Erich Mühsam - Die Anarchisten

Es muß mit der Offenheit gesprochen werden, deren ein ernster Gegenstand bedarf, wenn er Grund zu Besorgnissen bietet. Empfindlichkeiten können dabei nicht geschont werden, das gefühlvolle Betropfen der eigenen Vortrefflichkeit mag denen überlassen bleiben, die eine vor jahrzehnten getroffene Erkenntnis einmal und endgültig in ein nummeriertes Thesenprogramm eingesperrt haben und als Polizisten einer ausgetrockneten Tugend zähnefletschend davor Wachposten stehen. Meine eigene Leidenschaft für die Idee der Anarchie verpflichtet mich, leidenschaftslos zu prüfen, warum es den deutschen Anarchisten nicht gelingt, der lebendigsten, klarsten, vor Verflachung und Korrumpierung durch gedankliche Reinheit am sichersten geschützten gesellschaftsrevolutionären Ideen im Proletariat Verständnis und Ausbreitung zu sichern.

Der Spott der Parteikommunisten über das Fehlen eines einheitlichen Wollens der anarchistischen Gruppen und über die Zersplitterung der Bewegung in zahllose winzige Sondervereinigungen hat gar keine Berechtigung. Meinungsverschiedenheiten innerhalb einer auf das gleiche Ziel gerichteten Bewegung schützen vor Stagnation und Verknöcherung, und die Frage, ob Differenzen in der Beurteilung organisatorischer oder taktischer Angelegenheiten der einheitlichen Korporation zuliebe zu überbrücken oder ob organisatorische Trennungen vorzuziehen seien, ist technischer Natur. Wenn anarchistische Verbindungen sich meistens zur Spaltung entschließen werden, so entspricht das einfach der ihnen allen gemeinsamen Überzeugung, daß freiheitliche Bestrebungen nicht dadurch gefördert werden können, daß ihren Bekennern unerwünschte Bindungen auferlegt werden. Übrigens ist es nicht allzu schlimm mit dem Grüppchen-Separatismus der Anarchisten, und ich bezweifle, ob es so viele anarchistische Einzelvereinigungen gibt wie offene oder versteckte Fraktionen in der kommunistischen Partei mit ihren rechten, linken, zentristischen, opportunistischen, menschewistischen, trotzkistischen, sinowjewistischen, luxemburgistischen, KAPdistischen, ultra-linken, reformistischen, korschosophischen, meyerologischen, scholemanischen und urbahnausischen "Abweichungen" von der einzig wahren "Linie" dessen, was auf der allein echten "Plattform" des seit kurzem und bis nächstens unumstößlich katechisierten bolschewistischen Leninismus als richtig zu gelten hat. Die Dezentralisation der anarchistischen Bewegung ist ihrem Wesen nach gerade geeignet, Richtungskämpfe so übler Art, wie sie die KPD innerlich zerfressen, zu vermeiden und unter Achtung der Besonderheit der andern Gruppen kameradschaftliche Begegnungen an vielen Stellen herbeizuführen, an denen sie sonst neben einander laufende Wege zu einer breiteren Straße zusammentreffen. Vorzuwerfen ist den deutschen Anarchisten im Gegenteil, daß sie die Vorteile der Dezentralisation vielfach nicht erkennen, organisatorische Trennungen nach dem Muster der Partei-Marxisten zum Anlaß erbitterter Feindschaft machen und mit autoritären Klüngelansprüchen dem eigenen Teil die zentralistische Führerrolle anzumaßen versuchen.

