Erich Mühsam - Die Bergarbeiter

Abgesperrt von jeglichem Sonnenlicht, klaftertief unter dem Erdreich, in jedem Moment der Gefahr schlagender Wetter ausgesetzt, verrichten die Kohlenarbeiter ihr schweres Werk. Giftiger Staub setzt sich in ihre Lungen fest und zerstört ihre Lebenskraft vor der Zeit, — ihre Aufseher aber, die Stellvertreter ihrer Arbeitgeber, prüfen, messen und wägen, ob jeder einzelne auch genug Kohlen zutage fördert, und feilschen, um ihren Auftraggebern gefällig zu sein, dem armen Arbeiter von seiner kärglichen Besoldung immer noch ein Weniges ab. Akkordarbeit nennt man das System, nach dem sich die Entlohnung nicht um die Zeit einer Anstrengung, sondern um die Quantität des Geleisteten kümmert. In jeder vernünftig eingerichteten Gesellschaft wäre es selbstverständlich, dassdas Resultat einer Leistung den Nutzen bestimmte, den der Arbeiter von seiner Mühe hätte. In der kapitalistischen Gesellschaft hingegen ist diese Methode die denkbar ungerechteste, und der Hinweis der Kapitalisten auf das moralische Prinzip, dass sich der Lohn einer Arbeit nach dem Ausmass ihres Ertrages richten müsse, ist tückisch und verlogen.

Diejenigen, die mit dem Risiko ihrer Gesundheit und ihres Lebens die Arbeitsgerätschaften fremder Menschen handhaben und dem Besitze einer privilegierten Minderheit seine Nutzbarkeit verschaffen, haben an der Verwertung ihrer Produktion nicht das geringste Interesse. Ihr Arbeitstrieb wird von keinem ethischen Gefühl, von keiner Gegenseitigkeitsverpflichtung gespornt, sondern ausschliesslich von dem Zwang, für sich und ihre Familien den notwendigsten Unterhalt herauszuschlagen. Die Unternehmer dagegen, die als einziges Risiko ihr spekulatorisches Interesse einsetzen, fordern die höchste Anspannung der manuellen Leistungskraft der Arbeiter, weil ihnen bei der Überzahl arbeitsfähiger Menschen am Leben des einzelnen gar nichts, an der Ergiebigkeit der Arbeit möglichst Weniger alles liegt. Um dieses Höchstmass der Anstrengung zu erzielen, werfen sie die Aussicht auf bessere Lebensführung ausserhalb der Grube den Arbeitern als Köder hin und bewirken dadurch bei allen Arbeitern eine Überspannung der Leistungskraft, mithin frühzeitige Abwirtschaftung der Organe und verkürzte Arbeitsfähigkeit, die nur dem Arbeiter zum Schaden gereicht, weil der Unternehmer ja jederzeit jungen unerschöpften Ersatz findet, Untergrabung des kameradschaftlichen Gefühls und bei den Beamten und Aufsehern Herausforderung schikanöser Willkür und Grossmannssucht.

Die englischen Grubenarbeiter fordern angesichts dieser Verhältnisse die Festsetzung von Mindestlöhnen, um dadurch der unumschränkten Despotie der Bergwerksbesitzer entgegenzuwirken. Der Wille derer, deren Arbeitskraft das Kapital ausbeutet, um Kapital sein zu können, hat nur einen Weg, sich Geltung zu verschaffen: die Verweigerung der Arbeitskraft, den organisierten, solidarischen, konsequenzbereiten Streik. Diesen Weg hat die englische Bergarbeiterschaft beschritten, und wir sehen gegenwärtig einer der grossartigsten Kraftproben zwischen Arm und Reich zu, die die Geschichte der Arbeiterbewegung bisher geboten hat.

Der Umfang des Kampfes (und noch weniger die Forderungen der Streikenden) ist das Wichtigste nicht, was bei der Beobachtung des Vorgangs den sozial bewegten Zeitgenossen in Atem hält. Es ist vielmehr das Land, in dem die Aktion geführt wird, und der Vergleich mit parallelen Streikerscheinungen, was hier so ungeheuer interessant und aufregend ist. England ist — daran ändert die monarchische Verfassung gar nichts — eines der demokratischsten Länder der Erde. Radikal-demokratische Oppositionsparteien haben dort infolgedessen mangels grosser und umwälzender Programmforderungen sehr wenig Aussicht auf starke Popularität. Auf wirtschaftlichem Gebiet haben die Trades-Unions so ausgiebig auf eine relative Friedlichkeit zwischen Kapital und Arbeit hingearbeitet, dass England vielen als ein Beispiel für die Lehre galt, die eine natürliche eruptionslose Entwicklung von kapitalistischem zu sozialistischem Gesellschaftgefüge behauptet.

