Errico Malatesta - Anarchie

Anarchie ist ein griechisches Wort und bedeutet: Ohne Herrschaft. Es bezeichnet also den Zustand, in welchem ein Volk ohne festgesetzte Obrigkeit, ohne Regierung seine Angelegenheiten selbst besorgt.

Ehe denkende Menschen diesen Zustand als möglich und wünschenswert erkannt haben, ehe derselbe das Ziel einer Bewegung wurde, die seitdem einer der wichtigsten Faktoren im sozialen Kampfe ist, fasste man das Wort „Anarchie" allgemein als Unordnung, Konfusion auf; und es wird noch heute so aufgefasst von den unwissenden Massen, und von unseren Gegnern, in deren Interesse es liegt, die Wahrheit zu verheimlichen.

Wir wollen hier nicht in das Gebiet der Sprachwissenschaft abschweifen, denn die Frage ist keine sprachwissenschaftliche, sondern eine geschichtliche. — Die allgemein angenommene Bedeutung des Wortes fasst den wirklichen, sprachlich begründeten Sinn desselben ganz richtig auf; das Missverständnis entsteht aus dem Vorurteile, dass die Regierung, die Herrschaft notwendig zum Bestehen des gesellschaftlichen Lebens ist, und dass in Folge dessen eine Gesellschaft ohne Herrschaft der Unordnung anheimfallen muss, und zwischen der Allgewalt der Einen und der blinden Rache der Anderen hin und herschwanken wird.

Es ist leicht erklärlich, wie dieses Vorurteil entstanden ist, und wie dasselbe die Bedeutung des Wortes Anarchie in der Auffassung der Massen beeinflusst hat.

Wie alle Tiere, passt sich der Mensch an und gewöhnt sich an die Verhältnisse, in denen er lebt; und die angenommenen Gewohnheiten vererbt er auf seine Nachkommen.

Der Mensch, der in Sklaverei geboren und aufgewachsen ist, und von einer langen Reihe von Sklaven abstammt, glaubte, als er anfing zu denken, dass die Sklaverei ein unvermeidlicher Zustand des Lebens sei; die Freiheit erschien ihm unmöglich. So geht es auch dem Arbeiter; seit Jahrhunderten ist er gezwungen, die Arbeit, das heisst das Brot, von der Laune eines Herren zu erwarten; er ist daran gewöhnt, dass er fortwährend von der Gnade dessen abhängt, der den Boden und das Kapital besitzt; und am Ende giaubt er, dass es der Arbeitgeber ist, der ihm zu essen gibt. In seiner Leichtgläubigkeit sagt er: „Wie würde ich denn leben können, wenn es keine Herren gäbe?"

So würde es einem Menschen ergehen, dessen Füsse seit seiner Geburt gefesselt wären, aber so dass er doch ein wenig gehen könnte; er würde vielleicht sagen, dass er sich darum bewegen kann, weil er Fesseln anhat, obgleich im Gegenteil die Fesseln ihn am freien Bewegen hindern.

Ausser der Macht der Gewohnheit müssen wir noch die Erziehung der Arbeiter durch die Arbeitgeber, die Priester, die Lehrer erwähnen, die alle ein Interesse daran haben, die Notwendigkeit der Obrigkeit und der Herren zu predigen; wir müssen den Einfluss der Richter und Polizisten in Betracht ziehen, die bestrebt sind, jeden, der anders denkt, wie sie, und seine Gedanken verbreiten will, zum Schweigen zu bringen. Dann ist es leicht verständlich, wie in den ungebildeten Köpfen der Masse das Vorurteil über die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Arbeitgeber und der Regierung Wurzel gefasst hat.

Denken wir uns, dass dem Menschen mit gefesselten Füssen, den wir erwähnt haben, der Arzt eine ganze Theorie entwickelt und tausend geschickt erfundene Beispiele erzählt, um ihn zu überzeugen, dass er mit freien Füssen weder gehen noch leben könnte, so würde dieser Mensch wütend seine Fesseln verteidigen und jeden als seinen Feind betrachten, der dieselben zerschneiden wollte.

Es ist also natürlich, dass, wenn man die Regierung für notwendig hält, und zugibt, dass ohne Obrigkeit alles nur Unordnung und Verwirrung wäre, das Wort Anarchie, das die Abwesenheit jeder Regierung bedeutet, auch das Fehlen der Ordnung bedeuten wird.

Ändert die Ansichten, überzeugt die Massen, dass die Institution der Regierung nicht nur nicht notwendig, sondern äusserst gefährlich und schädlich ist für das soziale Leben, und dann bedeutet das Wort Anarchie, gerade weil es das Nichtvorhandensein einer Regierung ausdrückt, für alle Menschen die natürliche Ordnung, Harmonie der Bedürfnisse und Interessen von Allen, vollkommene Freiheit und vollkommene Solidarität.

Es ist unrichtig zu sagen, dass die Anarchisten ihren Namen schlecht gewählt haben, weil die Massen diesen Namen missverstehen und falsch auslegen. Der Irrtum hängt nicht vom Wort, sondern von der Sache ab, und die Schwierigkeiten, mit denen die Anarchisten bei ihrer Propaganda zu kämpfen haben, ist nicht die Folge des Namens, den sie sich beilegen, sondern der Tatsache, dass unsere Anschauungen alle von Alters hergebrachten Vorurteile verletzen, die das Volk über die Tätigkeit der Regierung oder, wie man gewöhnlich sagt, des Staates, hegt.

Ehe wir fortfahren, müssen wir die Bedeutung dieses Wortes, der Staat, recht klar machen, denn aus der falschen Auffassung desselben entstehen viele Missverständnisse. —

Die Anarchisten gebrauchen das Wort Staat, um die Gesamtheit aller politischen, gesetzgeberischen, gerichtlichen, militärischen Institutionen zu bezeichnen, durch die dem Volke die Führung seiner eigenen Angelegenheiten, die Bestimmung seiner eigenen Handlungen, die Sorge um seine eigene Wohlfahrt entzogen wird, um dieselben einigen Menschen zu übertragen, welche durch Gewaltsanmassung oder die Wahl des Volkes das Recht erhalten, Gesetze über alles und für Alle zu machen, sich zu diesem Zwecke der Kraft des ganzen Volkes bedienen.

In diesem Falle bedeutet das Wort Staat die Regierung, oder das Prinzip der Herrschaft, dessen Ausdruck die Regierung ist. Aufhebung des Staates, Gesellschaft ohne Staat, bezeichnet also genau das, was die Anarchisten anstreben, wenn sie eine jede, auf das Herrschen gegründete politische Organisation bekämpfen und eine Gesellschaft von freien und gleichberechtigten Menschen gründen vollen, die aufgebaut ist auf der Harmonie der Interessen und dem freiwilligen Zusammenwirken Aller für die Befriedigung der gesellschaftichen Bedürfnisse.

Aber das Wort Staat wird auch noch in manch anderem Sinne gebraucht, von denen einige Missverständnisse hervorrufen können, besonders wenn man mit Leuten zu tun hat, die leider nicht Gelegenheit hatten, sich an die feineren Unterscheidungen der wissenschaftlichen Sprache zu gewöhnen, oder — was schlimmer ist — wenn es sich um solche Gegner handelt, die ein Interesse daran haben, unsere Ansichten zu verdrehen und nicht verstehen zu wollen.

Man gebraucht z. B. das Wort Staat, um eine Gesellschaft, eine Gesamtheit von Menschen zu bezeichnen, die innerhalb der Grenzen eines bestimmten Landes wohnt; oder man gebraucht es einfach als gleichbedeutend mit Gesellschaft überhaupt. Darum glauben unsere Gegner — oder geben vor, es zu glauben — dass die Anarchisten alle gesellschaftlichen Verbindungen, jede gemeinschaftliche Arbeit abschaffen wollen und bestrebt sind, die Menschen von einander abzusondern, das heisst, sie auf eine tiefere Stufe herabziehen wollen, als jene der niedrigst stehenden Wilden es ist.

Unter Staat versteht man auch die oberste Verwaltung eines Landes, die zentrale Regierung im Gegensatz zur provinzialen oder kommunalen Verwaltung; und darum glauben andere, dass die Anarchisten einfach eine Dezentralisation der Landesteile wollen, das Prinzip der Herrschaft, der Regierung aber nicht bekämpfen. Sie verwechseln den Anarchismus mit der Autonomie und nationalen Unabhängigkeit der einzelnen Landesteile.

Darum glauben wir, dass es besser ist, von der vollständigen Entfernung der Regierungen zu sprechen.

Wir haben schon gesagt, dass Anarchie eine Gesellschaft ohne Regierung ist. Aber ist die Entfernung der Regierungen möglich? Ist sie wünschenswert? Und ist sie vorauszusehen? Untersuchen wir es.

Was ist die Regierung?

Viele sehen in der Regierung ein moralisches Prinzip, das gewisse Eigenschaften: Weisheit, Gerechtigkeit, Unparteilichkeit besitzt, unabhängig von den Personen, die an der Regierung sind.

Für diese ist die Regierung, oder besser gesagt der Staat, die abstrakte gesellschaftliche Macht. Er repräsentiert die allgemeinen Interessen; er ist der Ausdruck vom Rechte Aller, der als die Grenze der Rechte eines jeden Einzelnen aufgefasst wird. Diese Auffassung über die Regierung wird von den Regierenden selbst unterstützt, für die es wichtig ist, das Prinzip der Herrschaft zu retten, und dasselbe über die Fehler und Irrtümer der einander folgenden Machthaber zu erheben.

Für uns ist die Regierung die Gesamtheit der Regierenden; und die Regierenden, Monarchen, Präsidenten, Minister, Abgeordnete u. s. w. sind diejenigen, die die Macht haben, Gesetze zu schaffen, um die Beziehungen der Menschen zu einander zu regeln, und die Macht haben, diese Gesetze vollziehen zu lassen; z. B.: Steuern auszuwerfen und einzutreiben; die Menschen zum Militärdienst zu zwingen; diejenigen, die gegen die Gesetze handeln, zu verurteilen und zu bestrafen; die privaten Vereinbarungen zu überwachen und gut zu heissen; einzelne Zweige der Produktion und der öffentlichen Dienstleistungen zu monopolisieren (z. B. Tabak, Salz; Eisenbahnen, Post und Telegraf u. s. w.) oder wenn sie wollen, die ganze Produktion und alle öffentlichen Dienste zu verstaatlichen, in die Hand zu nehmen; den Austausch der Produkte (den Handel) zu fördern oder zu beschränken; mit den Regierungen anderer Länder Krieg anzufangen oder Frieden zu schliessen; dem Volke das Wahlrecht zu gewähren oder zu entziehen — und dergleichen Dinge mehr. Die Regierenden sind also, mit einem Wort, diejenigen Menschen, die mehr oder weniger die Macht haben, die Kräfte die Gesellschaft, d.h. die körperlichen, geistigen und wirtschaftlichen Kräfte aller andern Menschen in ihre Dienste zu zwingen. In dieser Macht besteht das Prinzip der Regierung, das Prinzip der Herrschaft.

Was ist der Zweck der Regierung? Warum sollen wir zu Gunsten einiger Menschen unsere eigene Freiheit, unsere eigene Initiative aufgeben? Warum müssen wir ihnen die Möglichkeit geben, sich — mit oder ohne Willen der übrigen Menschen — der Kraft aller Anderen zu bemächtigen und über dieselbe nach eigenem Gutdünken zu verfügen? Sind sie denn so aussergewöhnlich begabt, dass sie, mit einigem Rechte, sich an die Stelle des ganzen Volkes setzen, und für die Interessen der übrigen Menschen besser sorgen könnten? Sind sie unfehlbar und moralisch nicht zu verderben, so dass man vernünftigerweise das Los eines Jeden ihrer Güte anvertrauen kann?

Und wenn es auch solche allwissende und unendlich gute Menschen gäbe, wenn auch die Regierung in den Händen der Fähigsten und Besten wäre (eine Annahme, die die Geschichte nie bestätigt hat und, so glauben wir, nie bestätigen kann) — auch dann würde der Besitz der Herrschaft ihre wohltätige Macht nicht vermehren. Im Gegenteil, er würde dieselbe lahmlegen und zerstören, denn die Herrschenden wären gezwungen, sich mit allerlei Sachen zu befassen, die sie nicht verstehen; und den besten Teil ihrer Kraft müssten sie darauf verschwenden, um sich an der Regierung zu erhalten, um ihre Freunde zu befriedigen, die Unzufriedenen im Zaume zu halten und die Rebellen zu vernichten.

Übrigens, was sind die Regierungen, seien sie gut oder schlecht, weise oder unwissend? Wer stellt sie an ihren hohen Posten? Drängen sie sich selbst auf durch das Recht des Krieges, der Eroberung, der Revolution? Aber welche Garantie hat dann das Volk, dass sie wirklich das allgemeine Wohl im Auge haben? Es ist einfach die Frage, wer der Stärkere ist; und wenn die Untertanen mit ihrer Regierung nicht zufrieden sind, bleibt ihnen nichts anderes übrig als sich an die eigene Kraft zu wenden, um sich vom Joche zu befreien.

Wird die Regierung durch eine Klasse, eine Partei bestimmt? Dann sind es ja doch nur die Interessen und Ideen dieser Klasse, die siegen werden, und die Interessen der übrigen Menschen werden denen geopfert. Oder endlich: wird die Regierung durch das allgemeine Wahlrecht erwählt? Dann ist das einzig Ausschlagge­bende die Zahl der Wähler, und diese beweist doch keineswegs die Gerechtigkeit, die Weisheit, die Fähig­keiten der Erwählten. Diejenigen werden oftmals gewählt werden, die das Volk am besten betrugen können, und die Minorität, die möglicherweise die Hälfte der Wähler ausmacht einen einzigen Menschen abgerechnet — die wird geopfert. Dazu kommt noch, dass man bisher kein Wahlsystem hat finden können, durch das gesichert wäre, dass die Gewählten wenigstens wirklich die Mehr­zahl der Wähler verträten?

