Gustav Landauer - Von der Ehe

Ja, solche Positionen fanden sich früher in anarchistischen Zeitungen. Der Text ist hier als historisches Dokument wiedergegeben, und nicht weil ich die vertretenen Positionen oder rauslesbaren Antiziganismus heute für politisch diskutabel halte... Der Text ist eine Antwort auf die Positionen Erich Mühsams zum Frauenrecht und stammt aus dem Jahre 1910.

Kamerad Erich Mühsam hat sich in seinem Aufsatz "Frauenrecht" auf einen Boden gestellt, auf den ich ihm nicht folgen will. In den Äußerungen, gegen die sich zu wenden er ohne Zweifel das Recht hat, auch wenn er völlig Unrecht haben sollte, habe ich nicht im geringsten vom Rechte der Frauen gesprochen. Gewiß, alle die Rechte, die er für sie verlangt, und noch einige mehr sollen die Frauen haben, bis auf das Recht, Kinder zu haben, über deren Vater sie in einigem Zweifel sind. Auch dieses Recht sei ihnen gewährt, und ich zweifle nicht, daß sich jederzeit sogenannte Männer finden werden, die ihnen zur Ausübung dieses Rechtes behilflich sein wollen.

Ein Recht haben heißt: nicht durch Gewalt gehindert werden, etwas zu tun oder zu lassen. Also kann mich nichts treffen, was davon handelt. Ich brauche keine Gewalt und rufe sie nicht an. Mühsam begibt sich aber schon auf das Gebiet der Freiheit, wenn er von den Konventionen, der Sitte, den Urteilen und Vorurteilen unserer Gesellschaft spricht.
 
Da steht schon Recht gegen Recht: die Philister haben das Recht, Meinungen zu haben, ihren Umgang zu wählen, ihre Acht auszusprechen, und die Antiphilister haben das Recht, sich nichts darum zu kümmern. Ja, kann er antworten, man braucht aber zu dem, was andre denken und tun, auch wenn sie dazu berechtigt sind, nicht stillzuschweigen; man kann sich regen und aufregen, dagegen angehen u.s.w. Sehr richtig; und das habe ich getan. Und habe von dem Recht Gebrauch gemacht, nach eigenem Denken zu wählen, woran ich nicht vorbeisehe und was andrerseits für mich — zur Zeit — keine sonderliche Bedeutung hat.

Mühsam hat meine Bemerkungen ganz aus ihrem Zusammenhang herausgenommen, hat sie so, wie sie nun waren, an seinen Meinungen, die einem andern Zusammenhang angehören, gemessen und hat gefunden, daß das zweierlei war und nicht zusammenpaßte. Und da hat er wiederum Recht. Es bleibt mir also die Aufgabe, was ich sagte, noch merklicher in den Gedankengang zu tun, in den es gehört, und entschieden zu bitten, es da zu lassen, wohin es gehört. Ich habe den herzlichen Wunsch, mit diesen Äußerungen in einer sehr ernsten Sache zu wirken, auch auf solche, die fürs erste noch zucken. Wirksam können Gedanken nur sein, wenn, sie verstanden werden. Ich will mich bemühen, noch deutlicher zu sprechen.

***

Von Ehe und Familie spreche ich und sage, daß sie völlig freiwillige Bünde sind und daß auf ihnen die Kultur beruht, die wir bauen helfen wollen. Dagegen habe ich von Monogamie und Polygamie gar nicht geredet. In Wahrheit ist Monogamie die Einehe, das heißt die Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau, und Polygamie ist die Vielehe, das heißt die Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und mehreren Frauen oder einer Frau und mehreren Männern.

Was dagegen unsere Modernen, in seltsamer Mißdeutung der Worte, „Polygamie" oder auch polygamische Veranlagung zu nennen belieben, sind ehelose Liebesverhältnisse. Ich sage an sich nichts für und nichts gegen sie; nur wenn sie uns als sozialistischer Ersatz der veralteten „bürgerlichen" Ehe angepriesen werden, gehören sie in meinen Zusammenhang, der von der ganz wirklichen Herstellung einer ganz wirklichen Gesellschaft handelt; dazu ist die Ehe nötig. Die Ehe; also könnte es auch die Vielehe sein. Es fällt mir gar nicht ein, etwas gegen sie zu sagen und etwa die muhamedanische Kultur gegen die unsere herabzusetzen.

Eine Gesellschaft hoher Kultur kann ebenso gut auf der Vielehe wie auf der Einehe beruhen; und die Polygamie ist ein ebenso festes Gebilde der Ordnung wie der bei uns überlieferte Kern und Urbeginn der Gesellschaft.

