Erich Mühsam - Justiz

Und Adam ass von dem Apfel, und seitdem wissen die Menschen, was Gut und Böse ist. Auf dass diese Kenntnis nicht wieder in Vergessenheit gerate, gab Gott ihnen die zehn Verbote, die von zwei steinernen Gesetzestafeln abzulesen waren. Die Entwicklung eilte mit gewaltigen Schritten weiter, und heute halten wir schon bei 370 Paragraphen, aus denen der rechtliche Deutsche entnehmen kann, was er tun darf und was sich nicht schickt. Wer es trotzdem nicht weiss, wird mit Geldstrafe oder Haft, mit Gefängnis oder Zuchthaus, hie und da auch mit dem Tode bestraft.

Der § 1 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich enthält die furchtbarste Warnung von allen. Er lautet: „Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich tritt im ganzen Umfange des Bundesgebietes mit dem 1. Januar 1872 in Kraft“. Der sechste und letzte Abschnitt des § 370 lautet: „Mit Geldstrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft wird bestraft . . . 6) wer Getreide oder andere zur Fütterung des Viehes bestimmte oder geeignete Gegenstände wider Willen des Eigentümers wegnimmt, um dessen Vieh damit zu füttern“. Was in den dazwischen rangierten Paragraphen steht, wird sich der nachdenkliche Mensch hiernach allein sagen können: Es ordnet die Beziehungen der Staatsbürger zu einander nach strafbaren Handlungen. Wer also von einem undurchdringlichen Schicksal dazu bestimmt wurde, den Dornenweg des Lebens in einem der 26 verbündeten Vaterländer zu gehen, wird somit gut tun, sich jeden Schritt 370 mal zu überlegen: kein Wunder, dass unter diesen Umständen der Fortschritt bei uns so kolossal rasch vorankommt.

Bedenkt man, dass es neben dem Strafgesetzbuch noch ein dickleibiges Bürgerliches Gesetzbuch gibt, ein Vereinsgesetz, ein Gewerbegerichtsgesetz, ein Invalidenversicherungsgesetz, besondere Urheberrechtsgesetze und was weiss ich noch alles, so dürfte wohl die Annahme berechtigt scheinen, dass der Richter, dem ein Sünder gegen einen Paragraphen eines dieser Bücher vorgeführt wird, bloss den Finger nass zu machen braucht, um sofort zu wissen, wie lange er ihn einsperren zu lassen hat. Bei der leidigen Unvollkommenheit des menschlichen Geistes ist das jedoch nicht der Fall. Vielmehr beginnt die Schwierigkeit erst, wenn Polizei, Ermittlungsrichter, Untersuchungsrichter um Staatsanwalt dem Richter längst gesagt haben, was los ist, wenn der Delinquent womöglich schon monatelang als Untersuchungsgefangener auf die Strafe, die seiner vielleicht harrt, trainiert ist, und wenn nun dem armen Richter zugemutet wird, auch noch in die Seele des Angeklagten zu steigen, um das Wieso und Warum und das Drum und Dran seines Tuns herauszukriegen. Diese Bemühung nennt man einen Prozess, und erst dadurch, dass sie Prozesse führt, erhält die Justiz bei den Bürgern und Bürgerinnen des Landes ihre Weihe und die Bestätigung ihrer Notwendigkeit.

Denn Prozesse kommen in die Zeitungen, aus Prozessen lernt man die Unterwäsche der Nebenmenschen taxieren, aus Prozessen erfährt man, mit wem der andere befreundet oder verfeindet ist, und was seine Freunde und Feinde für eine Sorte Leute sind.