Es gibt viele verschiedene Theorien, mit welchen man das Dasein der Regierung zu erklären und zu rechtfertigen sucht. Im Grunde genommen sind alle auf der — eingestandenen oder nicht eingestandenen — Voraussetzung aufgebaut, dass die Interessen der ver­schiedenen Menschen einander entgegengesetzt sind und dass eine äussere, oberste Gewalt notwendig ist, um die Einen zu zwingen, die Rechte der Anderen zu achten, und um für sie alle solche Regeln aufzustellen, die, soweit es geht, die sich bekämpfenden Interessen versöhnen, und jedem so viel Befriedigung und so wenig Nachteil bringen wie nur möglich,

Die Verteidiger der Herrschaft sprechen folgender-massen: „Wenn die Interessen, die Bestrebungen, die Wünsche eines Menschen im Gegensatze zu jenen eines anderen Menschen oder der ganzen Gesellschaft stehen, wer wird dann das Recht und die Macht haben, den Einen zu zwingen, die Interessen des Anderen zu achten ? Wer könnte es verhüten, dass ein Mensch den allge­meinen Willen verletzt? Die Freiheit eines jeden — so sagen sie — ist begrenzt durch die Freiheit der übrigen Menschen; aber wer wird diese Grenzen festsetzen und beschützen? Die natürlichen Gegensätze der Interessen und Leidenschaften machen die Regierung notwendig und rechtfertigen die Herrschaft, die den gesellschaft­lichen Kampf milder und einem jeden die Grenzen seiner Rechte und Pflichten anweist."

Das ist die Theorie. Aber die Theorien müssen sich, um wahr zu sein, auf den Tatsachen aufbauen und dieselben erklären können; und man weiss, dass beson­ders in den sozialen Fragen die Theorien meistens dazu erfunden werden, um die Vorrechte der Herrschenden zu verteidigen und die Unterdrückten zur geduldigen Ertra­gung dieser Bedrückung zu zwingen.

Sehen wir also lieber die Tatsachen an.

In der ganzen Geschichte der Menschheit, ebenso wie heute, ist die Regierung entweder die gewalt­same, brutale, willkürliche Herrschaft einiger Menschen über die Masse des Volkes, oder sie ist ein Werkzeug um die Macht und die Vorrechte derer zu bewahren, die durch Kraft, List oder Erbschaft alles, was zum Leben notwendig ist — besonders den Grund und Boden — in ihre eigenen Hände gebracht haben und durch diesen Reichtum das Volk in Knechtschaft halten und für sich arbeiten lassen.

Man unterjocht die Menschen auf zweierlei Art; entweder unmittelbar durch die rohe Kraft, die körper­liche Gewalt; oder auf Umwegen, indem man ihnen alles wegnimmt, was sie zum Leben brauchen und sie so zur Ohnmacht verdammt. Die erste Art ist der Ur­sprung der Regierung, der politischen Macht überhaupt; die andere Art ist der Ursprung des Reich­tums, der wirtschaftlichen Vorrechte.

Es gibt zwar noch eine dritte Art, um die Men­schen zu bedrücken; nämlich indem man ihren Verstand und ihre Gefühle unterdrückt. Das ist die religiöse, die priesterliche Herrschaft. Aber so wie der sogenannte „Geist" ein Ergebnis der materiellen Kräfte ist, so ist die Lüge, und die Institutionen die den Zweck haben, die Lüge zu verbreiten, nur eine Folge der wirtschaft­lichen Vorrechte, und ihr Zweck ist nur diese Vorrechte zu schützen und zu befestigen.

In den ursprünglichen Gesellschaftsgruppen, die nur aus wenigen Menschen bestehen, und wo die Be­ziehungen der Mitglieder zu einander einfach sind, sind die beiden Gewalten, die politische und die wirtschaft­liche, in denselben Händen, oft in der Hand eines ein­zigen Menschen, vereinigt. Dieses ist der Fall, wenn irgend ein Umstand die Entwickelung der Solidarität, der gegenseitigen Hilfe verhindert oder zerstört hat, und in Folge dessen die Herrschaft des Menschen über den Menschen zustande gekommen ist. — In diesen Gesell­schaften haben die Herrschenden durch ihre Kraft die übrigen Menschen besiegt und eingeschüchtert; und so verfügen sie über die Person und die Besitztümer der Besiegten, zwingen dieselben, ihnen zu dienen, für sie zu arbeiten und ihnen in allem den Willen zu tun. Sie sind Besitzer, Gesetzgeber, Könige, Richter und Henker in einem. —

Aber dieser Despotismus wird unmöglich, sobald die Gesellschaft grösser wird, die Bedürfnisse sich ver­mehren und die Beziehungen der Menschen zu einander verwickelter werden. Entweder müssen die Herrschenden, um ihre Macht zu sichern, oder aus Bequemlichkeit, oder weil sie nicht anders können, sich auf eine bevor­zugte Klasse stützen — das heisst, auf eine Gruppe von Menschen, die dieselben Interessen haben wie sie — ; oder sie müssen dulden, dass ein jeder sein Leben so einrichtet, wie er kann ; und sie behalten nur die Ober­aufsicht für sich, das heisst, das Recht, einen jeden so weit wie möglich auszubeuten und die Befriedigung ihrer Eitelkeit des Kommandierens. So wächst unter dem Schutze der Regierung, mit ihrer Mithilfe — und oft ohne dass sie etwas darüber weiss — das Privateigen­tum, die besitzende Klasse empor. Mit der Zeit verei­nigt diese in ihren Händen die Produktionsmittel (Boden, Maschinen, Werkzeuge u. s. w.), die wahren Quellen des Lebens: Landwirtschaft, Industrie, Handel etc. Sie bildet schliesslich eine Macht, der es, durch die viel­fachen Interessen die dieselbe umfasst, schliesslich immer gelingt, die politische Macht, mehr oder weniger offen­kundig zu ihren Diensten zu zwingen und aus der Re­gierung den Gendarm der besitzenden Klassen zn machen.

Diese Erscheinung hat sich mehrmals in der Ge­schichte wiederholt. Ein jedes Mal, wenn durch eine Eroberung oder ein kriegerisches Unternehmen die rohe Gewalt in der Gesellschaft gesiegt hat, haben die Sieger versucht, in ihren Händen die Regierung und den Besitz zu vereinigen. Aber die Regierung musste sich immer wieder mit der herrschenden Klasse in's Einvernehmen setzen; sie war nicht im Stande, die ausgedehntere Pro­duktion zu überwachen und zu leiten; und so entwickelte sich wieder das Privateigentum, die zwei Gewalten (po­litische und wirtschaftliche) trennten sich von einander, und die Machthaber, die Regierenden, wurden abhängig von denen, die die Quelle der Macht, den Reichtum, besitzen. Die Regierung wird immer, unvermeidlich, zum Wächter des Eigentums.

Aber diese Erscheinung ist nie so stark zu Tage getreten wie heutzutage. Die Steigerung der Produktionsfähigkeit, der riesige Aufschwung des Handels, die unverhältnissmässig grosse Macht des Geldes, und die ganze wirtschaftliche Entwicklung, die durch die Ent­deckung Amerika's, die Erfindung der Maschinen etc. entstanden ist — all das hat die kapitalistische Klasse so mächtig gemacht, dass sie sich nicht mit der Unter­stützung begnügt, die die Regierung ihr bietet; sie will, dass die Regierung aus ihren eigenen Reihen hervorge­hen soll. Eine Regierung, die im Recht der Eroberung ihren Ursprung hatte (im „göttlichen Recht" sagen die Könige und Priester), benimmt sich — wenn auch die Umstände sie zum Diener der kapitalistischen Klasse gemacht hatten — doch immer hochmütig und verächt­lich gegen ihre früheren reich gewordenen Sklaven, und gegen ihre Gelüste nach Freiheit und Macht. Diese Regierungen waren wohl die Verteidiger, die Gendarmen der Besitzenden, aber sie waren von der Art Gendar­men, die eine hohe Meinung von sich haben und sich frech gegen die Leute benehmen, die sie begleiten und beschützen müssen — wenn sie dieselben nicht an einer einsamen Stelle des Weges umbringen und berau­ben. Die kapitalistische Klasse ist immer bestrebt, sich von diesem „Schutz" freizumachen und durch mehr oder weniger gewalttätige Mittel ist es ihr (in den „konsti­tutionellen Staaten") gelungen, an Stelle dieser Regierung eine Regierung zu setzen, die sie selbst wählt, die aus ihren eigenen Mitgliedern besteht, über die sie eine fortwährende Aufsicht ausübt, und die eigens dafür or­ganisiert ist, um die Besitzenden, die Reichen gegen die Forderungen der Enterbten, der Armen zu schützen.

Dieses ist der Ursprung des heutigen Parlamentarismus.

Die Regierung besteht heute vollständig aus Be­sitzenden und aus solchen Leuten, die ihnen dienen; und darum steht sie vollkommen zu Diensten der Be­sitzenden; so sehr, dass die Allerreichsten unter ihnen sich nicht einmal die Mühe nehmen, selbst an der Re­gierung teilzunehmen. Ein Rothschild hat es nicht nötig, Abgeordneter oder Minister zu sein; es genügt ihm, dass die Abgeordneten und Minister ihm zur Verfügung stehen.

In manchen Ländern hat das Proletariat, dem Na­men nach, das Recht, mehr oder weniger an der Wahl der Regierung mitzuwirken. Es ist dies ein Zugeständ-nie der Bourgeoisie an das Volk;   entweder um seine Hilfe im Kampf gegen die Macht des Königtums oder der Aristokratie zu erkaufen; oder um die Gedanken der Unterdrückten von ihrer tatsächlichen Befreiung ab­zuwenden, indem sie ihnen einen Schein von Frei­heit und Selbstbestimmungsrecht gibt.

Ob nun die Bourgeoisie diese Wirkung des allge­meinen Wahlrechtes vorausgesehen hat oder nicht: jedenfalls ist es eine Tatsache, dass sich dieses „Recht" als ganz nutzlos erwiesen hat. Es dient nur dazu, um die Macht der Bourgeoisie zu befestigen, indem es dem tatkräftigsten Teil des Pro­letariats die falsche Hoffnung vorspiegelt, dass es einst selbst zur Herrschaft gelangen wird.

Die Regierung ist auch beim allgemeinen Wahl­recht — oder besser gesagt, gerade beim allgemeinen Wahlrecht — der Diener und der Gendarm der Bourge­oisie. Wenn es anders sein könnte, wenn die Regierung den Reichen je feindlich werden könnte, wenn die Demokratie etwas anderes wäre, als ein Mittel, um das Volk zu betrügen — dann würde die Bourgeoisie, in ihren Interessen gefährdet, eine Empörung ins Werk setzen, und sich aller Macht und allen Einflusses be­dienen, den ihr der Besitz des Reichtums gibt, um die Regierung zu ihrer einfachen Pflicht, zu ihrem Gendar­mendienst zurückzuführen. Immer und überall war die Bedrückung und Ausbeutung des Volkes, das Beschützen der Bedrücker und Ausbeuter die eigentliche Aufgabe der Regierung, was immer für einen Namen sich die­selbe beilegen mochte, wie immer auch ihr Ursprung und ihre Organisation ist. Ihre wichtigsten, bezeichnend­sten Werkzeuge sind der Gendarm und der Steuereintreiber, der Soldat und der Gefängniswächter, denen sich unvermeidlich der Verbreiter von unbewiesenen Behaup­tungen, der Priester oder zünftige Professor, zugesellt, die die Regierung bezahlt und beschützt, damit sie den Geist der Unterdrückten zur Knechtschaft und zum ge­duldigen Ertragen ihres Joches erziehen.

Freilich haben sich diesen wesentlichen Aufgaben, diesen Hauptwerkzeugen der Regierung, im Laufe der Zeit andere Aufgaben angeschlossen. Geben wir also zu, dass es — in einem einigermassen zivilisierten Land — nie oder beinahe nie eine Regierung gegeben hat, die ausser ihrer Tätigkeit zur Bedrückung und Ausbeutung des Volkes, sich nicht auch anderen Aufgaben zugewandt hätte, die für das gesellschaftliche Leben nützlich oder unentbehrlich sind. Aber das Wesen der Regierung, die Bedrückung und Ausbeutung ist, dass sie durch ihren Ursprung und ihre gegenwärtige Stellung unvermeidlich dazu bestimmt ist, die herrschende Klasse zu beschützen und aufrechtzuerhalten; die Tatsache, dass sie ihr Wesen unter dem Deckmantel der allgemeinen Nützlichkeit zu verbergen sucht, bekräftigt und erschwert also nur noch die Anklagen, die wir gegen dieselbe vorgebracht haben.

Die Regierung übernimmt es, das Leben der Staats­bürger mehr oder weniger gegen unmittelbare brutale Angriffe zu verteidigen. Sie anerkennt und legalisiert eine Anzahl von grundlegenden Rechten und Pflichten, von Gewohnheiten und Gebräuchen, ohne welche ein gesellschaftliches Leben unmöglich ist. Sie organisiert und leitet einige öffentliche Dienstleistungen, wie z. B. die Post, die Landstrassen, die öffentliche Gesundheit, die Wasserregulierung, den Forstschutz usw.; sie gründet Waisenhäuser und Spitäler und gibt sich gern den Anschein, daß sie die Beschützerin und Wohl­täterin der Armen und Schwachen ist. Wenn wir es aber genauer betrachten, wie und warum sie diese Aufgaben erledigt, so beweisen die Tatsachen, daß alles was die Regierung tut, nur darum und deswegen getan wird, um zu herrschen, um die Vorrechte -ihre eigenen und diejenigen der Klasse, die sie vertritt und verteidigt — aufrecht zu erhalten, zu vermehren und zu verewigen.