Ich brauche aber von ihr nicht weiter zu reden, weil sie unserer Vergangenheit und Gegenwart nicht angehört. Was die Kommunisten wollen, ist nicht das nämliche wie die Vielehe, ist ursprünglich ein drittes Ordnungsgebilde, das ich Gemeindeehe zu nennen vorschlage, und ist heutzutage wie der ganze Kommunismus zu zerfahrenem Dilettantismus entartet. Die Einrichtung der Ehe ist dadurch so unaustilgbar und seit langem das feste Fundament jeder Gesellschaftsordnung, weil sie viel weniger als die darauf sich stützenden weiteren Verbände der Zusammengehörigkeit  Zufälliges und Künstliches an sich hat. Mag der Gemeingeist, der Gemeinden oder Interessevereinigungen irgendwelcher Art schafft und erfüllt, noch so gewaltig sein, mögen die herrlichsten Kunstwerke als ihre Wahrzeichen erstehen, all die Notwendigkeit, die ihnen eingeprägt ist, entstammt doch immer dem Element der Liebe.

Die Liebe aber hat sich unlöslich mit der Ehe verbunden und hat sie, die ja auch nur ein gesellschaftliches Zweckgebilde zu praktischem Behuf ist, mit der Notwendigkeit tierisch-göttlicher Natur erfüllt. All unsere Innigkeit, all unser Heiliges, all unsere Phantasie und Mystik, all unsere Religion wohnt in diesem Bund der beiden Geschlechter mit der aus ihrer Vereinigung erwachsenen Nachkommenschaft, und so auch all unsere Brunst und tierische Wonne. Das hat gar nichts damit zu tun und wird gar nicht dadurch beeinträchtigt, daß Mann oder Frau vor der Ehe oder neben der Ehe etwa manchmal noch in mehr oder weniger starker anderweitiger Erotik aufschäumen.

Von unseren traurigen Witzbolden und elenden Schwankfabrikanten brauchen wir uns nicht einreden zu lassen, daß jede holde kleine Neigung oder sinnlich gefärbte Freundschaft oder aufflammende Leidenschaft ein Ehebruch wäre. Wenn ein reifer Mann und ein zur großen Liebe erwachsenes Mädchen — gleichviel ob die romantische Sehnsucht und Brautschaft ihnen zu Teil wurde oder ob die Liebe erst in der Ehe kam — sich zur Ehe zusammengetan haben, dann wird ihr Gemeinschaftswille und ihr Einverständnis so fest, daß sie untrennbar verbunden sind, obwohl jeder ein Mensch für sich ist und auf jedem Gebiet eigene Dinge erleben kann, auch solche, die dem andern Teil wehtun und wehtun müssen. Wir leiden unter vielen falschen und schlimmen Konventionen, aber keine schlimmere Konvention als der Ehebruch und die aus ihm folgende Trennung der üblichen Art.

Etwas anderes ist, was ich die Vorehe nennen möchte: unreife Menschen haben sie in unseren Zuständen oft nötig und kommen in diesem verfrühten Bunde oft erst zu sich selbst und aus ihm heraus zur wahren Ehe. Alles, was als idealer Himmel über der Praxis unseres Gesellschaftslebens sich wölbt: all der Wahn, der in Religion, Philosophie und Kunst, im soldatischen Marsch oder im revolutionären Hymnus lebt, ist daher so gewaltig, der Gemeingeist ist dadurch so allen künstlichen und gewalttätigen oder schlauen Gemachten überlegen, daß diese echte Gesellschaft sich gründet auf das Gefüge der Ehe und daß in der Ehe etwas waltet und Gestalt geworden ist, was zugleich Menschenzweck und Naturgewalt ist: der vehemente und unbezwingliche Trieb der Geschlechter zu einander, das Gedächtnis und Verlangen des Mannes zum Weib und des Weibes zum Mann.

