Alfred Bader - Anarchisten und Gewerkschaftsbewegung

Der Anarchismus ist die Weltanschauung von der Freiheit des Individuums. Diese, die dadurch, dass sie nicht auf allgemein festgelegte Dogmen und Normen beruht, im schroffen Widerspruch zu allen anderen Richtungen proletarischer und bürgerlicher Systeme steht, lässt naturgemäss dem einzelnen Anhänger die Bahn zur Betätigung seiner Persönlichkeit frei.

Deshalb muss es auch immer ein Nonsens bleiben, zu sagen: so und so muss ein Anarchist sein, und wenn jener dort und dort mittut, ist er keiner. Über die Zugehörigkeit zum Anarchismus kann jeder nur über sich selbst Rechenschaft abgeben. Das Abweichen in nebensächlichen Dingen von den Anschauungen des Andern oder gar der Mehrheit, kann niemals ausschlaggebend werden. Der Anarchismus saugt ja gerade seine besten Kräfte, seine Unbesiegbarkeit aus seinem einzig grundliegenden Prinzip, dem der persönlichen Freiheit und Selbständigkeit des Einzelnen. Nur innerhalb dieser Weltanschauung kann "jeder nach seiner Façon selig werden". —

Die Herrschaftslosigkeit als Ideal unseres Endziels muss heute schon in unseren Reihen vorwirkend tätig seih als Zugeständnis an die einzelnen Genossen, über sich alleiniges Selbstbestimmungsrecht ausüben zu können. Dass ich deshalb die Diskussionen nicht als Mittel zur Aufoktroierung anderer Anschauungen verwerfen will, sondern sie als Mittel zur Klärung und zur Vereinheitlichung der Wege begrüsse, brauche ich wohl kaum zu betonen ; aber jeder Anarchist sollte sich auch bestrebt zeigen, die sachlichen Argumente ebenso abzuwägen, ohne sich durch persönlich entgegengesetzte Ansichten berechtigt zu glauben, sich als den "besseren" Genossen zu werten.

Wie wenig die Zugehörigkeit zu einer Berufsvereinigung hierbei ausschlaggebend sein kann, möchte ich nun zeigen. Wie offenkundig, spreche ich nur von deutschen Verhältnissen. Eine Berufsorganisation, die nur mit den Waffen aus der Rüstkammer anarchistischer Geistesrichtungen Siege zu erringen sucht, gibt es in Deutschland noch nicht. Bis wir dazu und in allen Berufen dahin kommen, müssen die Ideen der Selbstherrlichkeit des Individuums und der Selbstverständlichkeit der Solidarität noch mächtige Fortschritte machen. Dazu muss vor allen Dingen die Presse ihr Teil Aufklärungsarbeit leisten; ebenso die Diskussionen in Werkstatt und Versammlungen, aber auch die Einzelnen innerhalb der Gruppenassoziationen, denen sie sich erstens mal nach Beruf und dann nach Neigung angeschlossen haben. Weil es aber noch keine Organisation gibt, die im Sinne des Anarchismus die wirtschaftliche Befreiung ihrer Angehörigen versucht, muss es jedem unbenommen bleiben, sich dort anzuschliessen, wo er für sich die wenigsten Nachteile — man kann auch lesen: die grössten Vorteile — vermutet.

Mir gilt z.B. die berufliche Vereinigung als eine kommunistische Versicherung, bei der ich auf Grund bestimmt übernommener Pflichten auch ganz bestimmte Gegenforderungen zu stellen berechtigt bin, bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, Berufsstreitigkeiten etc. Die Differenzen der Organisationen untereinander kümmern mich wenig, da sie höchstens aus scharfer quantitativer aber nicht qualitativer Natur bestehen. Die grassierenden Streiks partieller Natur sind aber nichts anderes als beim Soldatenspiel die Manöver, im Krieg sieht die Sache ganz anders aus.