Keine Regierung kann lange bestehen, ohne ihre wahre Natur unter dem Vorwand der allgemeinen Nützlichkeit zu verstecken; sie kann nicht das Leben der Bevorzugten beschützen, ohne daß sie sich den Anschein gibt, das Leben Aller beschützen zu wollen; sie kann nicht den Vorrechten Einzelner Geltung verschaffen, ohne Miene zu machen, das Recht von allen Menschen aufrecht zu erhalten. »Das Gesetz« sagt Kropotkin — das heißt diejenigen, welche die Gesetze machen, nämlich die Regierung — »das Ge­setz hat von den gesellschaftlichen Gefühlen des Menschen Gebrauch gemacht, um mit den allgemein anerkannten moralischen Vorschriften eine Gesell­schaftsordnung durchzusetzen, welche der kleineu Anzahl von Ausbeutern nützlich ist, gegen welche die Menschheit sich sonst empört hätte.«

Eine Regierung kann nicht wollen, daß die Ge­sellschaft sich auflöst, denn dann würden ja sie und die herrschende Klasse keine Menschen mehr finden, die sie ausbeuten können. Sie kann auch nicht zugeben, daß die Gesellschaft sich selbst regiert, ohne offizielle Eingriffe, denn dann würde das Volk sehr bald merken, daß die Regierung zu gar nichts nötig ist — außer dazu, um die Besitzenden, die das Volk aushungern, zu beschützen — und es würde anfangen, sich von der Regierung und den Besitzenden zu befreien.

Heutzutage, wo die Forderungen des Proletariats immer dringender und drohender werden, zeigen die Regierungen die Absicht, sich in das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zu mischen. Sie versuchen auf diese Art, die Arbeiterbewegung auf falsche Bahnen zu lenken, und durch einige irreführende. Reformen zu verhüten, daß die Armen sich selbst alles dies er­kämpfen, was sie nötig haben, nämlich ebensoviel Wohlstand als die anderen Menschen genießen.

Außerdem muß man in Betracht ziehen, daß die Bourgeoisie, also die Besitzenden, selber immerfort daran sind, einander gegenseitig zu bekämpfen und zu vernichten; und daß anderenteils die moderne Regierung, obgleich sie der Sprößling, der Sklave und der Beschützer der Bourgeoisie ist, sich doch immer, wie jeder Sklave, zu befreien sucht und, wie jeder Beschützer, darnach strebt, ihren Schützling zu beherrschen. Daher dieses Hin- und Herschwanken, diese Winkelzüge, dieses Gewähren und Zurücknehmen von Vergünstigungen, dieses Suchen nach Verbündeten im Volke gegen die Konservativen, dieses ganze Spiel, das die Wissenschaft der Regierenden ausmacht und welches den Leichtgläubigen und Faulen, die ihr Wohl immer von Oben erwarten, Sand in die Augen streut.

Mit all dem ändert die Regierung ihre Natur nicht. Wenn sie die Regelung und Aufrechterhaltung der Rechte und Pflichten eines Jeden übernimmt, so verdreht sie das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen. Jede Tat, welche die Vorrechte der Regierenden und Besitzenden verletzt oder gefährdet, bezeichnet sie als »Verbrechen« und bestraft dieselbe; die unbarmher­zigste Ausbeutung der Elenden, das fortwährende lang­same, seelische und körperliche Hinmorden der Besitz­losen durch die Besitzenden erklärt sie für »gerecht« und »gesetzlich«.

Wenn sie die Leitung der öffentlichen Dienst­leistungen in die Hand nimmt — also eine Art Staats­sozialismus — so hat sie wiederum nur die Interessen der Regierenden und Besitzenden im Auge. Sie kümmert sich nur soweit um die Interessen des arbeitenden Volkes, soweit es notwendig ist, damit das Volk willig seine Steuern zahlt. Wenn sie Schulen gründet und erhält, so tut sie dies auch nur darum, um die Ver­breitung der unabhängig gelehrten Wahrheit zu ver­hindern und den Geist der jungen Leute so zu erziehen, daß sie zu müßigen Tyrannen und gehorsamen Sklaven heranwachsen — je nach der Klasse, aus der sie stammen. In der Hand der Regierung wird alles zu einem Werkzeug der Ausbeutung, alles wird zu einer Polizei-Institution, um das Volk in Fesseln zu halten.

Es kann nicht anders seia Wenn das mensch­liche Leben ein Kampf zwischen den Menschen ist, so gibt es natürlich Sieger und Besiegte und die Regierung — welche der Preis des Kampfes ist, oder als Mittel dient, um den Siegern die Früchte ihres Sieges zu sichern und zu erhalten — wird selbst­verständlich nie in den Händen der Besiegten sein, ob nun der Kampf durch körperliche oder geistige Kraft oder auf wissenschaftlichem Felde gefochten wird. Diejenigen, die gekämpft haben, um zu siegen, um sich die besten Verhältnisse, die Vorrechte, die Herrschaft und die Macht zu erobern, werden den erfochtenen Sieg gewiß nicht dazu benützen, um das Recht der Besiegten zu schützen oder um ihrem eigenen Willen — oder dem Willen ihrer Freunde und Verbündeten — Schranken zu setzen.

Die Regierung, oder wie man sie nennt, der »Staat«, ist als Vollstrecker der Gerechtigkeit, als Milderer der gesellschaftlichen Streitigkeiten, als un­parteiischer Verwalter der Interessen Aller eine Täu­schung, ein Trugbild, eine nie verwirklichte und nie zu verwirklichende Utopie.

Wenn die Interessen der Menschen mit einander im Gegensatz stünden, wenn der Kampf zwischen den Menschen ein notwendiges Gesetz der mensch­lichen Gesellschaft wäre, wenn die Freiheit von Einigen der Freiheit der Anderen eine Grenze setzen würde; dann würde ein jeder immer darnach trachten, seinen eigenen Interessen über die Interessen der Anderen zum Siege zu verhelfen; ein jeder würde seine Freiheit auf Kosten der Freiheit anderer ver­größern wollen. Wenn es eine Regierung geben müßte, nicht weil dieselbe mehr oder weniger allen Mitgliedern einer Gesellschaft nützlich ist, sondern weil die Sieger sich die Früchte ihres Sieges sichern wollen, indem sie die Besiegten sich fest unterwerfen und um sich nicht immerfort zur Verteidigung bereit halten zu müssen, eigens zum Polizeidienst abgerichtete Menschen mit ihrer Verteidigung betrauen — dann wäre die Menschheit dem Untergang geweiht, oder sie wäre dazu verdammt, sich immerfort zwischen der Tyrannei der Sieger und den Empörungen der Besiegten herumzuschlagen.

Glücklicherweise ist die Zukunft der Menschheit glückverheißender, denn dieselbe wird durch ein sanfteres Prinzip geleitet: Dieses wahrhaft menschliche und ge­sellschaftliche Prinzip ist die Solidarität.

Die notwendigsten Grundeigenschaften des Men­schen sind erstens das Streben nach der Erhaltung seines Lebens, ohne welches nichts Lebendes bestehen würde; und zweitens das Streben nach der Erhaltung seiner Art, ohne welche keine Art sich entwickeln oder erhalten könnte. Der Mensch strebt natürlicher­weise darnach, sein eigenes Leben, sowie jenes seiner Nachkommenschaft gegen Alle und Alles zu verteidigen.

Die lebenden Wesen haben in der Natur zwei Methoden, um ihr Leben sicherer und angenehmer zu gestalten. Einerseits den Kampf der einzelnen Individuen gegen die Elemente und auch gegen die anderen Individuen derselben Art oder einer anderen Art; andererseits die gegenseitige Hilfe, das Zu­sammenwirken, welches wir die »Vereinigung zum Kampfe« nennen können, gegen alle Naturgewalten, die das Dasein, die Entwicklung und das Wohlbe­finden der vereinigten Lebewesen gefährden.

In diesen kurzen Zeilen können wir die Rolle dieser zwei Grundprinzipien in der Entwickelung des Lebens, des Kampfes und des Zusammenwirkens und ihr Verhältnis zu einander nicht ausführlicher behandeln.

Es genügt, festzustellen, daß in der Menschheit das — freiwillige oder unfreiwillige — Zusammen­wirken das einzige Mittel für den Fortschritt, zur Ver­vollkommnung, zur Sicherheit geworden ist; der Kampf hingegen — als ein Überbleibsel der Urzeiten - ist ganz unfähig, das Wohlsein der Menschen zu fördern, im Gegenteil, der Kampf bringt allen Siegern wie Besiegten nur Schaden.

Die Erfahrung, welche die aufeinanderfolgenden Menschengeschlechter erworben und einander über­liefert haben, haben dem Menschen gezeigt, daß wenn er sich mit anderen Menschen vereinigt, sein Bestehen gesichert, seine Wohlfahrt größer ist. So hat sich aus dem Kampf ums Dasein, welchen die Menschen gegen die Unbilden der Natur und die eigenen Artgenossen führen mußten, der Gesell­schaftstrieb entwickelt, der die Daseinsbedingungen der Menschen vollkommen verändert hat. Durch diesen Trieb konnte sich der Mensch aus dem tierischen Zustand emporarbeiten, eine große Macht über die Natur erhalten und sich so hoch über die übrigen Tiere erheben, daß die spiritualistischen Philosophen es für nötig fanden, eine übernatürliche und unsterb­liche Seele für ihn zu erfinden.

Viele Ursachen haben bei der Bildung dieses Gesellschaftstriebes mitgewirkt. Derselbe hat seinen Ursprung in dem Bestreben aller Lebewesen, ihre Art zu erhalten — welches Bestreben nichts anderes ist, als wie der auf die natürliche Familie beschränkte Gesellschaftstrieb — und er hat sich in solch einer Höhe und Stärke entwickelt, daß er von nun an die eigentliche Grundlage der moralischen Natur des Menschen bildet.

Als der Mensch sich aus den niedriger stehenden Tierarten entwickelte, war er schwach und wehrlos, um einzeln den Kampf mit den Raubtieren aufnehmen zu können. Aber er hatte ein Gehirn, das einer großen Entwicklung fähig war, ein Stimmorgan (Kehle und Zunge), das fähig war, die verschiedenen Regungen dieses Gehirns durch verschiedene Laute auszudrücken; Hände, mit denen er Stein und Holz und andere Stoffe nach seinem Willen formen konnte — und so erkannte er gar bald die Notwendigkeit und die Vor­teile der Vereinigung. Man kann sogar sagen, daß er er erst dann anfing, Mensch zu sein, als er sich in Gesellschaften vereinigte und den Gebrauch der Sprache erlangt hatte, die zugleich eine wichtige Er­rungenschaft und ein mächtiger Förderer der gesell­schaftlichen Gefühle ist.

Da im Anfang die Anzahl der Menschen ver­hältnismäßig gering war, so war der Kampf ums Dasein zwischen Mensch und Mensch weniger er­bittert, nicht so ununterbrochen, sogar weniger not­wendig, was jedenfalls sehr viel zur Entwicklung der freundschaftlichen Gefühle beitrug und die Erkenntnis und Würdigung der gegenseitigen Hilfe ermöglichte.

Der Mensch kann durch die Anwendung seiner ursprünglichen Fähigkeiten, im Zusammenwirken mit mehr oder weniger seiner Genossen die Verhältnisse, in denen er lebt, verändern und sie seinen eigenen Bedürfnissen anpassen. Seine Begierden vermehren sich und wachsen in dem Maße, als es ihm leichter wird, dieselben zu befriedigen; sie werden schließlich zu Bedürfnissen. Die Arbeitsteilung entsteht als Folge der methodischen Ausnützung der Naturkräfte zu Gunsten des Menschen. Und durch all dies wird das gesellschaftliche Leben zur notwendigen Bedingung des menschlichen Daseins, ohne das der Mensch in die Tierheit zurückfallen würde.

Durch die Verfeinerung des Gefühles in Folge der häufigen Beziehungen unter den Menschen und durch die Gewohnheit, die sich während der Jahr­tausende vererbt hat, ist dieses Bedürfnis nach gesell­schaftlichem Leben, nach Austausch der Gedanken und Gefühle unter den Menschen zu einem not­wendigen Teil des menschlichen Daseins geworden. Es hat sich in Zuneigung, in Freundschaft, in Liebe verwandelt, und besteht unabhängig von den mate­riellen Vorteilen, die die Vereinigung bietet, so weit daß, um es zu befriedigen, man Leiden aller Art und sogar dem Tod entgegentritt.

Die Vereinigung bringt dem Menschen riesige Vorteile. Wenn er vereinzelt bleibt, ist er trotz seiner geistigen Überlegenheit viel schwächer als die übrigen Tiere; aber er besitzt die Möglichkeit, sich mit immer mehr und anderen Menschen zu vereinigen, immer­fort engere und verwickeltere Beziehungen mit ihnen anzuknüpfen, so daß sich schließlich die Vereinigung über die ganze Menschheit, über alles, was lebt, ausbreiten kann; er ist fähig, durch vereinte, gemeinsame Arbeit mit anderen mehr hervorzubringen, als er zum Leben braucht. Und aus alledem haben sich endlich die Gefühle der Zuneigung entwickelt. Darum ist der »Kampf um's Dasein« bei den Menschen vollkommen verschieden von dem, welcher bei den anderen Tieren besteht.

Wie dem auch sei, so weiß man heute doch — und die Naturforscher der Neuzeit bringen uns immer neue Beweise dafür —, daß das Zusammenwirken in der Entwicklung der lebenden Welt eine sehr wichtige Rolle gespielt hat und noch spielt, welche nicht geahnt werden von denen, die — sehr unrichtigerweise — die Macht der Bourgeoisie durch die Entwicklungstheorie Darwins rechtfertigen wollten. Der Unterschied zwischen dem menschlichen und dem tierischen Kampf ist ebenso groß wie zwischen dem Menschen und den übrigen Tieren.

Die übrigen Tiere kämpfen entweder einzeln, oder in den meisten Fällen in kleinen, zeitweiligen oder beständigen Gruppen gegen die ganze Natur, einschließlich ihrer eigenen Artgenossen. Sogar bei den geselligsten Tieren, wie z. B. den Ameisen, Bienen usw. sind die Individuen nur innerhalb derselben Gruppe — desselben Ameisenhaufens oder Bienenstockes — solidarisch miteinander, aber sie sind gleichgiltig (wenn nicht feindlich) gegen die anderen Gruppen ihrer Art. Der menschliche Kampf hat hingegen im Gegenteil das Bestreben, die Vereinigung der Menschen immer mehr auszubreiten, ihre Interessen solidarisch zu machen, das Gefühl der Liebe für alle Menschen in einem jeden Menschen zu entwickeln, die Naturkräfte durch die Menschheit und für die Menschheit zu besiegen und zu beherrschen. Jeder unmittelbare Kampf, welcher den Zweck hat, unabhängig von anderen Menschen oder gegen dieselben, für einen Menschen Vorteile zu erringen, widerspricht der gesellschaftlichen Natur des heutigen Menschen und zieht ihn zum tierischen Zustand hinab.