Da unser Geist Gedächtnis ist und da nichts in uns, dem Gedächtnisse, so stark ist, wie die Gedächtnisse der Natur, die wir sind, ist es kein Wunder, daß es uns nicht geht wie dem Tiere, in dem das Gedächtnis des Geschlechts immer wieder erwacht und immer wieder versinkt. Das Tier hat Brunstzeiten, und nachher ist der Liebestraum wieder vorbei; andere Gedächtnisgewalten oder Instinkte haben ihn verdrängt. Der Mensch aber hat allezeit und überall das gegenwärtige Gedächtnis des Geschlechts und überträgt darum die Erotik auf alles; Mann und Frau begatten sich aus dem Grunde der Liebe, nicht bloß zu dem Zwecke der Fortpflanzung; im Verhältnis zu Kindern und Kindeskindern lebt die Geschlechtsliebe, und so denken wir mit erotischer Färbung alles, was wir denken: das Geschlecht regt sich in uns beim Betrachten eines Baumes, bei der Aktivität des Sinnens oder Schaffens, bei der Freundschaft von Mann zu Mann oder von Frau zu Frau. Da ist von keinerlei Konträrempfindungen die Rede oder was alles heutzutage von eilfertigen und dienstwilligen Halbwissenschaftlern, von solchen und für solche erfunden worden ist, die ein überaus Wesentliches nicht in ihrem Denken oder ihrer Natur haben: die Abstufung und den Gradunterschied: die Harmonie. So sehen wir dieses Doppelte: wie schon von Natur aus, von unserer Art Gedächtnis aus, die Liebe all unser individuelles Tun und Regen durchdringt, so erfüllt noch einmal von der Ehe aus die Liebe all unsere Gemeinschaftseinrichtungen.

Ehe und Familie sind gar nicht von einander zu trennen. Was in Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft, wie ich sie wünsche und wie ich an ihr bauen helfe, neben den Gewalteinrichtungen des Staates und den Beraubungseinrichtungen der Schmarotzerei an echter Gesellschaft noch oder schon da ist, gründet sich auf das Zusammenwohnen, Zusammenwirtschaften und Zusammensorgen von Mann und Frau für sich und ihre Kinder.

Ist alles, was Menschen mit einander vorhaben, in den Zeiten des Gemeingeistes von Liebe gefärbt, so gibt es doch, noch einmal sei es in diesen Zusammenhang gestellt, keine Allerweltsliebe. Die Gesellschaft gründet sich nicht und soll sich nicht gründen (mit meinem Willen soll sie es nicht) auf eine Gleichheit, der Gefühlsstärke zu allen Menschen hin; wo keine Abstufung deutlicher und entschiedener Art ist, kann nichts sein, als Schwäche und Verfall. Mein Haus, meine Burg! Mein Haus, mein Hof und Garten, meine Frau und meine Kinder — meine Welt! Auf dieses Gefühl, auf diese ausschließliche Zusammengehörigkeit, auf diesen freien Bund, auf diese kleine Gemeinschaft, auf diese Naturgemeinschaft wünsche ich alle daraus erstehenden größeren Körperschaften, zunächst die Gemeinde und den Berufsverband aufzubauen. Auch sie werden dann allen andern draußen in der andern Welt zurufen: unsere Gemeinde; laßt ihr andern uns in Ruhe; wir sind frei und autonom in dem, was uns angeht. Und so immer ins Breitere gehend die umfassenderen Vereinigungen.

Was wir Sozialisten wollen, die wir nicht den Staat, sondern die Gesellschaft bauen wollen, das heißt die Vereinigung nicht aus Zwang, sondern aus dem Geiste, das ist gegründet auf das freie, selbständige Individuum. Es ist nicht eine Forderung an irgend welche Gewalten, sondern eine gewaltige Tatsächlichkeit der Natur, daß jede Einzelperson wie in leerer Luft für sich dasteht. In ihr verkörpert sich die Welt, sie bezieht alles auf sich, sie läßt alles an sich herankommen, durch sich hindurchgehen und nährt sich von ihm.

Wie, auf Grund welchen Triebes kann sich dieser Egoist trotzdem mit den Mitmenschen in Freiheit zu Gemeinsamkeit verbinden? Nimmermehr bloß aus Klugheit, aus Nützlichkeit, aus verständiger Berechnung der gemeinsamen Interessen. Er muß von etwas durchdrungen, ganz erfüllt, hingerissen und überwältigt werden. Von Zeiten zu Zeiten ist etwas der Art mit dämonischem Zwang über die Menschen gekommen: eine Religion.

Mit jeder echten Religion war der Kommunismus verbunden; und echten Kommunismus gibt es nur unter Religiösen. Daher kommt es, daß es wirklichen, vernünftigen, menschenmöglichen Kommunismus heute nur noch in versprengten religiösen Sekten gibt. Dem religiösen Kommunismus ist die Einzelperson und ebenso auch die kleine Gestalt der Einzelfamilie, die nicht eine juristische, d.h. moralische oder künstlich-gesellschaftliche, sondern eine natürliche Person zweiter Potenz, ein neues Individuum ist, verhaßt und widerwärtig.