Welch prächtiger Fall war der Prozess des Grafen Wolf-Metternich! Der Mann hat Schulden gemacht, höhere Schulden, als er in kurzer Zeit hätte zahlen können. Ob das Betrug ist? Kein Mensch konnte es wissen. Das Reichsstrafgesetzbuch, an dessen Auslegung seit 40 Jahren allerorten die rührigsten Richter und in Leipzig mit roten Talaren behangene Reichsrichter arbeiten, weiss auch nichts Gewisses. § 263: „Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, das Vermögen eines andern dadurch beschädigt, dass er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstehung oder Unterdrückung wahrer Tatsachen einen Irrtum erregt oder unterhält, — —“: Schwieriger Fall. Man musste feststellen: Konnte der Graf glauben, das Geld zu kriegen, auf das hin er pumpte? Von wem hätte er glauben können, dass er es kriegen würde? Mit wem verkehrte er? Wie verkehrte er, mit wem er verkehrte? Wer verkehrte noch, wo er verkehrte? War es verkehrt, dass er verkehrte, wo er verkehrte? Warum verkehrte er, wo es verkehrt war zu verkehren? Und solcher Fragen mehr gab es zu entscheiden.

Auf diese Weise kam dann alles ans Licht: dass Frau Gertrud Wertheim, eine literarische Schwermillioneuse, einen aristokratischen Schwiegersohn suchte; dass sie zu diesem Behufe unendliche Gelder springen liess, die einige Tausend Warenhaus-Verkäuferinnen erarbeiten mussten; dass Dolly sich gern küssen liess; dass Mama und Tochter nicht immer zärtlich zu einander waren; dass dem Grafen Vetter auf Regimentsbefehl die heisse Liebesglut erlosch, die an Dollys Busen und an Mamas Schatulle geschürt war; dass der Generalmajor v. Pauli diese Würde nur in Honduras besessen hatte, jetzt aber mit Orden, Heiratslustigen und Kriegserinnerungen hausiert; dass Martha Gustke ihr horizontal verdientes Geld dem Dailes-Grafen vertikal in den Rachen warf, und dass es zwischen Himmel und Erde, zwischen Berlin W. und Berlin Friedrichsstrasse Dinge gibt, die jeder kennt, und vo denen sich die Schulweisheit unserer Journalisten nichts träumen lässt.

Das alles kam an den Tag, und der Familienstank im Hause Wolf-Metternich und der Familienstank im Hause Wolf Wertheim zog, zu lieblichem Sensations-Odeur gemischt, in die Nasen derer, die mit sich und ihrem Wandel zufrieden sein dürfen, solange ihren Nachtgeschirren keine Prozessakten entflattern.

Man verlange von mir keine moralischen Unkenrufe wegen der in dem Berliner Prozess sichtbar gewordenen Korruption. Es fällt mir gar nicht ein, mich darüber zu empören, dass irgend ein degenerierter Graf, der nie arbeiten gelernt hat, dessen Herkunft und Erziehung ihn zu glauben berechtigten, müheloser Genuss sei sein Privileg, mit einem Monatswechsel von 30 Mark nicht auskommen konnte, das Geld hernahm, wo er es kriegen konnte, à tout prix eine reiche Frau anstrebte, und sich inzwischen so undifferenziert, wie es in seiner Klasse üblich ist, amüsierte. Es fällt mir nicht ein, mich darüber zu empören, dass Madame Wertheim ihre Dolly lieber die Maitresse eines Fürsten sein lassen wollte, als die Ehefrau irgend eines Herrn Maier: Vulgärster Parvenue-Ehrgeiz. Es fällt mir nicht ein, mich darüber zu empören, dass Herr von Pauli seine patriotische Vergangenheit und seine hohen Beziehungen so lukrativ wie möglich verwertet. Es fällt mir nicht ein, mich darüber zu empören, dass Fräulein Gustke auf Grund ihrer Körperreize Kavaliere wurzt, und mit dem Ertrag ihrer Tätigkeit einen dieser Kavaliere zu Dolly auf Brautschau schickt. Das ist doch alles nichts Neues, nichts Überraschendes, nichts, was jemand, der den Grossstadtbetrieb halbwegs kennt, verwundern könnte. Fäulniserscheinungen?