Trotzdem ist es ja gut, wenn man Gelegenheit hat, eine Waffe zu prüfen. — Durch unnötigen und oftmals fehlerhaften Gebrauch wird sie aber leicht untauglich für den Ernstfall. Der Streik ist auch eine solche Waffe, die bei falscher Anwendung leicht verhängnisvoll wirken kann. Ganz abgesehen davon, dass die vielen Streiks, die Arbeitgeber gelehrt haben, sich gleichfalls in kräftigen Organisationen zusammenzuschliessen, die, da nun mal heute zum Kriegführen immer noch erstens, zweitens und drittens Geld, gehört, dadurch erst zu nicht zu verachtenden Gegner wurden. Dann aber hat den materiellen Erfolg jeden Streiks immer noch das Proletariat selbst zahlen müssen. Eine Erhöhung der Arbeitslöhne hat immer noch eine baldige Erhöhung der Preise für die Arbeitsprodukte nach sich gezogen. Was so eine Kategorie von Arbeitern gewinnt, müssen alle anderen bezahlen. Da diese in der besten aller Wirtschaftsordnungen so schon zufrieden sein mussten, wenn sie ihre Bedürfnisse so weit gerade befriedigen konnten, um im besten Falle, was sie alles entbehren, zu merken, werden diese wieder zum Streik gedrängt. Und wieder dasselbe Bild. Bis sich der Kreis schliesst und damit die Entwertung des "stabilen" Wertmesser des Goldes oder des Geldesgetreten ist.

Das einzige Ziel, wert, heute einen Streik zu inszenieren, ist die Verkürzung der Arbeitszeit. Dadurch kann und muss die Reservearmee beschäftigungsloser Arbeitsnehmer verringert werden. Diese ist aber in ihrer Grösse eine Gefahr für jeden Fortschritt. Man kann nie wissen, auf welche Seite sich diese unsicheren Elemente werfen werden. Zum Bewusstsein ihrer Lage kommen diese wohl selten und für das Judasgeschenk eines augenblicklichen Vorteils, könnte es doch wohl möglich sein, dass sie sich ihren Henkern verkauften.

Der Klassenkampfstandpunkt sozialdemokratischer Gewerkschaften ist ja zum Teil auch in das Programm der proletarischen Klassenkämpfe anarchistischer Richtung aufgenommen worden. Ich will mit diesen nicht rechten. Umso weniger, als ich anerkenne, dass die Besitzenden ohne genügenden Grund ihre Privilegien und Besitztümer nicht aufgeben werden.

Andrerseits warne ich aber vor dem Extrem, in das uns die Klassenkampftheorie in konsequenter Durchführung hineinreiten würde — die Unterdrückung der jetzt Herrschenden von den bis nun Regierten!! Dazu darf es aber nie kommen! Die werdende anarchistische Gesellschaft soll eine Vereinigung freier Menschen offenbaren, in der es weder Herren noch Diener, sondern nur gleichberechtigte Freie gibt! Im sozialdemokratischen Zukunftsstaat wird es im Gegensatz dazu, wohl nur Sklaven einer ganz imaginären Grösse, gesamt Majorität geben. Da heisst es also aufpassen, dass man nicht zu weit geht; im Klassenkampf kann ja nur eine Partei siegen und die andere muss unterliegen. Wir aber wollen in Wirklichkeit, und nicht nur nach dem Programm, gleichberechtigt und frei werden.

Deshalb halte ich es für wünschenswert, dass wir von den "freien" zentralisierten Gewerkschaften abrücken. Marschieren sie auch auf parallelem Wege, so ist ihr Ziel doch ein ganz anderes. Hingegen scheinen mir in den Lokalorganisationen die Dinge etwas günstiger zu liegen, da dort jede Gruppe sich autonom verwaltet und die einzelnen Genossen deshalb dort eher die nötige Aufklärungsarbeit mit Erfolg anwenden dürften. Nicht schlechter als diese beiden sozialdemokratischen halte ich für meine nun ausgeführten Anschauungen die Deutschen Gewerkvereine. Wenn die einen auf dem Boden des Klassenkampfes, stehen die anderen auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft; während diese aber politisch — vollkommen neutral sind, verlangen jene nur Sozialdemokraten als Mitglieder!! Die Taktik ist in der Anwendung bei beiden die gleiche!! Tarifgemeinschaften, wenn angängig, und wenn nicht — Streik. Immer nur die Sucht nach Augenblickserfolgen, ohne je weitere Perspektive ahnen zu lassen.

Wo sich bei solchen Zuständen der Einzelne anschliesst, muss ganz ihm überlassen bleiben. Allerdings sollte jeder versuchen, Berufsorganisationen freieren Hauches die Wege zu ebnen. Inzwischen aber genügt es, dass jeder weiss, dass auch seine Organisation nicht diejenige ist, welche ..., sondern dass er ihr nur aus Gründen kommunistischer oder solidaritärer Möglichkeitsrücksichten angehört.

Anmerkungen:
*) Dieser Artikel ist, wie uns der Verfasser mitteilt, "die Frucht der Anschauungen", wie er sie nach einem Vortrage unseres deutschländischen Genossen Biester im Kreise der Anarchistischen Föderation gewann. Wir stellen den Aufsatz zur Diskussion. Anm. d. Red.


