Emma Goldman - Ein Leben...

Vermessen, das Leben dieser Frau in Worte fassen zu wollen. Mit Worten dieses Leben nacherzählen. Mit Worten, die nicht erfüllt, getragen sind von der ungemeinen Tiefe, von der ungemeinen Vielfalt des Erlebten. Vermessen vor allem dann, wenn ich pure Daten und Fakten liefern wollte. Der Versuch, dieses Leben wiederzugeben, kann nur im Versuch enden. Jenseits der Daten und Fakten verbleiben uns nur noch Spekulationen. Aber ohne dieses Jenseits erstarrt das Leben, die Darstellung, entleert jeglicher Verknüpfung gesellschaftlicher, psychischer, persönlicher und und.

Die Vermessenheit lasse ich ins Uferlose entarten, schalte ich mich aus, bändige ich das Leben dieser außergewöhnlichen Frau, indem ich es in die engen Schranken einer gewöhnlichen-trockenen nüchternen Biographie zwänge. Doch selbst ihr Leben, nur zu Daten und Fakten reduziert, übermittelt uns ein Gefühl die Tiefe, Weite und Fülle. In den datierten und faktischen Ereignissen entdecken wir ein bewegtes Leben, Erleben. Ein Leben, geprägt von eindringlichen /-eindringenden Erlebnissen, tiefen Gefühlen, scharfem Verstand und treffenden Folgerungen, extremen Eindrücken.

Das ungeheure Elend der Bauern des zaristischen Rußland, die erst wenige Jahre vor ihrer Geburt (in der Provinz Kowno am 27. Juni 1869, 1882 zieht die ganze Familie um ins Petersburger Ghetto) die Leibeigenschaft niederkämpfen konnten, erschüttert tief die Seele des kleinen Kindes. Die Alltäglichkeit des Unrechts, der Gewalt, der Rohheit und der Grausamkeit, all die Brutalität und Entwürdigung, die auf die Bauern niederschlägt, vermag nicht, sie abzustumpfen. Rechtlos die einfache Bevölkerung, Demütigungen der Juden. Ihre Familie: jüdisch.

Ihr Vater tyrannisiert verbittert, grausam und unbeherrscht die Familie. Furcht vor dem Vater, dem "Alptraum ihrer Kindheit". Furcht und Haß. Die revolutionäre Stimmung in St.Petersburg dringt in ihr Leben ein. Gewinnt an Einfluß auf ihre Person. Auf Haß und Furcht: Rebellion. Rebellion gegen den Alptraum, der ihr Bildung versagen will. Man / der Mann / Alptraum will sie verheiraten. Verzweifelte Rebellion läßt sie mit Selbstmord drohen. Ihr wird erlaubt, 17-jährig, ihren Schwestern in die Vereinigten Staaten zu folgen

Der Alptraum bleibt haften; aber getragen vom Traum des freien, ungebundenen Lebens in Amerika erreicht sie New York. Der Traum: zerschlagen an der rohen, gewalttätigen Wirklichkeit der Vereinigten Staaten, Rochester. Armut, Elend, Ausbeutung, Entrechtung in der Fabrik: erfahrener Kapitalismus. Die Ehe mit dem russischen Immigranten Jacob Kershner soll nur drei Jahre dauern.

Letzte Reste, letzte Bilder des Traumes erlöschen mit dem Bild der gehenkten Ermordeten von Chicago. Die Arbeiter der Staaten müssen harte, erbitterte und furchtbare Kämpfe und Leiden um den Achtstundentag führen. Streiks, Direkte Aktionen. Blut fließt, das Blut der Arbeiter und ihrer Angehörigen. Der 1.Mai1886 soll zum allgemeinen Kampftag werden, ein Generalstreik ist angedroht. Regierung und Kapitalisten gehen mit grausamster Härte vor. 4.Mai: eine Detonation erschüttert den Haymarket in Chicago. Die Bombe schlug inmitten der Reihen der Polizisten, die gegen eine friedliche Kundgebung mit gezogenen Waffen vorgehen, ein; Ein Toter, Verletzte. Verfolgungen, Verleumdungen, Nachstellungen, Verhaftungen. Fünf Männer werden durch die Justiz hierfür ermordet. Fünf Männer, nachgewiesen so unschuldig wie sie selbst: Lingg wird in den Selbstmord getrieben, Parsons, Engel, Fischer, Spies sterben am Galgen. Fünf Männer werden für ihre Ideen ermordet: für die Idee des Anarchismus.