Die Solidarität, das heißt die Harmonie der Interessen und Gefühle, das Mitwirken eines jeden am Wohle von Allen, und das Zusammenwirken aller zum Wohle eines jeden Einzelnen — dies ist die einzige Art, auf die der Mensch seiner Natur gemäß leben und den höchsten Grad der Vollkommenheit und des Wohlstandes erreichen kann. Dies ist das Ziel, das die menschliche Entwicklung anstrebt; dies ist das höchste Prinzip, das alle heutigen Gegensätze löst, welche sonst unlösbar sind, und welches bewirkt, daß die Freiheit eines jeden in der Freiheit der anderen nicht ihre Grenze, sondern ihre Ergänzung, ihre notwendige Lebensbedingung findet.

»Kein einziger Mensch« — sagt Michael Bakunin — »kann seine eigene Menschlichkeit erkennen und verwirklichen, wenn er sie nicht in den anderen erkennt und den andern zu deren Verwirklichung hilft. Kein Mensch kann sich befreien, wenn er nicht zugleich alle Menschen, die ihn umgeben, befreit. Meine Freiheit ist die Freiheit aller, da ich nur dann wirklich, nicht nur in Gedanken, sondern auch  tatsächlich frei bin, wenn meine Freiheit und mein Recht durch die Freiheit und das Recht aller mir gleichgestellten Menschen befestigt ist.

Die Lage der übrigen Menschen ist für mich von größter Wichtigkeit, denn wie immer unabhängig mir auch meine gesellschaftliche Stellung scheinen mag, wenn ich auch Papst, oder Zar oder König oder Minister bin, so bin ich doch immer das Produkt derjenigen Menschen, die zu allerunterst stehen. Wenn dieselben unwissend, elend, versklavt sind, so ist mein Leben durch ihre Unwissenheit, durch ihr Elend, durch ihre Sklaverei bedingt. Ich, der aufgeklärte und intelligente Mensch, bin dumm durch ihre Dummheit; ich, der Tapfere, bin ein Sklave durch ihre Sklaverei; ich, der Reiche, zittere vor ihrem Elend; ich, der Privilegierte, erbleiche vor ihrer Gerechtigkeit. Ich, der ich frei sein will, kann es nicht sein, denn um mich herum wollen noch nicht alle Menschen frei sein, und indem sie das nicht wollen, werden sie in meinen Händen zu Werkzeugen der Unterdrückung.«

Die Solidarität ist also der Zustand, in welchem der Mensch die höchste Stufe der Sicherheit und des Wohlstandes erreicht; also selbst der Egoismus, das heißt, die ausschließliche Berücksichtigung der eigenen Interessen, treibt den Menschen und die Gesellschaft zur Solidarität. Oder um uns klarer auszudrücken: Egoismus und Altruismus (die Berücksichtigung der Interessen anderer) verschmelzen zu einem einzigen Gefühl, so wie sich die Interessen der einzelnen Menschen mit den Interessen der Gesellschaft zu einem einzigen Interesse verschmelzen.

Aber die Menschen konnten nicht mit einem Schritt jenen Zustand erreichen, in welchem anstelle des Kampfes gegen einander die Vereinigung und Solidarität tritt. Die Vorteile, welche die Vereinigung und die daraus folgende Arbeitsteilung mit sich brachten, lenkten den Menschen auf die Bahn der Solidarität; aber dieser Entwicklung stellte sich ein Hindernis entgegen, das die Richtung derselben veränderte und sie noch heute ihr Ziel verfehlen läßt. Der Mensch entdeckte, daß er bis zu einem gewissen Grade und zur Befriedigung der allernotwendigsten materiellen Bedürfnisse der einzigen, die er damals kannte — sich die Vorteile des Zusammenwirkens sichern kann, indem er andere Menschen sich unterwirft, anstatt sich mit ihnen zu vereinigen. Und da seine Intelligenz noch sehr unentwickelt war, verfiel er darauf, die Schwächeren seiner Rasse zu zwingen, für ihn zu arbeiten; er zog das Herrschen dem gemeinschaftlichen Zusammenwirken vor. Vielleicht war es sogar durch die Ausbeutung der Besiegten, daß der Mensch zum erstenmale dessen bewußt wurde, welche Vorteile der Mensch aus- der Hilfe anderer Menschen ziehen kann.

So führte die Erkenntnis von der Nützlichkeit des Zusammenwirkens nicht zum Triumph der Solidarität, sondern befestigte die Institutionen des Privateigentumes und der Regierung, das heißt der Ausbeutung der Arbeit Aller durch ein kleines Häufchen privilegierter Menschen. Die Vereinigung, das Zusammenwirken besteht auch so, denn ohne dieselben ist das menschliche Leben nicht möglich. Aber es ist ein Zusammenwirken, welches einige Menschen den übrigen aufgezwungen und so geregelt haben, daß es nur ihren eigenen Interessen dient.

Daraus entspringt der große Widerspruch in der Geschichte der Menschheit. Einerseits sind die Menschen bestrebt, sich zu vereinigen und zu verbrüdern, um die Außenwelt zu erobern und ihren Bedürfnissen anzupassen, und um ihren Wunsch nach freundschaftlichem Zusammenleben zu befriedigen.

Andererseits haben sie die Tendenz, sich in verschiedene und feindliche Gnlppen zu spalten, je nachdem ihre geographischen und ethnographischen Verhältnisse und ihre wirtschaftliche Stellung verschieden sind, je nachdem es Menschen gibt, denen es gelungen ist, für sich Vorteile zu erringen, welche sie verteidigen und vermehren wollen; oder solche, die sich irgendwelche Vorrechte zu erkämpfen, oder die unter der Ungerechtigkeit und den Vorrechten anderer, leiden, und sich von denselben zu befreien trachten.

Der Grundsatz »Jeder für sich selbst«, welcher den Krieg Aller gegen Alle bedeutet, hat im Laufe der Geschichte den Kampf der Menschen gegen die Unbilden der Natur, welcher allein den Wohlstand der Menschheit sichern kann, gelähmt, verwirrt und irregeführt, denn derselbe kann nur so mit Erfolg geführt werden, wenn er sich auf den Grundsatz aufbaut: »Alle für jeden und jeder für Alle!«

Die Menschheit hat ungeheuer viel unter der Herrschaft und der Ausbeutung gelitten, welche sich in die menschliche Vereinigung eingeschlichen haben. Aber trotz der unmenschlichen Bedrückung, die die Massen erdulden mußten, trotz dem Elend, den Lastern, der Erniedrigung, welche die Armut und die Sklaverei bei den Sklaven sowohl als bei ihren Herren hervorbringen, trotz dem aufgehäuften Hasse, den mörderischen Kriegen, den künstlich erzeugten Interessengegensätzen, lebte der Geslschaftstrieb fort und entwickelte sich weiter. Das Zusammenwirken ist die unumgänglich notwendige Vorbedingung dazu, daß der Mensch sich mit Erfolg in der Natur behaupten kann, und so bleibt dasselbe doch fortwährend die Kraft, welche die Menschen zusammenhält und das Gefühl der Freundschaft in ihnen entwickelt. Die Bedrückung der Massen selbst bewirkte die Verbrüderung der Unterdrückten. Nur durch mehr oder minder ausgedehnte Solidarität unter den Unterdrückten haben dieselben die Bedrückung aushalten können, und nur so konnte die Menschheit den Keimen des Todes, welche sich in ihr festgesetzt hatten, widerstehen.

Der riesige Aufschwung der Produktion, die vermehrten Bedürfnisse, die nur durch das Zusammenwirken von vielen Menschen aller Länder befriedigt werden können, die Verkehrsmittel, die Reisen, Wissenschaft, Kunst und Handel - alles verbindet die Menschheit immer mehr zu einem einzigen Ganzen, dessen Teile miteinander solidarisch sind und den Raum und die Freiheit zu ihrer Entfaltung nur im Wohle der anderen Teile und des Ganzen finden.

Bei den gegenwärtigen Zuständen der Gesellschaft ist diese umfassende Solidarität, die alle Menschen verbindet, zum größten Teile unbewußt, da sie von sich selbst aus der Mitte der sich befehdenden, persönlichen Interessen emporwächst, während sich die Menschen wenig oder gar nicht mit den allgemeinen Interessen beschäftigen. Dies ist der beste Beweis dafür, daß die Solidarität das natürliche Gesetz der Menschheit ist, sich trotz allen Gegensätzen die die Gesellschaftsordnung geschaffen hat, geltend macht.

Auch die unterdrückten Massen, die sich nie ganz in ihre Sklaverei und in ihr Elend gefunden haben, und die heute mehr als je nach Gerechtigkeit, Freiheit und Wohlstand hungern, fangen an zu verstehen, daß sie sich nur durch das Vereinigen, durch die Solidarität mit allen Unterdrückten und Ausgebeuteten der ganzen Welt befreien können. Sie begreifen endlich, daß die unumgängliche Bedingung ihrer Befreiung der Besitz der Produktionsmittel, des Bodens und der Arbeitswerkzeuge ist, das heißt: die Abschaffung des Privateigentums.

Die Wissenschaft, die Beobachtung der gesellschaftlichen Tatsachen zeigt, daß diese Abschaffung für die Privilegierten selbst von größtem Nutzen wäre, wenn sie sich nur vom Geist der. Herrschaft frei machen, und mit allen übrigen an der gemeinsamen Arbeit zum Wohle aller teilnehmen würden. Nun denn: wenn eines Tages die unterdrückten Massen sich weigern würden für andere zu arbeiten, wenn sie den Besitzern den Boden und die Arbeitswerkzeuge wegnehmen würden, um dieselben auf eigene Faust und zu eigenem Nutzen, das heißt: zum Wohle aller, zu gebrauchen; wenn sie sich nicht mehr der Herrschaft fügen würden, weder der rohen Gewalt noch den wirtschaftlichen Vorrechten; wenn die Brüderlichkeit zwischen den Völkern, das Gefühl der menschlichen Solidarität, verstärkt durch die gemeinsamen Interessen, den Kriegen und Eroberungen ein Ende machen würden — was wäre dann der Sinn und der Zweck einer Regierung?

Wenn das Privateigentum abgeschafft ist, müßte die Regierung, die dessen Verteidigerin ist, unvermeidlich verschwinden. Wenn sie fortleben würde, so wäre sie immerfort bestrebt, unter irgend einer Form eine neue privilegierte und unterdrückende Klasse zu bilden.

Regierungslosigkeit bedeutet nicht dieZerstörung des gesellschaftlichen Zusammenhanges und kann das nicht bedeuten. Gerade im Gegenteil: das Zusammenwirken, welches heute erzwungen ist und nur dem Vorteile von einigen dient, wird frei, freiwillig und unmittelbar sein, und dem Wohle aller dienen und dadurch umso kräftiger und wirksamer werden. Der Gesellschaftstrieb, das Gefühl der Solidarität wird sich bis zum höchsten Grade entfalten: jeder Mensch wird alles, was er nur kann, für das Wohl der anderen Menschen tun, um seinen Freundschaftsgefühlen und seinen richtig verstandenen Interessen zu folgen.

Aus dem freien Zusammenwirken aller, durch die freiwilligen Verbindungen der Menschen je nach ihren Bedürfnissen und Sympathien, von unten nach oben, vom einfachen zum verwickeiteren, beginnend mit den unmittelbarsten Interessen, um zu den all­gemeineren aufzusteigen — aus all dem wird eine gesellschaftliche Organisation emporwachsen, deren Ziel der größte Wohlstand und die größte Frei­heit aller sein wird, welche die ganze Menschheit in einer brüderlichen Gemeinschaft umfaßt; welche sich fortwährend verändern und verbessern wird, so wie sich die Verhältnisse ändern und die Erfahrung es lehrt. Diese Gesellschaft freier Menschen, diese Gesellschaft von Freunden — dies ist die Anarchie.

Bisher haben wir die Regierung so betrachtet, wie sie jetzt ist, wie sie notwendigerweise sein muß in einer Gesellschaft, welche auf Vorrechte, auf die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, auf entgegengesetzte Interessen und Kampf — mit einem Wort: auf das Privateigen­tum gegründet ist.

Wir haben gesehen, wie der Zustand des Kam­pfes nichts weniger als eine notwendige Bedingung des menschlichen Lebens ist, sondern im Gegenteil im Gegensatz zu den Interessen der Menschen und der Menschheit steht. Wir haben gesehen, wie das Zusammenwirken, die Solidarität das Gesetz des menschlichen Fortschrittes ist, und wir haben daraus den Schluß gezogen, daß wenn das Privateigentum und jede Herrschaft des Menschen über den Men­schen abgeschafft wird, die Regierung jeden Zweck verliert und verschwinden muß.

«Aber» — so sagt man uns, und es sagen dies vornehmlich die Sozialdemokraten — «wenn man die Grundlage verändert, auf welcher heute die gesell­schaftliche Organisation aufgebaut ist, wenn man an Stelle des Kampfes die Solidarität, an Stelle des Privat­eigentums den gemeinsamen Besitz setzt, so wird man die Natur der Regierung ändern und dieselbe wird nicht mehr die Interessen einer Klasse ver­treten und verteidigen — da es ja keine Klassen mehr geben wird — sondern die Interessen der ganzen Gesellschaft. Ihre Aufgabe wäre es, im Interesse von allen, das gesellschaftliche Zusammenwirken zu sichern und zu regeln, die allgemein notwendigen gesellschaft­lichen Arbeiten zu verrichten, die Gesellschaft gegen die eventuellen Versuche zu schützen, welche die Wiederherstellung der Vorrechte bezwecken würden, die Angriffe Einzelner gegen das Leben, den Wohl­stand und die Freiheit Aller zu verhüten und zu unterdrücken.

«In der Gesellschaft gibt es einzelne Tätigkeiten welche zu notwendig sind, zu viel Beständigkeit und Regelmäßigkeit erfordern, als daß man sie dem freien Willen des einzelnen Menschen überlassen könnte, ohne zu riskieren, daß alles in die größte Unordnung gerät.