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Antwort auf "Anarchismus und Gewerkschaftsbewegung"

Der Verfasser des Artikels in Heft 2 der "Fr. Gen." muss wohl der Gewerkschaftsbewegung ziemlich fem stehen; von der praktischen Tätigkeit derselben, sowie von den gegenwärtigen Aufgaben der Berufsorganisationen hat er höchst unklare Vorstellungen.

Vor allen Dingen ist es notwendig, auf das schärfste die Weltanschauung des Anarchismus von seiner Taktik zu trennen. Der Anarchismus ist eine philosophische Geistesrichtung und hat als solche mit der Gewerkschaftsbewegung absolut nichts gemein; diese ist nichts weiter als ein taktisches Mittel zur Durchführung des anarchistischen Ideals.

Einer Rückdeckung sehr ähnlich sieht es, wenn B. schreibt: "Deshalb muss es auch immer ein Nonsens bleiben, zu sagen: so und so muss ein Anarchist sein, und wenn jener dort und dort mittut, ist er keiner. Über die Zugehörigkeit zum Anarchismus kann jeder nur über sich selbst Rechenschaft abgeben." Das trifft in bedingter Weise zu; aber B. wird doch erlauben, dass jeder die Taten des anderen beurteilen und daraus irgend welche Schlüsse ziehen darf. Es kann doch vorkommen, ja, soll sogar schon vorgekommen sein, dass sich jemand als Anarchist ausgibt, infolge seiner Handlungsweise diese Bezeichnung längst verwirkt hat. Sollen andere nun diesen Einen trotzdem als Anarchisten anerkennen?

Mit keinem Wort wird bekanntlich so viel Missbrauch getrieben, wie mit dem Wort "Freiheit"; alles und noch etwas mehr versteht man damit zu entschuldigen. Die Zugehörigkeit zu einer Berufsorganisation ist für die anarchistische Gesinnung allerdings nicht ausschlag gebend; es kann sehr wohl über jeden Makel erhabene, unorganisierte Genossen geben. Gehört man aber einer Gewerkschaft an, so spielt das "wo" sicherlich auch eine Rolle dabei.

Zwar haben wir in Deutschland bis jetzt noch keine auf anarchistischen Grundsätzen aufgebauten (syndikalistischen) Gewerkschaften. Die vorhandenen Ansätze sind zu schwach, um hier in Betracht zu kommen. Trotzdem aber muss es nicht jedem unbenommen bleiben, sich dort anzuschliessen, wo er für sich die wenigsten Nachteile — man kann auch lesen; die grössten Vorteile — vermutet.

Diese Grundsätze sollten für uns Anarchisten in Wegfall kommen; wir müssen uns stets vor Augen halten, dass die Gewerkschaften keine Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit sein sollen, sondern Kampforganisationen, welche zugleich die Grundpfeiler einer zukünftigen freien Gesellschaft darstellen. Wer nun, wie B., die Gewerkschaft nur als eine Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit etc. ansieht, hat keine Veranlassung, über die im Gefolge solcher Berufsorganisationen erscheinenden Missstände zu jammern. Zum mindestens müsste jeder Anarchist das Unterstützungswesen der Gewerkschaften als hassenswertes Übel betrachten odei noch besser: auf Beseitigung bedacht sein.

Geradezu wunderbare Ansichten entwickelt B. über den Streik. Nicht mehr und nicht weniger spricht er da seelenruhig aus, als was die schlimmsten Feinde der Arbeiterschaft behaupten, dass nämlich die Verteuerung der Lebensmittel, die Steigerung der Wohnungsmieten, kurz also das ganze soziale Elend durch die ewige Streikerei der Arbeiter verursacht wird. Hut ab! vor einer solchen Logik, die ein Anarchist in die Welt zu setzen wagt. Auch an dem Erstarken der Unternehmerorganisationen sollen die Streiks schuld tragen.