Die Zerstörung des Traumes vermag nicht, den Streifen Licht am Horizont zu verdunkeln. Was ist das, wofür diese Männer sterben mußten? Sie sucht anarchistische Kreise, ihre Suche führt sie zu Johann Most. Zu dem Kreis um den berühmten Anarchisten Most gehört auch Alexander Berkman, der 'Sascha' ihrer Memoiren. Mit ihm wird sie ihr ganzes späteres Leben in Verbundenheit bleiben.

Veränderung, Veränderung ihrer Hoffnungen, Träume und Ziele, Veränderung ihres Lebens. Sie lebt in Kommunen, lernt öffentlich zu reden und zu agitieren. Bald befreit sie sich von der Vormundschaft Mosts. Bruch mit den großen Anarchisten. Noch im selben Jahr hebt sie sich als führende Streikorganisatorin und Rednerin hervor. "Propaganda der Tat".

Homestead, Pennsylvania, 1892: Polizisten schießen streikende Stahlarbeiter nieder. Henry Clay Frick, der Verantwortliche für die Härte der Auseinandersetzungen vertreibt gnadenlos die Angehörigen der Ermordeten aus den firmeneigenen erbärmlichen Hütten. Tiefes Mitgefühl treibt die drei Anarchisten, Goldman, Berkman und Fedya, zum Entschluß der Vergeltung. Berkman fällt das Los zu, das Attentat auf Frick auszuüben. Woher soll sie das Geld auf treiben? Sascha gibt sein Leben, darf sie da noch zögern, ihren Körper zu verkaufen?

Abscheu und Anwiderung bedingen, daß die unfähige Prostituierte sich das Geld schließlich leihen muß. Die fünf Schüsse aus Berkmans Pistole verletzen Frick nur. Berkman wird zu 22 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach gültigen Rechtsnormen wären nur 7 Jahre möglich gewesen. Sie bleibt ungeschoren.

Doch ein Jahr darauf bekommt sie die Härte, die Erniedrigung des Gefängnisses selbst zu spüren; ein Jahr Gefängnis, weil sie zum Aufruhr aufrief.

Auf den zwei Reisen in den folgenden Jahren nach Europa trifft sie Peter Kropotkin, Errico Malatesta, Louise Michel und andere bedeutende Anarchisten. Ziele, Hoffnungen und Träume nehmen neue Formen an, füllen sich mit neuen Inhalten. Mehr und mehr verläßt sie den abenteuerlichen Boden der "Propaganda der Tat“. Ihr Leben taucht ein in die Ideen des kommunistischen Anarchismus.

1901: der Anarchist Leon Czolgosz verübt ein Attentat auf Präsidenten William McKinley. Eine Welle der Verhaftungen überschwemmt das Land. Sie wird als Komplizin gesucht. Sie will dem Sturm Einhalt gebieten, sie stellt sich, wird aber bald wieder entlassen. Das Attentat lehnt sie ab. Aber: Verständnis, Mitgefühl für den jungen. Czolgosz nötigen sie, sich für ihn einzusetzen. Haß, Verleumdungen, Verfolgungen schlagen ihr entgegen, treiben sie in den Untergrund. Eine unbekannte E.G.Smith arbeitet als Näherin, Erzieherin und Fremdenführerin. Erst nach fünf Jahren kann sie sich wieder ins volle Licht der Öffentlichkeit zurücktasten, Niedergeschlagenheit und Enttäuschung unterliegen dem Traum, dem Mut und der Entschlossenheit.