Mit den individualistischen Anarchisten erübrigt sich die Auseinandersetzung. Da sie glauben, die Freimachung der eigenen Persönlichkeit von Zwang, Gesetz und Staat sei unabhängig von geschlossenen Massenbewegungen nicht nur möglich, sondern Vorraussetzung der gesellschaftlichen Befreiung, so kann die Vorbereitung der proletarischen Revolution, die in diesem Zusammenhange allein zur Erörterung steht, nicht mit ihnen betrieben werden. Sie leugnen die klassenmäßige Bedingtheit unserer Staatsverknechtung, betrachten den personalen Egoismus des in sich freien Menschen unter jeder Gesellschaftsform als sozialen Wert und befürchten von der Ausschaltung des wirtschaftlichen Konkurrenzkampfes durch den Kommunismus die Vergewaltigung auch jeglicher geistigen und individuellen Betätigungsfreiheit. Sie werden nach der revolutionären Niederzwingung der kapitalistischen Wirtschaft wertvolle Helfer sein, um dem Begriff der Freiheit Fundament und Halt in den Köpfen der zu kollektivistischem Denken erzogenen Menschen zu geben; bis dahin ist ihr Freiheitsbestreben, das sich, wie ich glaube, nicht ganz mit Recht auf den in Wirklichkeit durchaus massenverbundenen Stirner beruft, eine bürgerlich- philosophische Angelegenheit und keine proletarisch-revolutionäre. Auch die sehr ernst zu nehmende und für revolutionäre Übergangsperiode außerordentlich bedeutungsvolle Lehre Silvio Gesells scheidet hier aus, weil sie nicht ohne Weiteres als anarchistisch auszusprechen ist, trotz der Abstammung von Proudhon, und weil in dieser Betrachtung nicht von wissenschaftlichen Theorien sondern vom praktischen Verhalten bestimmter revolutionärer Genossen die Rede sein soll. Die Beschäftigung mit der FFF-Bewegung der Physiokraten bleibt vorbehalten.

Die Geschichte der deutschen kommunistisch-anarchistischen Bewegung ist noch nicht geschrieben. Ihr Grundriß ist aufgezeichnet in Rudolf Rockers prachtvoller Most-Biografie (Verlag der Syndikalist). Der Mann, der alle Eigenschaften hat, umfassendste Sachkenntnis, Urteilskraft, philologische Zuverlässigkeit und revolutionäre Begeisterung für die anarchistische Sache, ist also da und wird uns hoffentlich nicht allzu lange auf das anarchistische Parallelwerk zu Franz Mehrings Geschichte der deutschen Sozialdemokratie warten lassen. Schon Rockers Most-Buch läßt deutlich erkennen, wie die Bewegung, der Persönlichkeiten wie Most, Neve, Rheinsdorff ihren Atem gaben, in der der geniale Geist Gustav Landauers wirkte und aus der die revolutionäre Weltliteratur reich vermehrt worden ist, entstand und wuchs und wie sie es doch nicht vermochte, sich gegen die brutale Verfolgung der Reaktion gegen die skrupellosen Intrigen der autoritären Sozialdemokraten, kurz gegen den Bismarxismus wirksam zu behaupten. Rocker verschweigt nicht den Anteil, den das eigene Verschulden der anarchistischen Genossen an der Erfolglosigkeit ihres Kampfes trifft. Monomanische Verranntheit, persönliche Eifersüchteleien, enttäuschte Ungeduld, die in Mutlosigkeit und Verbitterung umschlug, viel Kleinliches und Allzumenschliches untergrub Begeisterung, Energie und Werbekraft, und die Fortführung der Untersuchung über den Wirkungskreis und die Lebensdauer John Mosts hinaus wird an der betrübendsten Erscheinung der Folgezeit nicht vorbeigehen dürfen: der Verwechslung des Autonomiegedankens mit Abkapselung und Sektentum. Heraus aus der Sekte! - Heran an die Massen! - Immer wieder hat es uns Rudolf Lange zugerufen. Er war so gescheit, am 31. Juli 1914 diese trübe Welt zu verlassen. So brauchte er nicht mit anzusehen, wie vom nächsten Tage ab die Mängel der revolutionären Vorarbeit ihre gute Saat verderben ließen.