«Wer wird ohne Regierung die Anschaffung und Verteilung der Lebensmittel, die öffentliche Gesund­heit, den Eisenbahn-, Post und Telegraphendienst u. s. w. organisieren und aufrechterhalten? Wer wird für den allgemeinen Unterricht sorgen? Wer wird die großen Arbeiten der Entdeckungen, der Verbesserungen, der wissenschaftlichen Forschungen unternehmen, die Erde umgestalten und die Kräfte der Menschen ver­hundertfachen?

«Wer wird das gesellschaftliche Kapital behüten und vermehren, um es bereichert und verbessert der zukünftigen Menschheit zu überliefern ? Wer wird die Verwüstung der Wälder, die unvernünftige Ausnutzung und Aussaugung des Bodens verhindern?

«Wer wird die Vollmacht haben, die Vergehen, das heißt die gesellschaftsfeindlichen Taten zu bestrafen?

«Und was mit jenen, in denen das Gefühl der Solidarität fehlt und die nicht arbeiten wollen? Und die, welche ansteckende Krankheiten verbreiten würden, weil sie sich weigern, den wissenschaftlich anerkannten hygienischen Vorschriften Folge zu leisten?

«Und wenn es geistig kranke Leute gäbe, die die Ernte verbrennen, Kinder vergewaltigen wollten oder ihre physischen Kräfte gegen die Schwächeren ge­brauchen würden?

«Wenn man das Privateigentum zerstört, ohne eine neue Regierung aufzurichten, welche das Leben der Gemeinschaft organisiert und die gesellschaftliche Solidarität sichert, so würde das die Vorrechte Ein­zelner nicht abschaffen und der Welt keinen Frieden und keinen Wohlstand bringen. Das würde die Zer­störung aller gesellschaftlichen Bande bedeuten und die Menschheit in die Barbarei zurückstoßen, wo jeder nur für sich selbst lebt und wo die brutale Kraft und, daraus entspringend, die wirtschaftlichen Vorrechte über den Schwächeren siegen!»

Dies sind die Einwendungen, welche die An­hänger der Autorität, selbst wenn sie Sozialisten sind, d.h. wenn sie das Privateigentum und die daraus entstehende Regierung der jetzigen herrschenden Klasse abschaffen wollen, uns entgegenhalten.

Darauf antworten wir folgendes:

Erstens ist es nicht wahr, daß die Regierung ihr Wesen und ihre Tätigkeit ändern wird, wenn sich die allgemein-gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. Werk­zeug und Tätigkeit sind untrennbar von einander. Wenn man einem Körperteil seine Tätigkeit nimmt, so stirbt er entweder ab, oder die Tätigkeit stellt sich aufs neue ein. Man setze eine Armee in ein Land, wo weder die Ursache noch die Befürchtung zu einem äußeren oder inneren Kriege vorhanden ist: sie wird einen Krieg hervorrufen, oder wenn ihr das nicht gelingt, wird sie sich auflösen. Eine Polizei wird dort, wo es weder Verbrechen zu entdecken noch Ver­brecher zu verhaften gibt, Verbrechen und Ver­brecher provozieren und erfinden, oder sie wird auf­hören zu sein.

Seit Jahrhunderten besteht in Frankreich eine Behörde (heute der Forstverwaltung angeschlossen), die sogenannte »Wolfsjägerei«, deren Beamte die Vertilgung der Wölfe und anderer schädlichen Tiere zu besorgen haben. Niemand wird sich wundern, daß gerade deshalb es in Frankreich noch Wölfe gibt und dieselben im Winter viel Schaden anrichten (während in den übrigen Ländern Westeuropas sie so gut wie verschwunden sind). Die Bevölkerung kümmert sich nicht viel um die Wölfe, da doch die »Wolfjäger« da sind, deren Aufgabe es ist, sich um dieselben zu kümmern. Diese machen allerdings Jagd auf sie, aber sie verfahren dabei »waidgerecht« indem sie die Jungen verschonen und ihnen Zeit lassen, sich zu ver­mehren, damit eine so interessante Tierart nicht aus­gerottet wird. Die französischen Bauern haben auch recht wenig Zutrauen zu diesen Wolfsjägern, und sehen sie eher als Wolfszüchter an. Es ist be­greiflich: Was würden die Beamten der »Wolfsjägerei« anfangen, wenn es keine Wölfe mehr gäbe?

Eine Regierung, d.h. eine gewisse Anzahl von Leuten, deren Aufgabe es - ist, Gesetze zu machen, die gewohnt sind, sich der Kraft aller zu bedienen, um jeden zu zwingen, sie zu achten, bildet schon in und für sich selbst eine privilegierte Klasse, welche von der Masse des Volkes geschieden ist. Sie wird, wie jede fest begründete Körperschaft instinktiv danach trach­ten, ihre Machtbefugnisse zu erweitern, sich der Auf­sicht des Volkes zu entziehen, ihre besonderen Be­strebungen zu verwirklichen und ihre eigenen In­teressen den übrigen Menschen aufzuzwingen. Indem sie eine privilegierte Stellung einnimmt, befindet sich die Regierung im Gegensatz zur Masse des Volkes, dessen Kräfte sie täglich in Anspruch nimmt.

Übrigens könnte eine .Regierung, selbst wenn sie es wollte, niemals alle Menschen zufriedenstellen. Wenn es ihr gelingen würde, einige zu befriedigen, müßte sie sich gegen die Unzufriedenen verteidigen, und infolgedessen einen Teil des Volkes für ihre In­teressen zu gewinnen suchen, damit dieser sie unter­stützt. So würde von neuem die alte Geschichte an­fangen: daß sich mit Hilfe der Regierung eine privi­legierte Klasse bildet, welche, wenn sie auch diesmal nicht den Besitz des Bodens an sich risse, doch jeden­falls die bevorzugten Stellen, die zu diesem Zweck geschaffen würden, besetzte, und welche die übrigen Menschen nicht weniger bedrücken und nicht weniger ausbeuten würde als die heutige Kapitalistenklasse.

Die Herrschenden, die an das Befehlen gewöhnt sind, würden nicht in die Masse des Volkes zurück­kehren wollen; wenn sie ihre Macht nicht behalten könnten, würden sie sich wenigstens die dann be­vorzugten Stellungen sichern, wenn sie schon diese Macht anderen überlassen müssen. Sie würden von allen Mitteln, welche der Regierung zur Verfügung stehen, Gebrauch machen, um zu ihren Nachfolgern ihre eigenen Freunde erwählen zu lassen, damit diese dann wiederum sie stützen und verteidigen sollen. So würde also die Regierung in denselben Händen hin und her wandern, und die Demokratie, welche angeblich die Regierung aller, die »Volksherr­schaft« ist, würde am Ende wie immer zur »Oli­garchie«, zur Herrschaft der Wenigen, einer privile­gierten Klasse werden.

Was für eine allmächtige, bedrückende, alles in sich aufsaugende Oligarchie wäre eine solche Re­gierung, welche die Sorge, d.h. Verfügurigsrecht über allen gesellschaftlichen Reichtum, alle öffent­lichen Dienstleistungen hätte, von der Verpflegung des Menschen bis zur Fabrikation der Zündhölzchen, von den Universitäten bis zu den Operettentheatern!

Aber nehmen wir an, daß die Regierung nicht an und für sich eine privilegierte Klasse bildet, und daß sie bestehen kann ohne rings um sich eine Klasse von privilegierten Menschen zu schaffen — daß sie also die Vertreterin, sagen wir die Dienerin der ganzen Gesellschaft bleiben würde. Wozu würde sie dann dienen? In was und wie würde sie die Kraft, die Intelligenz, den Geist der Solidarität, die Sorge für das Wohl Aller und der zukünftigen Menschheit, die zur gegebenen Zeit innerhalb der Menschheit be­stünden, vermehren können?

Es ist immer dieselbe Geschichte vom gefesselten Menschen, welcher, da er trotz seiner Fesseln leben kann, glaubt, daß diese Fesseln zu seinem Leben not­wendig sind.

Wir sind gewohnt, unter einer Regierung zu leben, die alle Kräfte, alle Intelligenz, jeden Willen, den sie für ihre eigenen Zwecke benützen kann, in Beschlag nimmt, und alle jene, welche sie nicht braucht oder welche ihr feindlich sind, hindert, lähmt und unterdrückt — und wir bilden uns ein, daß Alles, was in der Gesellschaft geschieht, das Werk der Regierung ist und daß ohne Regierung weder die Gesellschaft noch die Kraft, die Intelligenz oder der gute Willen der Menschen weiterbestehen würde. So läßt z.B. der Grundbesitzer den Boden für seinen eigenen Profit bebauen: er läßt dem Arbeiter nur soviel vom Ertrag übrig, daß derselbe für ihn weiter arbeiten kann und will — und der geknechtete Ar­beiter glaubt, daß er ohne Arbeitgeber nicht leben könnte, als ob dieser den Boden und die Naturkräfte erschaffen hätte!

Womit kann eine Regierung die geistigen und materiellen Kräfte, die in einer Gesellschaft bestehen, vermehren? Ist sie vielleicht wie der Gott der Bibel, der etwas aus nichts zu erschaffen vermag? Da in der ganzen Natur nichts »erschaffen« worden ist, so wird auch in der komplizierten Form der Natur, die wir die menschliche Gesellschaft nennen, nichts »er­schaffen«. Darum kann die Regierung nur die schon vorhandenen Kräfte verwenden, ausgenommen jene großen Kräfte, die sie durch ihre eigene Tätigkeit lahmlegt und zerstört — die Kräfte der Empörung, die Kraft, die sich in den unvermeidlichen, sehr zahl­reichen Reibungen einer so künstlichen Maschine als es die staatliche Gesellschaft ist, verlieren.

Und wenn sie ihrerseits etwas zu den guten Kräften der Gesellschaft beiträgt, so geschieht das durch die persönlichen Handlungen der Herrschenden als Menschen und nicht als Regierende. Und end­lich wird nur der allergeringste Teil der materiellen und moralischen Kräfte, über welche die Regierungen verfügen, wirklich zum wahren Nutzen der Gesell­schaft verwendet. Die meisten werden entweder dazu benützt, um die rebellischen Kräfte der Menschen im Zaume zu halten oder zum ausschließlichen Profit einiger Leute und zum Schaden des größten Teiles der übrigen Menschen gebraucht.

Man hat sich lange darum herumgestritten, in wie weit das Leben und der Fortschritt der mensch­lichen Gesellschaft von den Handlungen Einzelner beeinflußt werden, und in wie weit sie das Ergebnis der »gesellschaftlichen Handlungen« sind. Mit allerlei Kunstgriffen der Sprache und der Philosophie hat man die Sache so verwickelt, daß es ganz gewagt erschien zu behaupten, daß in der Welt des Menschen alles durch die Handlungen der einzelnen Menschen vollbracht und geordnet wird. Und doch ist dies eine so einfache Wahrheit, daß der gesunde Menschenverstand sie sofort einsieht, sobald er sich die wahre Bedeutung der Worte klar macht. Das, was wirklich existiert, ist der einzelne Mensch; die Gesellschaft oder Gemeinschaft, der Staat oder die Regierung, welche vorgibt, denselben vertreten zu können, sind, wenn nicht bloße Begriffe, nur eine Vereinigung einzelner und mehrerer Menschen. Und es ist im Innern eines jeden einzelnen Menschen, daß notwendigerweise alle menschlichen Gedanken und Handlungen entstehen, welche zu gesellschaftlichen Bestrebungen und Handlungen werden, wenn viele Menschen zur selben Zeit dasselbe denken, wollen oder tun. Die gesellschaftlichen Handlungen sind also nicht das Gegenteil und auch nicht die Ergänzung der persönlichen Handlungen, sondern sie sind das Ergebnis der Bestrebungen, der Gedanken und der Handlungen aller einzelnen Menschen, aus denen die Gesellschaft besteht; und dieses Ergebnis ist, wenn sich die anderen Umstände gleich bleiben, größer oder geringer, je nachdem alle Kräfte einem Ziele zustreben oder auseinandergehen oder miteinander im Gegensatz sind. Wenn man hingegen, mit den Autoritäten unter gesellschaftlichen Handlungen die Handlungen der Regierung versteht, so sind dieselben ebenfalls das Ergebnis der persönlichen Kräfte; aber in diesem Falle nur der Kräfte derjenigen Personen, welche die Regierung bilden, oder die durch ihre Stellung die Handlungen der Regierung beeinflussen können.

Deshalb handelt es sich im Jahrhunderte langen Kampf zwischen Freiheit und Autorität, oder anders gesagt, zwischen dem sozialer Gleichheit und Klassenscheidung, in Wahrheit nicht darum, die persönliche Unabhängigkeit auf Kosten des gesellschaftlichen Zusammenwirkens oder dieses auf Kosten von jenem zu erreichen. Sondern, es handelt sich darum, zu verhüten, daß einige Menschen die anderen unterdrücken können; es handelt sich darum, allen Menschen dieselben Rechte und dieselbe Möglichkeit zum Handeln zu geben, und die vereinten Bestrebungen aller, welche natürlicherweise zum Wohle aller führen müssen, an Stelle der besonderen Bestrebungen Einzelner zu setzen, welche ebenso unvermeidlich zur Unterdrückung aller anderen führen. Kurzum: ee handelt sich immer darum, die Herrschaft und die Ausbeutung zu zerstören, so daß alle Menschen ein Interesse am allgemeinen Wohle haben, und die persönlichen Kräfte eines jeden, anstatt unterdrückt zu werden oder sich gegenseitig zu bekämpfen und zu zerstören, die Möglichkeit finden, sich vollständig zu entwickeln und sich miteinander zum größten Wohle aller zu vereinigen.

Aus all dem folgt, daß das Bestreben einer Regierung — selbst wenn dieselbe die von den autoritären Sozialisten angenommene »ideale Regierung« wäre — die schaffenden, ordnenden und schützenden Kräfte der Gesellschaft nicht im geringsten vermehren würde; sondern gerade im Gegenteil: sie würde dieselben ungeheuer schwächen, indem sie die Möglichkeit, etwas zu tun, auf einige beschränkte und jenen so das Recht gäbe, alles zu tun, was sie wollen, ohne ihnen die Fähigkeit geben zu können, alles, was dazu nötig wäre, zu wissen. Wahrhaftig, wenn man von der Gesetzgebung und allen anderen Werken der Regierungen all das wegnimmt, was zur Verteidigung einer privilegierten Klasse dient und nur den Willen dieser Privilegierten ausdrückt — was bleibt dann übrig außer dem, was das Ergebnis der Tätigkeit aller ist?