Eine Zeitung entsteht: "Mother Earth". Der vorzeitig nach 14 Jahren entlassene Alexander Berkman verbündet sich als Mitherausgeber. Die Jahre ermöglichen wieder Öffentliche Reden, Tatendrang. Die Ereignisse des Krieges überschlagen sich. Wütender Militarismus macht sich breit. Zusammen mit Berkman ruft sie No-Conscription-Leagues, Vereinigungen zur Kriegsdienstverweigerung, ins Leben. Blinder Patriotismus schlägt sie in Ketten: Verhaftung. Der Allen Exclusion Act von 1918 sieht vor, alle unliebsamen, radikalen Ausländer des Landes zu verweisen. 1919 verläßt das erste Schiff New York nach Rußland. An Bord: 249 "Rote", unter ihnen Emma Goldman und Alexander Berkman.

Jubel empfängt sie im revolutionären Rußland. Zuversicht, Hoffnungen, goldene Träume. 1921: eine Reihe Streiks erschüttern Petrograd, der Matrosenaufstand von Kronstadt. Die revolutionären Matrosen fordern freie Wahl der Sowjets, freie Rede für alle linken Gruppen, Gleichheit der Lebensmittelrationen usw. Sie unterstützen die Kronstädter Revolutionäre. Der Aufstand wird blutig niedergeschlagen. Träume zerbrechen. Sie verlassen beide das Land, niedergeschlagen, bedrückt, aller Hoffnungen beraubt. Sie geht nach England, Berkman läßt sich in Frankreich nieder.

1925 geht sie eine formale Heirat mit dem anarchistischen Minenarbeiter James Colton aus Wales ein, um die britische Staatbürgerschaft zu erhalten. Nach Vortragsreisen durch Kanada besucht sie Berkman in Südfrankreich. Reisen durch Europa folgen.

Sascha, ihr langjähriger Freund und Kampfgenosse, begeht 1936 Selbstmord. Trauer und Verzweiflung, Niedergeschlagenheit drängen sie an den Abgrund des Lebens. Bar jeglicher Hoffnung. Der Streifen am Horizont, der einst in leuchtenden Farben aufglühte, ist erloschen.

Doch das Dunkel beherrscht ihr Leben nur kurze Zeit. Ein Blitz durchzuckt die Nacht, erleuchtet die Finsternis der Hoffnungslosigkeit, weckt Energien, Zuversicht: am 19.Juni 1936 schlagen .die spanischen Arbeiter, allen voran die in der CNT und FAI Organisierten, einen faschistischen Putsch nieder. Sofort leiten sie die Revolution ein. Bis 1939 können sie sich gegen die durch Hitler und Mussolini unterstützten Faschisten halten.

Der Ruf der spanischen Anarchisten "a las barricadas!" erreicht sie nicht - der Ruf dringt aus ihrem eigenen Inneren empor. Bald verläßt sie wieder die Barrikaden Barcelonas. Ihre Barrikaden stehen in London und in Kanada.

Anfang 1940 fällt sie in eine schwere Krankheit, von der sie nicht mehr genesen wird. Der Tod ereilt sie am 14.Mai 1940.

Ein Zirkel schließt sich, ein Zirkel von Geburt und Tod. Ein Zirkel auch des revolutionären Einsatzes, der ausdrückliche Formen mit den Ereignissen von Chicago annimmt. Ihr Wünsch: neben den Märtyrern von Chicago die letzte Ruhe finden zu können.

Aus: Emma Goldman - Widerstand; Deutsche Erstübersetzung. Broschüre der "Anarchistische Vereinigung Norddeutschland"

Gescannt von anarchismus.at


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