Die Revolution fand sicherlich fast alle Anarchisten auf dem Posten. Unsere Genossen waren in Berlin dabei, bei der Vorwärts-Besetzung, bei den Kämpfen um den Marstall und bei Büxenstein, sie taten im Ruhrgebiet, in Sachsen, in Bayern und überall ihre Pflicht. Was war diese instinktiv erkannte und enthusiastisch befolgte Pflicht? Mit der Waffe in der Hand da zu stehen, wo die Massen standen, mit dem zu Abwehr und Angriff zu spontaner Gemeinsamkeit verbundenen revolutionierten Proletariat zu kämpfen und zu bluten. Wie hießen damals die gemeinsamen Forderungen der ganzen kämpfenden Arbeiterschaft ohne Unterschied des Programms und der letzten Ziele? Besinnt euch, anarchistische Genossen! Sie hießen: Niederzwingen der Konterrevolution, Durchkämpfung der Revolution zu ihren sozialistische Zielen, Verhinderung der Abriegelung des Kampfes durch Parlamentarismus und Demokratie, Abrechnung mit Sozialdemokraten und Gewerkschaften, Vergesellschaftung der Produktion, Expropriation des privilegierten Besitzes, Übernahme der öffentlichen Verwaltung in die Hände der Arbeiter- und Bauernräte, Kampfgemeinschaft mit dem revolutionären Rußland, alle Macht den Räten, Ersetzung des Klassenkampfes durch die Diktatur des Proletariats. Jawohl! Diktatur des Proletariats! - das war Ende 1918 und Anfang 1919 selbstverständliche Forderung aller Revolutionäre, und wenn in Klosterneuburg oder sonstwo irgend ein Anarchisterich händeringend Scharteken wälzte, um zu beweisen, daß jede Diktatur von allen anarchistischen Lehrern immer verworfen sei, und daß Herrschaftslosigkeit Gewaltlosigkeit bedeute und deshalb die Teilnahme von Anarchisten an einer Revolution des klassenerwachten Proletariats verboten sei, so ließ man das Köterchen den Mond ankläffen und ölte seinen Gewehrhahn.

Die deutsche Revolution ersoff in Proletarierblut. Die als Klasse vereinten Revolutionäre, denen Karl Liebknecht nie als Parteimann galt, sondern als liebeumbrandeter Fels im Kampf, haben sich allmählich alle wieder aus der unmittelbaren Verbindung mit den Klassengenossen gelöst und hinter den Thrönchen ihrer besoldeten Bonzen, hinter Parteiprogrammen, Prinzipienerklärungen, Organisationsstatuten, hinter den Weisheitssprüchen ihrer unterschiedlichen Kirchenväter und den mit Vereinsfähnchen gezierten Thoraschränken des wahren Glaubens geborgen, von wo aus sie sich gegenseitig Dreck anschmeißen. Die Anarchisten zumal haben aus dem Erlebnis einer revolutionären Erhebung, die sie in die Reihen der Massen endlich hineinriß, nichts besseres zu lernen gewußt, als daß man Genossen, die endgültig aus der Sekte ausbrechen möchten, des Verrats zeiht. (Ich will hier von meinen eigenen Erfahrungen lieber schweigen.) Alle Vorurteile und überlebten Begriffsbedeutungen sind wieder da, und wer Diktatur des Proletariats sagt, nachdem doch die Klärung dieses Postulats durch die - übrigens durchaus anarchistische - Räte-Idee geschaffen ist und die russischen Anarchisten sich ausdrücklich zur proletarischen Revolutions-Diktatur bekannt haben, ist Renegat und wird als Anarchist nicht anerkannt. Es ist das Unglück der Anarchisten, daß sie vor jeder marxistischen Initiative scheu und schimpfend zurückweichen. Marx stellt als erster die Forderung nach der Diktatur des Proletariats auf. Bakunin bekämpfte diese Forderung, weil er mit Recht annahm, daß Marx darunter die Parteiherrschaft seiner Gefolgschaft verstehe, daß eine solche Parteiherrschaft keine Diktatur der arbeitenden Klasse über die besiegte Ausbeuterschaft, sondern eine Klüngeldespotie mit dem Charakter einer Staatsregierung bedeutet, erweist sich ja in Rußland. Ich habe in der ersten Nummer dieser Zeitschrift die Diktatur des Proletariats definiert als "Diktatur der Klasse, solange die feindliche Klasse noch Atem hat: als Diktatur der Revolution gegen die Konterrevolution". Das Bakunin solche revolutionäre Diktatur keineswegs abgelehnt hat, läßt sich aus zahllosen Stellen seiner Schriften und erst recht aus seinen Handlungen nachweisen. Man sehe sich doch nur die Dekrete an, die er zur Proklamierung der Kommune in Lyon vorbereitet hatte. Wenn das keine Diktatur ist, weiß ich nicht, wo sie anfängt. Wollt ihr, verehrte diktaturfeindliche Genossen, keine Zwangsmaßnahmen ergreifen? Wollt ihr die reaktionäre Presse ungestört ihr Gift spritzen lassen? Wollt ihr die organisatorischen Maßnahmen des Proletariats von entgegen wirkenden Kräften sabotieren und vernichten lassen, bloß um euch in dem Wahn schaukeln zu können. Revolution sei Freiheit, man brauche bloß zu verkünden: das Volk ist frei! und schon bedürfe es keines Zwanges mehr in aller Welt? Ihr meint das ja selber gar nicht, ihr ängstigt euch nur vor dem Wort Diktatur und so schreit ihr gegen die Sache! Von Theorien und Wortängsten unbeeinflußte Proletarier aber denken an die Sache und nennen sie bei dem ihnen geläufigen Namen. Da die Marxisten den Namen aussprechen, sich zu ihm bekennen, gewinnt er langsam die Bedeutung, die sie ihm beilegen. Ihr, Anarchisten, macht erst aus der Diktatur des Proletariats die Diktatur der Partei, die sie propagiert. Ihr, Anarchisten, habt alle die Zeichen, die dem Proletariat stets gemeinsam waren, sobald die Bolschewisten, sie für sich reklamierten, ihnen überlassen und damit anerkannt, daß sie Parteimonopole seien. Das alte Arbeiter-Symbol des mit der Sichel gekreuzten Hammers – die Parteikommunisten haben es zum Merkmal ihres Bekenntnisses gewählt, und wenn ein Anarchist es ansteckt, so hört er von den eigenen Kameraden, dies Zeichen gehöre der Partei. Durch die Annahme der schwarzen Fahne anstelle der roten, die bisher das verbindende Banner der ganzen proletarischen Klasse war, bringen gerade die Anarchisten es dahin, daß das rote Tuch der Bourgeoisie als die kommunistische Parteifahne gilt.