»Der Staat — sagt Sismondi — ist immer eine konservative Macht, welche die Erfolge des Fortschrittes legalisiert, regelt, organisiert und, wie wir es in der Geschichte sehen, dieselben immer zum Nutzen der privilegierten Klassen ausnützt, die aber nie den Anstoß zu irgend einem Fortschritt gibt. Der Fortschritt entspringt immer von unten. Er wird im Grunde der Gesellschaft, in den Gedanken der einzelnen Menschen, geboren, welche sich dann verbreiten, zur allgemeinen Meinung, zur Majorität werden, aber auf ihrer Bahn immer die Überlieferungen, Gewohnheiten, Vorrechte und Irrtümer, welche von den bestehenden Mächten vertreten werden, bei Seite schieben und bekämpfen müssen.«

Um übrigens zu verstehen, wie eine Gesellschaft ohne Regierung leben kann, genügt es, die jetzige Gesellschaft ein bischen gründlich zu beobachten; und man wird sehen, daß in Wirklichkeit der größte, der wichtigste Teil des gesellschaftlichen Lebens sogar schon heute ohne Mitwirkung der Regierung vor sich geht, und wie die Regierung nur in dasselbe eingreift, um die Massen auszubeuten, die Privilegierten zu schützen; und endlich um, sehr unnötigerweise, alles, was ohne sie und oft gegen ihren Willen geschehen ist, zu sanktionieren. Die Menschen arbeiten, tauschen ihre Arbeitsprodukte aus, studieren, reisen, befolgen die Regeln der Gesundheit und der Sitte, zum größten Teil, wie sie es wollen, machen sich die Fortschritte der Kunst und Wissenschaft nutzbar, haben unzählige Beziehungen zu einander, ohne daß Bedürfnis nach jemand zu empfinden, der ihnen vorschreibt, wie sie leben sollen. Und gerade jene Sachen, in welche sich die Regierung nicht hineinmischt, gehen am besten, diese verursachen am wenigsten Streitigkeiten und passen sich am besten an den Willen aller an, so daß dabei jedermann seinen Nutzen und seine Freude findet.

Ebensowenig ist die Regierung notwendig für die großen Unternehmungen, für jene öffentlichen Dienste, welche das geregelte Zusammenwirken von vielen Menschen, von verschiedenen Ländern und Verhältnissen erfordern. Tausende solcher Unternehmungen sind sogar schon heute das Werk privater Vereinigungen, welche durch freie Vereinbarung geschaffen sind; und man ist sich allgemein darüber einig, daß diese es sind, die am besten gelingen. Wir sprechen nicht von den Vereinigungen der Kapitalisten, die zum Zwecke der Ausbeutung organisiert sind, obgleich auch diese beweisen, daß die freie Vereinigung möglich und ein mächtiges Werkzeug ist, und daß die Leute aller Länder und mit den weitverzweigtesten und verschiedensten Interessen umfassen kann.

Sprechen wir lieber von jenen Vereinigungen, deren Triebfeder die Zuneigung und Hilfbereitschaft der Menschen zu einander, oder der Liebe zur Wissenschaft, oder auch nur einfach das Verlangen, sich zu zerstreuen oder sich bewundern zu lassen ist. Diese geben ein besseres Bild von jenen Gruppen, welche in einer Gesellschaft entstehen werden, wo das Privateigentum und der Kampf unter den Menschen abgeschafft worden sind, und wo infolgedessen jeder sein Interesse und seine größte Befriedigung darin finden wird, das Interesse aller zu fördern und den anderen Gutes und Angenehmes zu tun.

Die wissenschaftlichen Gesellschaften und Kongresse, die Internationale Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, der Verein des Roten Kreuzes, die Geographischen Gesellschaften, die Arbeitervereinigungen, die Gruppen von Freiwilligen, die bei jedem großen Unglück zur Hilfe herbeieilen, sind einige von den tausend Beispielen davon, wie mächtig der Geist der Vereinigung ist, welcher sich immer geltend macht, wenn es sich um ein wahres Bedürfnis oder einen wirklich gefühlten gesellschaftlichen Wunsch handelt; und wenn dies der Fall ist, so finden sich bald die Mittel und Wege zu seiner Befriedigung.

Wenn die freiwilligen Vereinigungen nicht die ganze Erde überziehen, nicht alle Zweige der materiellen und geistigen Tätigkeit umfassen, so ist das nur, weil die Herrschenden ihr überall Hindernisse in den Weg legen, weil das Privateigentum einen Gegensatz zwischen den Interessen der Menschen schafft, weil durch die Anhäufung des Reichtums in den Händen weniger die große Mehrzahl der Menschen unfähig gemacht und verdorben worden ist. Die Regierung übernimmt z.B. den Postdienst, den Eisenbahnverkehr usw. Aber in was besteht in Wirklichkeit ihre Hilfe bei diesen Unternehmungen? Wenn das Volk in die Lage kommt, von diesen Diensten Nutzen zu machen, und das Bedürfnis nach denselben fühlt, wird es daran denken, sie zu organisieren; und die Techniker werden auch keinen Erlaubnisschein von der Regierung nötig haben, um sich an die Arbeit zu machen. Je allgemeiner und dringender das Bedürfnis ist, desto mehr Freiwillige werden sich finden, um dasselbe zu befriedigen. Wenn das Volk die Fähigkeit hätte, an die Produktion und die Versorgung zu denken, brauchten wir uns nicht zu fürchten, daß es sich selbst verhungern ließe, bis nicht die Regierung diese Sache durch Gesetze geregelt hat. Wenn sich die Regierung neu bilden würde, wäre sie auch gezwungen, darauf zu warten, daß das Volk alles organisiert, um dann mit ihren Gesetzen das zu sanktionieren, was schon geschehen ist.

Es ist bewiesen, daß das Privatinteresse die stärkste Triebfeder alles Handelns ist. Wohlan! Wenn das Interesse aller das Interesse eines jeden sein wird — und dies wäre unvermeidlich der Fall, wenn es kein Privateigentum gäbe — so werden alle handeln. Wenn Sachen geschehen, welche nur einige angehen, so werden sie umsomehr und umso besser geschehen, wenn alle ein Interesse an denselben haben werden. Es ist schwer zu verstehen, daß es Leute gibt, welche glauben, daß die Ausführung und der regelmäßige Gang der öffentlichen Dienste, welche für das Leben der Gesellschaft unentbehrlich sind, besser gesichert werden durch die Arbeit von Regierungsangestellten, als wie unmittelbar durch die Arbeiter selbst, die entweder aus freier Neigung oder durch Verabredung mit den andern diese Arbeit gewählt haben und dieselbe unter der unmittelbaren Aufsicht all jener ausführen, die daran ein Interesse haben.

Ohne Zweifel ist in jeder großen gemeinsamen Arbeit Arbeitsteilung, technische Leitung, Administration, Verwaltung etc., notwendig. Aber die Anhänger der Autorität treiben ein falsches Spiel mit diesen Worten, wenn sie die Notwendigkeit einer Regierung aus der wirklich vorhandenen Notwendigkeit der Organisation der Arbeit ableiten wollen.

Die Regierung, ich sage es nochmals, ist die Gesamtheit jener Leute, welche das Recht und die Mittel dazu erhalten oder sich genommen haben, Gesetze zu machen und andere zum Gehorsam zu zwingen. Die Arbeiter einer Unternehmung, der Techniker, Ingenieur etc. ist hingegen ein Mensch, der den Auftrag erhält oder auf sich nimmt, eine bestimmte Arbeit zu vollbringen und sie vollbringt. »Regierung« bedeutet Übertragung von Gewalt, das heißt, das Abdanken aller von jedem selbständigen Handeln und jeder Selbstbestimmung, zu Gunsten einiger. »Administration« hingegen bedeutet die Übertragung von Arbeit, das heißt: das Übergeben und Übernehmen einer Aufgabe, den freien Austausch von Dienstleistungen, welcher auf freier Vereinbarung beruht.

Die Regierenden sind Privilegierte, da sie das Recht haben, anderen zu befehlen und sich der Kräfte anderer zu bedienen, um ihre eigenen Ideen und persönlichen Wünsche zu erfüllen. Die Verwaltenden, die technischen Leiter etc. sind Arbeiter, wie die Übrigen; natürlich nur in einer solchen Gesellschaft, in welcher Alle die gleiche Möglichkeit haben, sich zu entwickeln, wo alle zugleich körperliche und geistige Arbeit leisten oder leisten können, wo jede Art Arbeit und Dienstleistung das gleiche Recht auf den Genuß der gesellschaftlichen Vorteile gibt. Man darf die Tätigkeit der Regierenden nicht mit derjenigen der Verwaltenden verwechseln; wenn diese beiden heute nicht geschieden sind, so ist das die Folge der wirtschaftlichen und politischen Ungleichheit der Herrschaft.

Aber gehen wir zu der Tätigkeit über, für welche die Regierung von allen, die nicht Anarchisten sind, als wirklich unentbehrlich angesehen wird: die Verteidigung der Gesellschaft nach außen und innen, das ist der »Krieg«, die »Polizei«, die »Gerichtsbarkeit«.

Wenn einmal die Regierungen verschwunden sind und der Reichtum der Gesellschaft allen zur Verfügung steht, werden alle Gegensätze zwischen den Völkern und mit diesen der Grund und die Ursache der Kriege, rasch verschwinden. Übrigens können wir auch behaupten, daß, wenn im gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft in einem Lande die Revolution ausbräche, sie überall im Volke, wenn auch vielleicht nicht unmittelbare Nachahmung, aber wenigstens so viel Sympathie fände, daß sich keine Regierung trauen würde, Truppen ins Ausland zu schicken, weil sie befürchten müßte, daß dann in ihrem eigenen Land die Revolution ausbricht. Nehmen wir aber an, daß die Regierungen jener Länder, in denen sich das Volk noch nicht befreit hat, versuchen würden, mit ihren Armeen ein freies Volk wieder in die Knechtschaft zurück zu zwingen. Wird dieses letztere eine Regierung nötig haben, um sich verteidigen zu können?

Um Krieg zu führen, dazu braucht man Menschen, die die notwendigen geographischen und technischen Kenntnisse besitzen und hauptsächlich Volksmassen, welche kämpfen wollen. Eine Regierung kann weder die Fähigkeiten der ersteren, noch den Willen und den Mut der letzteren vermehren. Die Geschichte zeigt uns wie ein Volk, welches wirklich sein eigenes Land verteidigen will, unbesiegbar ist; (1) wie in Italien z.B. vor den Truppen der Freiwilligen — eine solche freigebildete Truppe ist eben eine anarchistische Form — die Throne stürzten und die regelmäßigen Armeen, welche aus zum Militärdienst gezwungenen oder dafür besoldeten Menschen bestanden, sich zerstreuten.

Die »Polizei«, die »Gerichtshöfe«? Viele Leute denken, daß, wenn es keine Gendarmen, keine Polizisten und Richter gäbe, ein jeder frei wäre, seinen Nächsten umzubringen, zu vergewaltigen, zu quälen, und daß die Anarchisten im Namen ihrer Prinzipien diese eigentümliche »Freiheit«, welche die Freiheit anderer vergewaltigt und zerstört, dulden wollen. Sie sind beinahe überzeugt, daß wir, nachdem wir die Regierung und das Privateigentum gesellschaftlich aufgehoben haben, beides wieder sich ruhig aufbauen ließen, um die »Freiheit« jener, die herrschen und besitzen wollen, nicht zu verletzen. Eine seltsame Art, um unsere Ideen zu verstehen!

Freilich ist es so leichter, sie mit einem Achselzucken abzutun, ohne sich die Mühe zu nehmen, sie zu widerlegen. Die Freiheit, die wir für uns und für andere verwirklichen wollen, ist nicht eine abstrakte metaphysische, »absolute« Freiheit, welche im wirklichen Leben notgedrungen zur Unterdrückung der Schwächeren führt; sondern es ist die wirkliche, die mögliche Freiheit, welche in der bewußten Gemeinsamkeit der Interessen, der frei gewollten Solidarität besteht. Wir verkünden den Grundsatz: »Tue was du willst!« und darin fassen wir sozusagen unser ganzes Programm zusammen, denn — wie leicht begreiflich — sind wir überzeugt, daß in einer harmonischen Gesellschaft, in welcher es kein Privateigentum und keine Regierung gibt, »ein jeder das wollen wird, was er soll«.

Wenn aber, durch die Folgen der Erziehung, welche ihm die jetzige Regierung geboten hat, oder durch eine krankhafte Veranlagung, oder aus was immer für einen Grund, jemand uns oder anderen schaden wollte, würden wir uns auf jeden Fall aller Mittel bedienen, um uns zu verteidigen. Da wir wissen, daß der Mensch das Ergebnis seiner eigenen Beschaffenheit und seiner natürlichen und gesellschaftlichen Umgebung ist, werden wir nicht das Recht der Gegenwehr mit dem unsinnigen und eingebildeten Recht der Strafen verwechseln. Wir werden im »Verbrecher«, d.h. in dem Menschen, der gegen das Interesse der Gesellschaft handelt, nicht einen sich empörenden Sklaven sehen, wie das der Richter heutzutage tut, sondern einen kranken Bruder, der Pflege braucht; und wir werden ihn nicht mit Haß zu unterdrücken trachten, wir werden bestrebt sein, die Grenze der unbedingt notwendigen Gegenwehr nicht zu überschreiten, wir werden nicht daran denken, uns zu rächen, sondern daran, den Unglücklichen mit allen Mitteln, die uns die Wissenschaft zur Verfügung stellt, zu heilen und der Gesellschaft zurück zu erobern.