Gewiss. Aber doch eben nur Erscheinungen, Symptome, Beispiele einer in ihrer tiefsten Wurzel faulen Gesellschaft, die keine Gesellschaft, kein Volk, keine Menschengemeinschaft ist, sondern ein wirres Nebeneinander und Gegeneinander von adversären Zirkeln und Interessengruppen. Wenn es da, wo sich ein Gesellschaftskreis, in dem blaues Blut fliesst, und einer mit rotem Blut schneiden, Klexe gibt — wen soll denn das verblüffen? Das sieht der wache Mensch doch jeden Tag und überall. Davon lebt doch die Justiz, daraus entnimmt ja das Strafrecht ihre einzige Existenzberechtigung. Klexe auszuradieren, die aus dem verrückten Durcheinandergekritzel mit verschiedenfarbigen Tinten entstehen, das ist doch die ganze Beschäftigung der „Rechtspflege“.

Was mir den Prozess des Grafen Wolf-Metternich so interessant macht, das ist die Beobachtung, wie sich in der Aufmerksamkeit der beteiligten Personen und des unbeteiligten Publikums der Gegenstand der Verhandlung nach und nach völlig verschob. Ob der Angeklagte des Betruges schuldig gefunden oder freigesprochen würde, das war ausser ihm selbst und den paar Juristen, deren Rabulistik engagiert war, jedermann egal. Das Tribunal ward zur Szene. Vom Parkett aus applaudierte man dem Sittenstück, in dem die Chargen die dankbarsten Rollen zu spielen hatten.

Warum ist der Graf eigentlich verurteilt worden? Weil der Staatsanwalt bewiesen hat, dass er ein Betrüger war. Aber die Verteidiger hatten uns Laien ebenso überzeugend bewiesen, dass er kein Betrüger war. Es kam nur auf die Auffassung des Gerichts an. Wäre der Mann in Freiheit gesetzt worden, so gäbe es keinen Menschen, der dadurch die Rechtssicherheit des Staates, der Gesellschaft, des Volkes im Allergeringsten gefährdet sähe. Man hätte das Theater mit genau derselben behaglichen Befriedigung verlassen, die ein aufregender Film zurücklässt, wie nach der Verurteilung. Ich hege die stärksten Zweifel daran, ob jemals irgend eine Verurteilung irgend eines noch so verbrecherischen Menschen irgend einer Gesellschaft genützt hätte.

Die Jurisprudenz — einmal als Wissenschaft genommen — hat die Aufgabe, das Recht zu suchen, wie die Philosophie die Aufgabe hat, die Wahrheit zu suchen. Wir wissen alle, ob wir gottgläubig sind oder nicht, dass das Suchen nach Recht und Wahrheit immer nur eine spekulative Beschäftigung unterschiedlicher Gemüter bleiben muss, und dass weder Recht noch Wahrheit jemals objektive Werte werden können. Die Anwendung der durchaus relativen Ergebnisse des Suchens nach dem Recht auf das praktische Leben, diese Übung, die sich als direkter Eingriff in Freiheit, Selbstbestimmung und Leben des einzelnen Menschen äussert, muss daher notwendig zur Gewaltsamkeit, und das heisst nach aller überlieferten Moral zum Unrecht führen. Auch als notwendiges Übel zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Beziehungen unter den Menschen ist die Justiz nicht anzuerkennen. Strafen wirken — das weiss jeder Jurist — weder bessernd noch abschreckend, und das Strafen als Racheübung der Gesamtheit gegen den Einzelnen widerspricht dem sittlichen Empfinden aller Ethiker.

Da hingegen die Unzuträglichkeiten, die sich aus der Willkür der Einzelnen ergeben, offensichtlich sind, gibt es nur eine Möglichkeit, ohne die Ungerechtigkeit jeglicher Justiz Recht und Ordnung zu schaffen: nämlich eine Gesellschaft zu errichten, in der das Interesse des Einzelnen nicht fortgesetzt mit den Interessen der Gesamtheit kollidiert, in der das Individuum respektiert wird, in der nicht geknechtet und kein Anerkennen verhasster Gesetze erpresst wird, eine Gesellschaft, in der der Zwang der Gesetze durch die Freiwilligkeit des Vertrages abgelöst ist. Diese Gesellschaft wird politisch eine anarchische, wirtschaftlich eine sozialistische sein.   

Aus: Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit, 1. Jahrgang, Nr. 8/1911. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email