Wo aber ihr eigenes Abzeichen von guten Menschen akzeptiert wird, die mit revolutionären Tendenzen schon gar nichts zu tun haben, da finden unsre braven Anarchisten nichts dabei. Es bringt sie nicht einmal auf den Gedanken, ob denn dieses Abzeichen überhaupt etwas mit Anarchismus und Staatsverneinung zu schaffen hat. Früher, als wir in Deutschland die allgemeine Wehrpflicht hatten, war der wichtigste Kampf gegen den Staat der antimilitaristische. Das Zeichen des zerbrochenen Gewehrs hieß damals: Zerschlagt dem Staat seine Waffen, weigert euch, sie für den Staat zu tragen! - Inzwischen ist der alte deutsche Militärstaat kaputt gegangen, und die antimilitaristische Propaganda, die früher Reservat der radikalsten Mannschaft des Proletariats war, ist Gemeingut aller bürgerlichen Pazifisten geworden. Man schreit: Nie wieder Krieg! und predigt salbungsvoll gegen das Blutvergießen. Daß diese schöne Zukunftsvision niemals Wirklichkeit werden kann, solange der Kapitalismus nicht im revolutionären Kampf beseitigt ist, will kein Bürger sehn, denn es ist nicht seine Art, einem Übel an die Wurzeln zu gehen. Er reformiert gern Methoden, aber ans System zu rühren ist ihm ein zu unruhiges Geschäft. Und die Anarchisten? Konservativ und verloren in holden Kindheitsträumen vergaßen sie ihre Gewehrnadeln abzunehmen, und als die Pazifisten sie ansteckten, da vergaßen sie sogar die ursprüngliche Bedeutung des Sinnbildes und übernahmen fröhlich die, die ihm die neuen Freunde beilegten. In der anarchistischen Bewegung konnten sentimental-pazifistische Gewaltverneiner Fuß fassen! Die deutschen Anarchisten, deren besten einer, August Reinsdorff, den Kopf aufs Schafott gelegt hat, wurden als gewaltlose Kohlrabiapostel zum Gespött der revolutionären Arbeiter. Gewiß, diese unglaubliche Verirrung scheint so ziemlich in allen anarchistischen Kreisen außerhalb Klosterneuburgs überwunden, aber es ist trübe genug, daß sie möglich war.