Man traute den grossbritannischen Arbeitern die Entschlossenheit zu radikaler Selbsthilfe umsoweniger zu, als eine politische Parlaments-Vertretung der Proletarier in den drei Königreichen so gut wie gar nicht existiert. Da traten vor einem halben Jahre plötzlich die Seeleute in den Streik. Mit einer Bewusstheit, mit einer in sich selbst gegründeten Disziplin wurde der Kampf begonnen und mit Hilfe der verwandten Gewerke zum Erfolg geführt, die auf dem ganzen europäischen Festland verblüffte, und die plötzlich zeigte, dass gerade England vielleicht den bestgedüngten Boden für radikale sozialistische Wandlungen hat.

Zumal in Deutschland, dessen Arbeiterschaft sich nirgends laut genug ihrer straffen Gewerkschaftsorganisationen rühmen kann, konnte ein grosser Streik, der die Besserung der Lebenslage einer das ganze Reich umspannenden Arbeitergruppe zum Ziele hatte, noch nie durchgeführt werden, obwohl doch gerade hier die Verfassung der Arbeiterorganisationen eine durchaus zentralistische ist, und obwohl doch hier die Meinung allgemeine Gültigkeit hat, dass ein zentrales Kommando allein geeignet ist, eine grosse gemeinsame Aktion zu dirigieren.

Überschauen wir aber nach rückwärts die grossen Arbeiterkämpfe der letzten Jahre in Deutschland, so stösst die Erinnerung immer nur auf partielle Lohnbewegungen. Handelte es sich einmal um Kämpfe, die gleichzeitig in verschiedenen Distrikten geführt werden mussten, so hörten wir stets von den Arbeitern die bittere Anklage, ihnen sei der Kampf von den Arbeitgebern aufgezwungen, sie hätten keinen Streik begonnen, sondern seien ausgesperrt worden. Die reichste, disziplinierteste und an Zahl mächtigste organisierte Arbeiterschaft der Welt lässt sich also immer wieder in die Defensive drängen und findet auf keinem Gebiet den Mut zu einer entschlossenen Aggressivität.

Man erinnere sich an den grossen Textilarbeiterstreik in Crimmitschau im Jahre 1902. Die Kasse der Gewerkschaft war bis zum Rande voll. Täglich liefen aus allen Teilen des Landes und des Auslandes tausende und abertausende Mark für die Ausständigen ein, die sich bei der Kläglichkeit ihrer Lage aller Sympathien erfreuten. Der „Vorwärts“ berichtete triumphierend, der Streik sei mit den vorhandenen Mitteln noch monatelang zu halten. Am Tage nach dieser Mitteilung aber brachte derselbe „Vorwärts“ die Nachricht, die Arbeit sei von den Streikenden bedingungslos wieder aufgenommen worden, und als Grund wurde angegeben, bei längerer Arbeitsstockung wäre die ganze Industrie zugrunde gegangen, diese Verantwortung habe die Streikleitung nicht tragen wollen.

Einmal angenommen, diese Begründung sei aus ehrlichem Herzen gekommen (in Wahrheit wurde der Streik natürlich von der sozialdemokratischen Partei inhibiert, die fürchtete, durch den fortwährenden Zustrom von Arbeitergroschen in die Streikkasse werde der Reichstagswahlfonds für 1903 Schaden leiden), — also die Aufrichtigkeit der Entschuldigung für die Niederlage einmal vorausgesetzt, erheben sich diese Fragen: Ist es Sache der Arbeiter, sich um den Bestand einer Industrie zu sorgen, für die zu schaffen so unerträglich ist, dass selbst sächsische Weber gegen sie in den Streik treten mussten? Weiter: Treibt eine Industrie ihre Unerbittlichkeit gegen Streikforderungen bis zum eigenen Zusammenbruch, da doch das Bedürfnis nach Leinenproduktion angeblich nach wie vor bestand, ist dann nicht die Zeit gekommen, wo die Arbeiter mit Hilfe der grossen für den Streik gesammelten Kapitalien die Fabriken in eigene Regie nehmen und die sozialistische Tat der Begründung einer Produktivgenossenschaft unternehmen sollten? Drittens aber: Wäre nicht die selbstverständliche Folge der Bedenken der Streikleitung die gewesen, in sämtlichen Textilfabriken Deutschlands den Solidaritätsstreik zu proklamieren, um dadurch der Konkurrenz den Profit aus dem Streik abzuschneiden und gleichzeitig die Arbeiter der anderen Gegenden von der Verantwortung streikbrecherischer Verräterei zu entlasten? Die zentralgewaltigen Dratzieher aber dachten anders, bliesen zum Rückzug und bängten den armen Webern das alte Elend wieder auf den Buckel.