Wie immer sich dies übrigens die Anarchisten individuell zurechtlegen, jedenfalls wird das Volk es sich nicht gefallen lassen, daß man ungestraft seine Freiheit und sein Wohl antastet, und wenn es notwendig wäre, würde es Maßregeln treffen, um sich gegen die antisozialen Handlungen einzelner zu verteidigen. Aber was braucht man dazu Leute, deren Aufgabe es ist, Gesetze zu machen? oder solche Leute, die dafür sorgen und davon leben, daß sie diejenigen ausfindig machen — und erfinden — die diese Gesetze übertreten? Wenn das Volk wirklich etwas mißbilligt und schädlich findet, gelingt es ihm immer, diese Sache zu verhindern, besser als allen berufsmäßigen Gesetzgebern, Gendarmen und Richtern.

Die Gebräuche entsprechen immer den allgemeinen Bedürfnissen und Gefühlen; sie werden umsomehr geachtet und befolgt, je weniger sie der Sanktion des Gesetzes unterworfen sind; denn ein jeder sieht und versteht so die Nützlichkeit derselben, und die Beteiligten verlassen sich nicht auf den Schutz einer Regierung, sondern sorgen selbst dafür, daß sie befolgt werden. Für eine Karawane in der Wüste von Afrika ist die Sparsamkeit mit dem Wasser eine Lebensfrage, und unter diesen Umständen wird das Wasser zum Heiligtum; keiner denkt daran, es zu mißbrauchen. Verschwörer haben Heimlichkeit nötig; sie bewahren das Geheimnis, oder Verachtung trifft denjenigen, der es verletzt. Die Schulden beim Hazardspiel werden vom Gesetz nicht anerkannt, und unter Spielern wird der, der sie nicht bezahlt, als ehrlos betrachtet, und er hält sich selber dafür.

Ist es vielleicht wegen den Gendarmen, daß sich die Menschen nicht öfter umbringen, als sie es tatsächlich tun? Die meisten Dörfer sehen nur hie und da in langen Zwischenräumen einen Gendarm; Millionen gehen ihrem täglichen Leben nach, ohne von dem väterlichen Auge des Gesetzes bewacht zu werden, so daß man sie ohne jede Gefahr der Strafe anfallen könnte, und dennoch sind sie so sicher, wie in einer Gegend, die voll von Polizisten ist. Die statistischen Zahlen zeigen, daß die Anzahl der Verbrecher sehr wenig von dem Erfolg der Unterdrückungsmaßregeln abhängt, aber sich sehr sehnell je nach der Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse und der öffentlichen Meinung ändert.

Die Strafgesetze beziehen sich übrigens nur auf die außergewöhnlichen, ausnahmsweise vorkommende Fälle. Das tägliche Leben geht außerhalb der Paragraphen des Strafgesetzbundes vor sich und wird, beinahe unbewußt, durch die stillschweigende und freiwillige, gemeinsame Übereinkunft aller, durch eine Menge Gewohnheiten und Gebräuche geregelt, welche tausendmal wichtiger für das gesellschaftliche Leben sind, als die Vorschriften des Gesetzes; und die tausendmal besser befolgt werden, obgleich ihnen jede Sanktion fehlt, außer der einen natürlichen: der Verachtung, welche die Zuwiderhandelnden trifft und den Nachteilen, die diese allgemeine Verachtung nach sich zieht.

Wenn unter den Menschen Streitigkeiten entstehen — würden dann nicht freigewählte Schiedsrichter und der Dank der öffentlichen Meinung viel geeigneter sein, denen Recht zu geben, die wirklich Recht haben, als eine unverantwortliche Behörde, die das gesetzliche Recht hat, über alles und alle zu urteilen und die deswegen notwendigerweise in vielen Fällen unwissend, also ungerecht sein muß, weil sie nicht allwissend sein kann?!

Ebenso wie die Regierung gewöhnlich nur zur Verteidigung der privilegierten Klassen dient, so dienen Polizei und Gerichtshöfe nur zur Unterdrückung jener »Verbrechen«, die vom Volke selbst nicht als Verbrechen angesehen werden und die nur die Vorrechte der Regierenden und Besitzenden verletzen. Für die Verteidigung der wahren Interessen der Gesellschaft der Verteidigung der Freiheit und des Wohlstandes aller, gibt es nichts Schädlicheres, als das Heranwachsen dieser Klassen, die unter dem Vorwand ihr Leben erhalten, daß sie alle Menschen verteidigen, die sich daran gewöhnen, einen jeden als ein einzufangendes Wild anzusehen und die Menschen auf den Befehl ihrer Vorgesetzten hin ihrer Freiheit zu berauben und zu töten, ohne zu wissen, warum, ganz wie bezahlte, gedungene und unverantwortliche Bösewichte.

* * *

Nun gut, sagt man: Die Anarchie mag eine vollkommene Form des gesellschaftlichen Lebens sein, aber wir wollen keinen Sprung ins Dunkle tun. Erklärt uns also »ausführlich«, wie euere zukünftige staatslose Gesellschaft eingerichtet sein wird. — Dann kommt eine ganze Reihe von Fragen, die sehr interessant sind, wenn man die Probleme der freien Gesellschaft studieren will, die aber überflüssig, lächerlich oder absurd werden, wenn man eine endgiltige Lösung derselben von uns verlangt.

Wie wird man die Kinder erziehen? Wie wird man die Produktion und die Verteilung organisieren? Wird es noch große Städte geben oder wird sich die Bevölkerung gleichmäßig über die ganze Erde verbreiten? Was würde geschehen, wenn alle Einwohner von- Sibirien den Winter an der Riviera verbringen wollten? Wenn ein jeder Rebhühner essen und feine Weine trinken will? Wer wird die Arbeit des Seemanns und Kohlengräbers verrichten? Wer wird die Kanäle ausräumen? Wird man die Kranken zuhause oder in öffentlichen Spitälern pflegen? Wer wird den Fahrplan der Eisenbahnen feststellen? Was wird man tun, wenn der Lokomotivführer auf der Fahrt Bauchweh bekommt? . . . Und so weiter, als ob man glauben würde, daß wir im Besitze der ganzen Wissenschaft und Erfahrung der Zukunft sind, und daß wir im Namen der Anarchie den kommenden Menschen vorschreiben müssen, um wie viel Uhr sie zu Bett gehen, und an welchem Tag sie sich die Hühneraugen schneiden sollen!

Wenn unsere Leser wirklich eine Antwort auf diese Fragen — wenigstens auf die ernsten und wichtigen derselben — verlangen würden, so würde das beweisen, daß es uns nicht gelungen ist zu erklären, was die Anarchie ist.

Wir sind ebenso wenig Propheten, wie andere Menschen! Wenn wir uns anmaßen würden, eine offizielle Lösung all jener Probleme zu bieten, welche im Leben der zukünftigen Gesellschaft auftauchen werden, so wäre das wahrlich eine eigentümliche Art, die Regierung abzuschaffen! Dann würden wir ja uns selbst als Regierung aufstellen und, nach dem Muster der religiösen Gesetzgeber, für die Gegenwart und die Zukunft allgemein giltige Vorschriften dekretieren! Glücklicherweise würden uns keine Gefängnisse und Scheiterhaufen zur Verfügung stehen, um unsere Bibel der Menschheit aufzuzwingen, und so könnten die Menschen uns ruhig auslachen.

Wir denken viel über alle gesellschaftlichen Fragen nach, teils aus wissenschaftlichem Interesse, teils weil wir die Anarchie verwirklichen und am Ausbau der neuen Gesellschaft teilnehmen wollen. Aber daß wir heute, mit unserem jetzigen Wissen, so oder so über eine Sache denken, beweist noch nicht, daß dieselbe sich in der Zukunft auch wirklich so gestalten wird. Wer kann die Tätigkeit der Menschheit voraussehen, wenn sie sich einmal vom Elend und von der Unterdrückung befreit haben wird? Wenn alle Menschen Gelegenheit haben werden, sich zu unterrichten und zu entwickeln; wenn es weder Sklaven noch Herren geben wird und der Kampf gegen andere Menschen mit all dem Haß und aller Mißgunst, die daraus entstehen, aufhören wird eine Lebensnotwendigkeit zu sein? Wer kann die Fortschritte der Wissenschaft, der Produktions- und Verkehrsmittel vorhersagen?

Das Wesentliche ist dies: daß sich eine Gesellschaft bildet, in der die Ausbeutung und die Herrschaft des Menschen über den Menschen nicht mehr möglich ist; wo alles, was zum Leben, zur Entwicklung und zur Arbeit notwendig ist, allen Menschen zugänglich sein wird; wo alle nach ihrem eigenen Wollen und Können an der Organisation des gesellschaftlichen Lebens mitwirken können. In einer solchen Gesellschaft wird natürlich alles so eingerichtet werden, wie es die Bedürfnisse aller — nach Möglichkeit der Erfahrungen und der augenblicklichen Verhältnissen — am besten befriedigen wird. Und alles wird sich immerfort zum Besseren entwickeln, je nach dem Fortschritt des Wissens und der Mittel, die uns zur Verfügung stehen.

Im Grunde genommen kann ein Programm, das die Grundlagen der Gesellschaft berührt, nichts anderes tun, als daß es eine Methode andeutet. Und es ist hauptsächlich die Methode, die den Unterschied zwischen den Parteien ausmacht und ihre Wichtigkeit in der menschlichen Geschichte bestimmt. Abgesehen von der Methode, behaupten alle Parteien, daß sie das Glück der Menschheit anstreben — und viele wollen dies sogar aufrichtig; aber jede meint, dies auf einem anderen Wege zu erreichen und organisiert ihre Bestrebungen in einer bestimmten Richtung. Also müssen wir den Anarchismus — die Herrschaftslosigkeit — auch vor allem als eine Methode betrachten.

Man kann alle nicht anarchistischen Parteien, je nachdem sie das Glück der Menschheit auf diesem oder jenem Wege zu erreichen trachten oder angeblich erreichen wollen, in zwei Hauptrichtungen einteilen: die «autoritäre» oder staatssozialistische und die sogenannte «liberale» . Die erstere überträgt die Regelung des Gesellschaftslebens einigen Menschen und führt so zur Ausbeutung und Unterdrückung der Masse durch diese Wenigen. Die zweite stützt sich auf die freie Initiative der einzelnen Menschen und verkündet, wenn auch noch nicht die Abschaffung, so doch die Beschränkung der Regierung auf das möglichst geringste Maß. Da sie aber das Privateigentum aufrecht erhalten will und gänzlich auf dem Grundsatz: «Jeder für sich», und in Folge dessen auf den Konkurrenzkampf unter den Menschen aufgebaut ist, so ist ihre «Freiheit» nur die Freiheit der Starken, der Besitzenden, um die Schwachen, jene, die nichts besitzen, auszubeuten und zu unterdrücken. Nicht nur, daß sie nicht die Harmonie zwischen den Menschen begründet, sondern sie macht den Abstand zwischen Reichen und Armen immer größer, sie führt auch zur Ausbeutung und zur Herrschaft, also zur Autorität.

In der Theorie ist dieser sogenannte Liberalismus eine Art Anarchie ohne Sozialismus; und deshalb ist er eine Lüge. Denn die Freiheit ist ohne Gleichheit unmöglich, die wahre Anarchie kann nicht ohne die Solidarität, ohne den Sozialismus bestehen, ebensowenig wie der Sozialismus ohne Anarchie wirklich alle seine Solidaritätsprinzipien erfüllen kann. Die Einwendungen, welche die politischen Liberalen gegen den Staat erheben, bestehen nur darin, daß sie ihm einige Machtbefugnisse nehmen wollen, die den Kapitalisten unbequem sind. Aber das wahre Wesen des Staates, seine Macht zu strafen und zu unterdrücken, kann der Liberalismus nicht angreifen, denn die Besitzenden könnten ohne Polizei und Gendarmerie nicht bestehen: Und diese unterdrückende Macht der Regierung muß sogar umso stärker werden, je stärker in Folge der freien Konkurrenz die Uneinigkeit, die Ungleichheit unter den Menschen wird.

Die Anarchisten bieten eine neue Art der Lösung dar: Die freie Initiative, die freie Betätigung nach eigenem Vernunftsgutdünken und die freie Vereinbarung Aller zu gemeinsamen Angelegenheiten. Nachdem das Privateigentum durch das revolutionäre Handeln des Volkes abgeschafft worden, werden alle Menschen unter sozial gleichen Verhältnissen in die Lage gebracht sein, sich den gesellschaftlichen Reichtum nutzbar machen zu können. Diese Lösung der Frage macht die Wiederherstellung des Privateigentums unmöglich und muß somit auf dem Wege der freien Vereinigung zum vollständigen Triumph der Solidarität führen.

Wenn man die Sache so betrachtet, so sieht man, daß alle Schwierigkeiten, die man als Einwendungen vorbringt, um die anarchistische Idee zu bekämpfen, im Gegenteil nur ein Argument zu Gunsten des Anarchismus sind. Denn nur auf dem Wege des Anarchismus, nämlich auf dem Wege der zwangslosen Erfahrung, der erprobten Anpassung an das Wissen, die Bedürfnisse, die Gefühle Aller lassen sich diese Fragen lösen.

Nehmen wir zum Beispiel die Frage der Erziehung. Wir haben keinen festgesetzten, unabänderlichen Plan darüber; obwohl schon manche Versuche in Frankreich etc. die Richtung einer natürlichen Erziehung des Kindes klar gemacht haben. Aber wir brauchen auch keinen festgesetzten Plan: die Eltern, die Lehrer, alle die sich für die Entwicklung der neuen Generation interessieren, werden zusammenkommen, beraten, sich einigen oder je nach verschiedenen Meinungsrichtungen teilen und jede Gruppe wird jene Ideen, die sie für die besten hält, für sich und ihr Gebiet verwirklichen. Im täglichen Leben und im geistigen Daseinskampf wird dann schließlich diejenige Art, die wirklich am besten ist, auch zur Geltung kommen. — Dasselbe gilt für alle Probleme, die im Leben vorkommen können. Daraus folgt, daß die Anarchie, so wie die Anarchisten selbst sie auffassen, und wie sie einzig richtig verstanden werden kann, ökonomisch auf dem Sozialismus aufgebaut ist. Und wenn es nicht sich «sozialistisch» nennende Paiteien gäbe, die die Einheit der sozialen Frage künstlich auseinanderreißen, um nur einen Teil derselben zu betrachten; wenn es nicht Wortverdrehungen gäbe, mit welchen man dem wirklichen Ziel der sozialen Revolution den Weg abschneiden möchte, so könnten wir behaupten, daß Sozialismus und Anarchie dasselbe bedeuten, da ja doch die Bedeutung bei der die Abschaffung der Herrschaft und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist, ob nun dieser Zustand der Sklaverei durch die bewaffnete Gewalt oder durch die Mono- polisierung der zum Leben notwendigen Sachen aufrecht erhalten wird.