Die Konsequenz der Anschauungen B.'s wäre, die Waffe des Streiks in die Rumpelkammer zu werfen, während bisher immer noch etliche Toren an die Wirksamkeit des Generalstreiks glaubten. Doch halt — nicht alle Streiks verwirft B., die Verkürzung der Arbeitszeit ist das einzige Ziel, wert, heute einen Streik zu inszenieren. Davon, von dieser Verkürzung der Arbeitszeit, verzpricht B. sich sehr viel. Gewiss ist ein Streik zur Verkürzung der Frohn vollauf berechtigt; aber die siegreiche Durchführung wird nicht so grossartige Folgen haben, wie B. glaubt. Dabei passiert ihm eine Verwechselung, welche mich sehr sonderbar berührt. Die Masse der aus irgendwelchen Gründen vorübergehend Arbeitslosen scheint bei B. identisch mit dem sog. Lumpenproletariat. Nur so lässt es sich erklären, wenn B. schreibt: "Man kann nie wissen, auf welche Seite sich diese unsichern Elemente werfen werden. Zum Bewusstsein ihrer Lage kommen diese wohl selten und für das Judasgeschenk eines augenblicklichen Vorteils könnte es doch wohl möglich sein, dass sie sich ihren Henkern verkauften." Die Zusammensetzung der industriellen Reservearmee ist doch dieselbe wie die des übrigen Lohnproletariats. Der einzige Unterschied besteht in der augenblicklichen Arbeitslosigkeit der Ersteren.

Mit der Klassenkampftheorie ist B. auch nicht einverstanden; Einwendungen, welche die Richtigkeit dieser Theorie erschüttern könnten, vermag er zwar nicht erbringen. Im Gegenteil — er ist überzeugt, dass die Besitzenden nicht freiwillig ihre Privilegien und Besitztümer aufgeben werden; die Notwendigkeit des Klassenkampfes wird also anerkannt. Dennoch fühlt B. sich veranlasst, vor dem Extrem, in das uns die Klassenkampftheorie in konsequenter Durchführung hineinreiten würde — die Unterdrückung der jetzt Herrschenden von den bis nun Regierten!! Dazu darf es aber nie kommen! Dazu wird es auch nie kommen. Sofern die anarchistische Idee Geltung erlangt, wird sowohl die Kategorie der Herrscher wie der Beherrschten verschwinden. Es liegt nicht im Wesen des Klassenkampfes begründet, eine Klasse zur Herrschaft zu bringen.

Klassenherrschaft bedeutet nicht die Eroberung der Macht oder Besitzergreifung irgend welcher Herrschaftstitel. Diese Auslegung des Klassenkampfes ist sozialdemokratisch. Sieg des Proletariats im Klassenkampf bedeutet im anarchistischen Sinne nicht Aufrichtung einer Herrschaft, sondern im Gegenteil das Ende aller Klassenherrschaft, ja aller Herrschaft überhaupt, die ersehnte Herrschaftslosigkeit.

Die Befürchtungen B.'s sind also überflüssig; gewiss wird das Proletariat "siegen", um dieses Wort zu gebrauchen. Doch dieser Sieg muss nicht eine neue Herrschaft errichten, und wird dies auch nicht. Lediglich die bisherige Herrschaft zu beseitigen, ist Aufgabe und Ziel des Klassenkampfes.

Vollständig verfehlt ist es, wenn B. die sozialdemokratischen Gewerkschaften mit den Hirsch-Dunkerschen auf eine Stufe stellt. Die letzteren betreiben den Arbeiterverrat doch gewerbsmässig; bei fast allen Streiks spielen sie die Streikbrecherlieferanten. Die Arbeitsnachweise der "Hirsche" sind bekannte, von den Unternehmern gern benutzte Streikbrecheragenturen. Im Gegensatz dazu haben die Zentralverbände, so schlecht sie im übrigen auch sind, diese "Höhe" doch noch nicht erklommen. Im Irrtum befindet sich B., wenn er behauptet, die Gewerkvereine seien politisch neutral, während Zentral- und Lokalorganisationen nur Sozialdemokraten als Mitglieder verlangten.

Es müsste B. bekannt sein, dass die Gewerkvereine im Fahrwasser des Freisinns segeln; mit der politischen Neutralität ist es in diesem Falle also nichts. Ebensowenig trifft das von den "sozialdemokratischen" Gewerkschaften Gesagte zu. Die übergrosse Mehrheit der Mitglieder dieser Gewerkschaften ist nicht sozialdemokratisch, hat herzlich wenig, um nicht zu sagen, gar keine Ahnung von Sozialismus.

Für die Anarchisten wird hoffentlich auch in Deutschland bald die Zeit gekommen sein, wo sie tatkräftig eingreifen können bei der Errichtung syndikalistischer Gewerkschaften. Bis dahin ist es Aufgabe jedes Einzelnen, in seinem Kreise aufklärend und anfeuernd zu wirken, und dadurch die Wartezeit nach Kräften auszunützen und abzukürzen.

S.

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 2. Jahrgang, Nr. 4, Oktober 1907. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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