Es gibt noch genügend Lächerlichkeiten, die mit dem Namen der Anarchie Unfug treiben. Am schlimmsten sind jene anarchistischen Krautsiedler, die die unbeschreibliche Vermessenheit haben, sich bei ihrem friedfertigen Tun auf Gustav Landauer zu berufen. Nein wahrhaftig, Gustav Landauer hat die Kaninchenzucht in Schrebergärten nie im Leben für revolutionäres und sozialistisches Beginnen gehalten! Seine revolutionäre Siedlungsidee beruhte auf dem Gedanken eines höchst kämpferischen Boykotts der kapitalistischen Produktion und Konsumtion und sollte erst verwirklicht werden, wenn der Boden "durch andere Mittel als Kauf" in den Händen der Sozialisten sei.

Wie es gekommen ist, daß die anarchistische Bewegung in Deutschland zeitweise vollständig die Verbindung mit ihren Traditionen zur Zeit des Sozialistengesetzes verlieren konnte, könnte lohnender Gegenstand einer Spezialuntersuchung sein. Ein nicht unerheblicher Anteil an dieser Entwicklung ist jedenfalls auf den Einfluß zurückzuführen, den der Syndikalismus auf die anarchistischen Gruppen gewann. Als die lokalistischen Gewerkschaftsströmung sich zu Anfang des Jahrhunderts nach französischem Vorbild auch in Deutschland zu einem umfassenden Netz syndikalistischer Arbeiterbörsen vereinigten, glaubte man, sich zugleich auf ein weltanschauliches Bekenntnis festlegen zu sollen. Das föderalistische Organisationsprinzip und die dadurch bedingte Anwesenheit anarchistischer Genossen in den Lokalverbänden mag die grundsätzliche Anerkennung des Anarchismus bei der Begründung der freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften veranlaßt haben. So kamen Arbeiter zum Anarchismus, denen die großartigen revolutionären Ideen der Anarchie gänzlich fremd waren und wohl auch für die Dauer hinter ihren dem Kampf ums tägliche Brot zugekehrten Koalitionsinteressen zurückstehen müssen. Der Gedanke, daß revolutionäre Kämpfe und Maßnahmen nur wirtschaftliche Mittel erlaubten, drang verheerend in die Vorstellungswelt der Anarchisten ein und überschlug sich in dem Wahnwitz, den gewaltsamen Kampf allgemein zu verwerfen. Erst in der letzten Zeit scheinen sich endlich die Anarchisten - und unter ihnen grade auch solche, die die wirtschaftliche Organisation des Syndikalismus entschieden bejahen - von dem lähmenden Einfluß des Nurgewerkschaftertums in der Bewegung energisch befreien zu wollen. Der Geist Bakunins und Mosts beginnt wieder, sich zu regen. Opposition wird bemerkbar gegen die Verfälschungen der revolutionären Kampfidee des Anarchismus, gegen die Verbonzung und Zentralisierung der Bewegung durch Funktionärskörper und Aufsichtsinstanzen, gegen den zelotenhaften aktionslähmenden Buchstabenfanatismus der Gralshüter überholter Auffassungen, endlich auch gegen die Selbstgenügsamkeit der anarchistischen Pagoden, die im Wissen, daß ihnen allein alle Wahrheit und Heilslehre zuteil ward, kopfwackelnd auf einem Broschürenhaufen sitzen und uns bemitleiden, die wir immer von neuem verdaute, immer von neuem gefressene Weisheit dieser Schriften nicht allein für das rettende Elixier der Menschheit und der Freiheit halten.

Von der anarchistischen Jugend muß ein anderes Mal gesprochen werden. Sie wird der Opposition Halt und Ziel geben müssen. Findet sie nicht aus der Gefolgschaft der Alten den Weg zur Spitze, den Mut zur Tat, zum Beispiel, zu Kritik und Entschluß, zur Umkehr und zu neuem Aufstieg, - dann sehe ich nicht, was die anarchistische Bewegung Deutschlands noch vor dem Versauern in nörgelnden Diskutierklubs retten kann. Was nötig ist, ist Abkehr von den Traditionen der letzten 20 Jahre, Rückkehr zu den Traditionen, die dem Anarchismus einmal den Ruhm verschafften, der Schrecken der bürgerlichen Wohlanständigkeit zu sein, Freimachung von der Isolierung, und - bei völliger Selbstständigkeit in Idee und Entschluß - kameradschaftlicher Anschluß an die kampfgewillten Massen aller Richtungen des revolutionären Proletariats!

Aus: FANAL, Jahrgang 1, Nummer 7, April 1927

Originaltext: http://mitglied.lycos.de/absurdist/atexte/em-da.html


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