Die Anarchie, ebenso wie der Sozialismus, hat als Grundlage, als Ausgangspunkt, als notwendige Bedingung, die Gleichheit der Verhältnisse, als Leitstern die Solidarität und als Methode die Freiheit. Sie ist nicht die Vollkommenheit, nicht ein absolutes, für ewig gleich bleibendes Ideal, sondern ein solches, das in dem Maße, wie wir vorangehen und es verwirklichen, wie der Horizont vor uns zurückweicht und uns neue Ideale bietet. Aber die Anarchie ist der Weg, über den jeder Fortschritt, jede Vervollkommnung im Interesse aller Menschen zu gehen hat.

Wir haben festgestellt, daß die Anarchie jene Form des gesellschaftlichen Lebens ist, die allein den Weg zum größten Wohle für alle Menschen frei läßt, denn nur sie zerstört alle Klassen, welche ein Interesse daran haben, die große Masse der Menschen in Elend und Unterdrückung zu halten. Wir haben festgestellt, daß die Anarchie möglich ist, denn in Wahrheit befreit sie die Menschheit nur von einem Hindernis, der Regierung, gegen die diese immer kämpfen mußte, um auf ihrem beschwerlichen Weg voranzuschreiten. Und nachdem wir all dies festgestellt haben, sehen wir die Autoritäten sich in ihre letzte Festung zurückziehen, wo sie durch eine Anzahl Leute verstärkt werden, die, obgleich sie angeblich warme Anhänger der Freiheit und Gerechtigkeit sind, dennoch Furcht vor der Freiheit haben und sich nicht entschließen können, die Idee einer Menschheit zu erfassen, die ohne Vormunde und Hirten lebt und vorangeht.

Durch die Wahrheit arg bedrängt, verlangen diese Leute, daß man die Sache für später, für den spätest möglichen Zeitpunkt aufschiebe. Folgendes ist der Hauptinhalt ihrer Argumente: «Diese Gesellschaft ohne Herrschaft, welche sich mittels des freien und selbstgewollten Zusammenwirkens in Ordnung hält, diese Gesellschaft, die alles dem selbständigen Handeln der Interessierten überläßt und ganz und gar auf Solidarität und Liebe aufgebaut ist — diese Gesellschaft ist gewiß ein sehr schönes Ideal; aber wie jedes Ideal, schwebt sie in den Wolken. Wir befinden uns in einer Menschheit, die immer in Unterdrücker und Unterdrückte geteilt war. Die ersteren sind voller Herrschsucht und haben alle Laster der Tyrannen; die letzteren sind an knechtischen Gehorsam gewöhnt und haben die noch ärgeren Laster, die aus der Sklaverei entspringen. Das Gefühl der Solidarität ist weit entfernt, das herrschende Gefühl unter den heutigen Menschen zu sein, und wenn es auch wahr ist, daß die Geschicke der Menschen miteinander solidarisch sind und immer mehr so werden, ist es ebenso wahr, daß das, was man im Leben am meisten sieht, und was die tiefsten Spuren im Menschen zurückläßt, der Kampf ums Dasein ist, den fortwährend ein jeder gegen einen jeden anderen führt. Wie können diese Menschen, die in einer Gesellschaft aufgewachsen und erzogen sind, in der der Kampf der Klassen und der Einzelnen gegen einander herrscht, sich auf einmal verändern, und wie können sie fähig werden, in einer Gesellschaft zu leben, wo jeder ohne äußeren Zwang, durch den Antrieb seiner eigenen Natur, das Wohl der anderen anstrebt? Wie könnt ihr den Erfolg der Revolution, das Los der Menschheit einer unwissenden Menge anvertrauen, die durch das Elend entkräftet, durch die Pfaffen verblödet ist? Wäre es nicht vernünftiger,auf dem Wege einer demokratischen und sozialistischen Republik auf das anarchistische Ideal loszuschreiten? Würde nicht eine Regierung, gebildet aus den Tüchtigsten, notwendig sein, um die Menschen für die Ideen der Zukunft vorzubereiten?»

Wir stoßen immer auf das Vorurteil, daß die Regierung eine eigene Kraft sei, die von irgendwo entsteht und aus sich selbst etwas zu den vereinten Kräften und Tätigkeiten jener Menschen hinzufügt, die sie bilden und die ihr gehorchen. Das ist aber nicht wahr. Im Gegenteil, alles was in der Menschheit geschieht, wird durch die Menschen selbst vollbracht und die Regierung, als solche, fügt aus eigener Kraft nichts anderes hinzu, als das Bestreben, alles zum Profit einer Partei oder einer Klasse zu monopolisieren und jede Initiative, die außerhalb ihres Kreises entsteht, unmöglich zu machen.

Wenn wir sagen, daß wir die Autorität zerstören wollen, so meinen wir damit nicht die Zerstörung der individuellen und kollektiven Kräfte, die in der Menschheit tätig sind und auch nicht die Zerstörung der geistigen Einflüsse, die die Menschen gegenseitig auf einander ausüben. Das würde die Zersplitterung der Menschheit in eine Masse von losen und untätigen Atomen bedeuten, was unmöglich ist, und wenn es möglich wäre, der Zerstörung jeder Gesellschaft, dem Tod der Menschheit gleichkäme.

Die Autorität zerstören, heißt soviel als das Monopol der Gewalt und des Einflusses zu zerstören; es bedeutet die Zerstörung jenes Zustandes, in welchem die gesellschaftlichen Kräfte, also die Kraft aller Menschen, den Gedanken, dem Willen, den Interessen einer kleinen Anzahl von Menschen dient, die vermittels der blinden Kraft aller zu Gunsten ihrer Interessen und Ideen die Freiheit aller unterdrücken. Die Autorität zerstören, heißt soviel als jene Art von Organisation zerstören, durch welche die Zukunft, von einer Revolution zur anderen, zum Profit jener beschlagnahmt wird, die im Kampfe für einen historischen Moment Sieger bleiben.

Es ist sicher, daß im gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft, wo die große Mehrzahl der Menschen von Elend erdrückt und von Aberglauben verblödet ist, das Geschick der Menschheit von der Tätigkeit einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von Menschen abhängt. Es ist gewiß unmöglich, daß von einem Moment zum anderen sich alle Menschen auf die Stufe erheben können, wo sie es als ihre Pflicht, geschweige denn als ein Glück empfinden, alle ihre Taten so zu vollbringen, daß daraus für die anderen das möglichst größte Wohl entsteht.

Wenn aber die denkenden und ordnenden Kräfte der Menschheit heute noch wenig sind, ist das kein Grund, daß wir selbst von diesen einen Teil lähmen, und den größten Teil einer kleinen Anzahl von ihnen unterordnen sollen. Es ist kein Grund, um die Gesellschaft so einzurichten, daß in Folge der Untätigkeit, die die gesicherten Stellen hervorbringen, in Folge der Vererbung, der Protektion, des Korpsgeistes und der ganzen Regierungsmaschinerie, die lebendigsten Kräfte und tüchtigsten Fähigkeiten sich schließlich außerhalb der Regierung und somit beinahe ohne Einfluß auf das Leben der Gesellschaft befinden. Und jene, die zur Regierung gelangen, werden aus ihrem gewohnten Wirkungskreise herausgerissen und haben ein Interesse daran, die Macht zu behalten, deshalb verlieren sie alle Fähigkeit rationell zu handeln und werden nur ein Hindernis für die anderen.

Wenn wir diese hindernde Gewalt, die staatliche Herrschaft abschaffen, so wird die Gesellschaft das sein, was sie ihren momentanen Kräften und Fähigkeiten gemäß, sein kann. Wenn es Menschen gibt, die Wissen besitzen und dasselbe verbreiten wollen, werden dieselben Schulen gründen und sich Mühe geben, allen Leuten die Notwendigkeit und die Freude des Lernens zu beweisen; und wenn es keine solchen Menschen gibt, so kann sie die Regierung nicht erschaffen. Sie kann nur, wie das heute geschieht, diese Menschen für sich beanspruchen, sie aller nutzbringenden Arbeit entziehen, sie zur Ausarbeitung von Vorschriften verwenden, die man mit Polizeigewalt in Kraft setzen muß mit einem Wort, sie würde aus ihnen, die früher intelligente und begeisterte Lehrer waren, Politiker machen, deren einziges Bestreben wäre, ihr besonderes Steckenpferd allen aufzuzwingen und sich um jeden Preis in ihrer Stellung zu erhalten.

Wenn es Ärzte und Hygieniker gibt, so werden diese das Gesundheitswesen organisieren. Und wenn es keine gibt, kann die Regierung sie nicht erschaffen. Sie könnte nur bewirken — dank des allzu gerechtfertigten Mißtrauens, das das Volk gegen alles hegt, was man ihm aufzwingt, daß man den Ärzten nicht mehr trauen würde, und daß womöglich das Volk dieselben bei einer Epidemie als Giftmischer verfolgte.

Wenn es Ingenieure und Maschinisten gibt, werden diese den Eisenbahnverkehr organisieren — und wenn es keine gibt, so kann sie die Regierung nicht erschaffen.

Die soziale Revolution kann, indem sie die Staatsgewalt und das monopolistische Privateigentum abschafft, keine neuen Kräfte schaffen, die nicht schon bestehen; aber sie wird das Feld frei machen für die Entwicklung aller Kräfte, aller Fähigkeiten, die vorhanden sind, sie wird alle Klassen aufheben, die ein Interesse daran haben, die Massen unwissend und elend zu erhalten und wird es möglich machen, daß ein jeder nach seinen Fähigkeiten und seinen Interessen und Neigungen handeln und die anderen beeinflussen kann. Und das ist der einzige Weg, auf welchem sich die Masse des Volkes auf eine höhere Stufe erheben kann; denn nur, wenn man frei ist, kann man lernen, die Freiheit zu gebrauchen, so wie man nur durch Arbeiten die Arbeit erlernt.

Eine Regierung, wenn sie auch schon keine anderen Nachteile hätte, hätte immer den Nachteil, die Beherrschten an die Unterwerfung zu gewöhnen, sich selbst mehr und mehr unentbehrlich zu machen. Anderenteils, wenn man eine Regierung haben will, die das Volk erziehen und zur Anarchie führen soll, so muß man wissen, wie und aus was für Menschen diese Regierung gebildet werden soll.

Wird es die Diktatur der «Besten» sein? Aber wer sind diese «Besten»? Und wer wird entscheiden, wer die Besten sind? Die große Mehrheit der Menschen ist gewöhnlich den alten Vorurteilen, Ideen und Instinkten unterworfen, die von der intelligenteren Minderheit schon überwunden sind. Aber wer wird wählen unter den tausend Minderheiten, von denen eine jede glaubt, Recht zu haben — und von welchen jede in gewissen Punkten auch wirklich Recht haben kann? Was wird darüber entscheiden, welcher Partei man das Verfügungsrecht über die gesellschaftlichen Kräfte überlassen soll, wenn nur die Erfahrung der Zukunft zeigen kann, welche unter den sich bekämpfenden Parteien Recht hat?

Oder wird die neue Regierung auf dem Wege des allgemeinen Wahlrechtes gewählt werden? Und wird dieselbe so mehr oder weniger ehrlich den Willen der Mehrheit vertreten? Aber wenn man diese guten Wähler für unfähig hält, selbst für ihre eigenen Interessen zu sorgen, wie werden sie je die richtigen Hirten wählen können, die sie führen sollen? Wie können sie das Zauberkunststück vollbringen, durch die Stimmen einer Masse von Dummköpfen ein Genie zu ihrem Vertreter zu wählen? Und was soll mit den Minderheiten geschehen, die ja doch der intelligenteste, tatkräftigste und am meisten vorgeschrittene Teil der Gesellschaft sind?

* * *

Um die soziale Frage zum Wohle Aller zu lösen, gibt es nur eins: Befreiung der Menschheit von jeder Staatsautorität und Wiedererstattung des gesellschaftlichen Reichtums aus den Händen der einzelnen Reichen in die Hände des Gesamtvolkes —  der Arbeitenden!

Alles zum Leben Notwendige allen Menschen zugänglich zu machen und es ermöglichen, daß alle Kräfte, alle Fähigkeiten, aller gute Wille unter den Menschen zur Befriedigung der Bedürfnisse aller beitragen können — dies ist die Aufgabe des sozialen Kampfes!

Wir kämpfen für die Anarchie und den Sozialismus, weil wir überzeugt sind, daß Anarchie und Sozialismus diejenigen sozialen und ökonomischen Zustände sind, die in der Zeitperiode sozialen Neuaufbaues sofort in Wirksamkeit treten müssen; daß man die gesellschaftlichen Leistungen — die in diesem Falle das ganze soziale Leben umfassen — der selbständigen, freiwilligen, freien, nicht offiziellen, unbeherrschten Tätigkeit von all jenen anvertrauen muß, die das Interesse und den Willen haben, sich zu betätigen.

Was immer Gegenwart und Zukunft den Anarchisten bringen mögen, ihre Arbeit wird nie vergebens gewesen sein. Je entschlossener wir sind, unser ganzes Ideal zu verwirklichen, umso gewisser werden Staat und Privateigentum in der menschlichen Geschichte überwunden werden.

Und wenn wir heute fallen, ohne unsere Fahne zu senken, so können wir morgen des Sieges sicher sein!

Anmerkungen:
(1) Es genügt, wenn wir in Österreich auf den Kampf der Tiroler Bauern gegen die Armee Napoleons hinweisen. Anm. d. R.

Aus: "Wohlstand für Alle", 1. Jahrgang, Nr. 2,4,7,10,12,15,17,19,21 (1907, 1908). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.