauchen und können es selbst am besten verwirklichen: wenn sie aber ihre Angelegenheiten — (wenn auch demokratisch gewählten) — ständigen Bevollmächtigten anvertrauen, verlieren sie bald jede Einsicht in das menschliche Leben, und werden schliesslich wieder nur die Sklaven einer neuen herrschenden Klasse sein, welche sie selbst geschaffen haben. Nur das Aufhören aller Herrschaft, die gewollte freie Vereinigung — mit einem Wort: die Anarchie — machen den Sozialismus möglich.

Andererseits kann der Anarchismus, die vollständige Herrschaftslosigkeit, die unbedingte Freiheit eines jeden Menschen nur auf der Grundlage der wirtschaftlichen Gleichheit bestehen. Damit ein jeder frei nach seinem eigenen Willen leben kann, ist es notwendig, dass ein jeder seine eigenen Bedürfnisse befriedigen kann, ohne anderen dadurch zu schaden; — dass also alles zum Leben Notwendige in Überfluss und allen Menschen ungehindert zugänglich sei, und alle ein gemeinsames Interesse am Wohle Aller haben. Anarchie ist undenkbar ohne Solidarität und gegenseitige Hilfe - mit einem Wort: ohne Sozialismus.

Die zwei Bestrebungen, welche man oft als einander entgegengesetzt dargestellt hat, sind somit eins und dasselbe. Woher kommt es, dass nicht nur Fernstehende, sondern auch manche Sozialisten und Anarchisten selbst sich dessen nicht bewusst sind und sich gegenseitig bekämpfen?

Die Ideen des Sozialismus und Anarchismus können nicht sofort in ihrem ganzen Umfange verwirklicht werden. Kapitalismus und Staat haben einen Teil der Menschheit einfach unfähig zu selbständigem Denken gemacht. Die Organisation der Arbeiter, die proletarische Revolution wird noch immer eine ziemlich grosse Anzahl von Menschen zurück lassen, welche nach dem Zusammenbruch der gewohnten Verhältniss nicht aus eigener Kraft ihren Platz in der neuen Gesellschaft finden werden. Das sind einerseits die geistig und körperlich degenerierten Produkte der kapitalistischen Ausbeutung, andererseits die sogenannten "Oberen Zehntausend", die nicht einmal die einfachste und notwendigste Arbeit für sich verrichten können. Diese Menschen werden irgendwie von der sozialistischen Gesellschaft in Ordnung gehalten, beschäftigt und erhalten werden müssen, und das Prinzip der vollständigen Gleichheit und freien Selbstbestimmung eines jeden Menschen kann dabei nicht ungetrübt zur Geltung kommen.

Ein grosser Teil der heutigen Sozialisten vergisst aber, dass dieser Zustand nur der unvermeidliche Übergang zum freien Zuammenleben der Menschen sein darf. Sie konzentrieren die ganze Arbeit auf diesen ersten Schritt, vergessen das Endziel, und kommen dadurch immer weiter von demselben ab. Für diese ist die Anarchie ein phantastischer, störender Traum.

Ein Teil der Anarchisten wieder will nicht einsehen, dass dieser Übergang notwendig ist, und glaubt, dass, wenn man nur die jetzigen Beherrscher der Menschheit aus dem Wege räumt, die Menschen sofort befähigt sein werden, in vollkommener Freiheit und Gleichheit mit einander zu leben; für diese sind sogar die Formen der sozialistischen Gesellschaft ein verderblicher Zwang.

Wenn wir uns aber über das Wesen von Sozialismus und Anarchismus klar werden, verschwinden diese Widersprüche, und die Kämpfer beider Richtungen vereinigen sich im Kampf für das gemeinsame, alles umfassende Ideal: für den anarchistischen Kommunismus.


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Anmerkungen:

Der obige Essay bietet uns in schöner Klarheit die einigenden und vereinigenden Seiten des Sozialismus und des Anarchismus. Nicht zustimmen können wir jedoch der Ausführung darüber, dass die vollendete Anarchie erst aus einer irgendwie gearteten Etappe des Staatssozialismus erstehen würde. Die Darlegung des Genossen B. über die Degeneration breiter unterer und höherer Schichten des Volkes ist richtig; aber diese Degeneration ist nicht nur kein Hindernis für die vollständige Freiheit, sie findet im Gegenteil in ihr erst ihre Heilungs- und Regenerationsmöglichkeit. Weder Anarchismus noch Sozialismus geben sich der irrigen Meinung hin, die menschliche Natur in ihrer Totalität in eine engelhafte zu verwandeln, verwandeln zu können.

Auch die freie Gesellschaft der Zukunft wird Erkrankungen des Geistes oder Gemütes, krankhafte Erscheinungen des menschlichen Lebens nicht vollständig ausrotten. Nur ein Unterschied wird bestehen: heute sind sie sozial von den gesellschaftlichen Verhältnissen bedingt, in der Freiheit werden sie individuell nach Veranlagung und Naturgesetz bestehen. Kann dieser Umstand jedoch sogar in seiner sozialen Form die Lebensbedingungen der Freiheit und Gleichheit stören? Benötigt er eine Übergangsperiode der Autorität, des Staatssozialisinus ? Wir bestreiten das entschieden. Wir sind der Meinung, dass man ganz den eminent erzieherischen und regenerierenden Charakter der sich über Jahre erstreckenden Periode der sozialen Revolution vergisst. Ausser Acht lässt, dass in dieser beschleunigten Entwicklungsperiode von Individuum und Gesellschalt die meisten störenden Verhältnisse des Lebens, welche all Überbleibsel des Staates und Kapitalismus sich gegen die freie Gesellschaft des Kommunismus und der Anarchie kehren, wenn nicht vollständig beseitigt, so doch ausgeglichen werden. Auch dieser Ausgleich kann sich nur ans der vollständig befreiten Natur des Menschen heraus, nie aber durch eine, meinetwegen mildeste Form der Autorität vollziehen, eine Form, die unweigerlich sehr bald in eine schärfere und härtere umschlagen würde und müsste! Eine nachträgliche Unterhaltung mit dem Verfasser ergab, dass derselbe in seinem gegenwärtigen Geistesstudium mit dem Inhalt unserer Aussetzungen vollständig einverstanden und den oben geäusserten Standpunkt längst aufgegeben hat. (Anm. d. Red.)

*) Der Aufsatz ist vor geraumer Zeit als Broschüre in Ungarn erschienen. (Anm. d. Red.). Aus dem Ungarischen des Ervin Batthyany.

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 1. Jahrgang, Nr. 12, Juni 1907. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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