Noch widerlicher war das Verhalten der politischen Klassenkämpfer bei dem Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet im Jahre 1905. Die Aussichten standen für die Arbeiter glänzend. Sehr gegen den Willen der Zentralleitung griff die Bewegung immer weiter um sich, alles Bremsen half nichts, die Ausständigen begriffen den Vorteil ihrer Situation und beschlossen über die Köpfe der Herren Sachse und Hue hinweg, den Streik weiterzuführen und auszudehnen. Französische und belgische Gruben erklärten sich mit den Deutschen solidarisch, sodass in einem sehr umfänglichen Bezirk die Bergarbeit ruhte. Inzwischen hatte sich die preussische Regierung ins Mittel gelegt und mit den parlamentarischen Streikführern unterhandelt. Der Handelsminister Möller versprach ein Bergarbeitergesetz, und obgleich er keinerlei Garantien gab, was darin verfügt werden sollte, und obendrein noch im preussischen Abgeordnetenhaus eine Rede hielt, in der er unverhohlen seine Sympathie für die Bergwerksbesitzer aussprach, ging jetzt in der Parteipresse, in den Knappschaftszeitungen und in den Reden der sogenannten Vertrauensleute ein aufgeregtes Gegacker an, die Bergarbeiter dürften der Legislatur nicht vorgreifen, sie müssten ihrem Führern folgen, sie vergingen sich gegen die Disziplin, und wenn sie nicht aufhörten zu streiken, seien alle Bande frommer Scheu gelockert. Natürlich liessen sich die Streikenden nicht stören und verweigerten den Leitern den Gehorsam, die das unglaubliche Ansinnen an sie stellten, ihre Position im günstigsten Moment aufzugeben. Selbst die Drohung, die Streikzuschüsse würden gesperrt werden, verfing nicht. Da griff man endlich zu einem ganz infamen Mittel. Man verbreitete — das alles ist erweislich wahr — in wichtigen Streikorten Flugblätter mit der Behauptung, anderwärts sei die Arbeit wieder aufgenommen worden. Diese Lüge brachte natürlich Verwirrung in den Kampf. Wurde erst wieder in einigen Zechen gearbeitet, so hatte der Streik in den andern keinen Sinn mehr. Der Streik ging also verloren und es trat der beispiellose Fall ein, dass die deutschen Arbeiter an ihren belgischen Kollegen, die für sie in den Solidaritätsstreik getreten waren, zu Streikbrechern wurden.

Dass bei ihren Bemühungen, die Arbeiter zur „Vernunft“ zu bringen, die Herren Hue und Sachse von ihren eigenen Pfleglingen Prügel bekamen, ist das Erfreulichste, was die deutsche Bergarbeiterbewegung von 1905 der Nachwelt hinterlassen hat. Das von Herrn Möller angekündigte preussische Bergarbeitergesetz kam wirklich. Es sah so aus, dass sämtliche sozialdemokratische Zeitungen in wütender Entrüstung erklärten, jetzt seien die Bergarbeiter noch übler daran als vorher. Natürlich ist die Aussicht, einen neuen Streik erfolgreich durchzuführen, seither beträchtlich gesunken.

Welcher Unterschied zwischen den deutschen Streikern und den englischen! Von heute auf morgen legen auf der ganzen Insel eine Million Arbeiter das Werkzeug nieder, ohne Zentralleitung, ohne jahrzehntelange Schulung durch Diplomaten und Advokaten, ohne ängstliches Fragen: dürfen wir auch? Jeder kennt sein Interesse, jeder hat eigene Initiative, jeder beschliesst nach eigenem Willen. Aber gerade darum ist Einigkeit in der Menge, gerade darum Solidarität und Entschlossenheit. Schon schliessen sich andere Organisationen an. Die Eisenbahner weigern sich, Kohlen zu befördern, die belgischen und französischen Seeleute weigern sich, Kohlen, die für England bestimmt sind und — natürlich! — aus Deutschland kommen, zu verladen und übers Meer zu fahren.

Im ganzen Land steigen die Kohlenpreise ins Unerschwingliche, und die Arbeiter werden ihre Ansprüche durchsetzen, weil sie sich nicht auf gefüllte Kassen verlassen, sondern auf ihre wohlangewandte Energie, und weil sie sich nicht von besoldeten Führern kommandieren lassen, sondern den eigenen Verstand nach dem Rechten fragen.

Mit Geld kann nie ein Streik gewonnen werden, weil auf der andern Seite stets mehr Geld ist. Von einer Zentralmacht kann nie ein Streik dirigiert werden, weil die, die mit ihrem eigenen Leibe für ihre eigene Sache kämpfen, keine Tatkraft haben können, wenn sie nicht selbst beschliessen dürfen was not tut. Wehe der Arbeiterbewegung, die Politikern in die Klauen gerät, denn die kümmert nicht die Arbeiterbewegung, sondern die Politik. Werden die deutschen Arbeiter von den englischen lernen? Sie werden nicht. Sie werden wählen und wieder wählen und immer wählen. Die Gewählten aber haben keine Zeit, sich um Arbeiterfragen zu kümmern. Sie müssen streiten und schachern, wer bei ihren Beratungen das Präsidium führen soll, und sie müssen untereinander darum raufen, ob ein Sozialist den Hofknix machen darf oder nicht.

Aus: Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit, 1. Jahrgang, Nr. 12/1911. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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