Diese Ausschließlichkeit oder Egoismus der Einzelnen und der Familie wird durch die Gottesgewalt des Einsfühlens mit dem All zernichtet. Nicht eine Allerweltsliebe setzt sich durch; das Unmögliche kann auch die Religion nicht schaffen, und Religion ist Stärke und Auftrieb, nicht Verfall und Schwäche. Aber die Gemeinde, die sich um den Tisch des Herrn versammelt, ist das Band, das die Einzelnen zu festem Gefüge verbindet; und zwischen die Gemeinde und den Einzelnen darf sich nichts eindrängen. Der Privatbesitz der Einzelnen hört auf; es ist alles in einer gemeinsamen Kasse versammelt; oder es gibt überhaupt kein Geld mehr; es wird gemeinsam gearbeitet und gemeinsam gezehrt. An die Stelle der Ehe zwischen Mann und Frau tritt die völlige Weiber- und Kindergemeinschaft der religiös zu einander erglühten Gemeinde. So war Kommunismus und Liebesgemeinde immer mit einander, immer mit der Religion verbunden.*)

Was sich heutzutage, besonders unter den sogenannten kommunistischen Anarchisten, Kommunismus und freie Liebe nennt, ist dilettantische Schwärmerei ohne jede Existenzmöglichkeit und ohne Wirklichkeits- und Verwirklichungssinn. Der Kommunismus und die Liebesgemeinde oder Gemeindeehe der Religiösen ist zu Zeiten immer wieder möglich und vernünftig gewesen: auch darin, in dieser dritten Form der Ehe, ist feste Ordnung, liegt die Möglichkeit zu größeren Bünden, die sich darüber aufbauen, begründet. Aber doch ist dieser wirkliche und von dämonischem Geist getragene Kommunismus immer wieder gescheitert, kaum je über den Versuch hinausgekommen. Er ist nicht am Staat und nicht an der Kirche zu Grunde gegangen; das waren nur oft äußere Helfer innerer Notwendigkeit. Das Nachlassen der religiösen Gewalt trug die Schuld: die Natur warf die Religion übern Haufen.

Warum ist auch der echte Kommunismus auf die Dauer nicht lebensfähig? Weil dieses eine noch mächtiger ist als das Wehen des religiösen Wahnes: die Natur.

Die Natur, die uns Individuen als Wirklichkeiten geschaffen hat — hier wird in Bildern gesprochen; worin soll sonst gesprochen werden? daß es eine personifizierte Natur, die geschaffen hat, nicht gibt, braucht mir keiner zu sagen —, die Natur, die sich und ihre Urtriebe nicht überspringen, nicht mit religiösem Sturmesbrausen auf die Dauer zusammenwehen läßt. Es gibt Individuen, und das Individuum findet das All und die Menschheit in sich ganz allein; es braucht die Mitmenschen nicht anders, als es alle Welt braucht: durch die Sinne zur Kenntnis, als Nahrung zum Verzehr, so braucht das Individuum die Welt, so ist es die Welt.

Die halbe Welt: denn die Welt ist ganz erst im Menschenpaar, in Mann und Weib. Die Natur läßt sich nicht durch Geistgestalt, selbst der dämonisch-zwingendsten Art, ersetzen, was sie selbst schon als ewige Notwendigkeit geschaffen hat: die Liebe, die uns über unser Individuelles hinaustreibt, ist nie auf die Dauer das Kind des Geistes; immer wieder stellt sich das wahre, das umgekehrte Verhältnis her: daß der Geist und seine Phantasien und seine sozialen Verkörperungen aus der Liebe, der sondernden und ausschließlichen Liebe entspringen. So muß sich immer wieder die Religion der Natur fügen und muß die Individuen und Individualehen als Grundform der Gesellschaft gelten lassen.

Die christliche Liebe, die Allerweltsliebe wird soziale Wirklichkeit nur in der Gemeindeliebe; und die Einrichtungen  dieser christlichen Liebe werden immer wieder zunichte gemacht von der Einrichtung der natürlichen Geschlechtsliebe: der Ehe. Was aber in allen Zeiten sich immer wieder durchsetzt, gilt für unsere Zeit ganz besonders. Wir haben keine Religion und können darum zu keinem Kommunismus den Versuch machen. Unser Sozialismus gründet sich auf die Individuen; unsere Gemeinden sollen sich auf die Familien gründen. Unser Gemeingeist kann von keinem andern Wahne seine Innigkeit, seine Festigkeit, seine Leidenschaft und Tatschaft haben als von dem sondernden und ausschließlichen Naturwahne der Geschlechtsliebe. Wie er das macht, braucht hier nicht gefragt zu werden. Hier ist nicht von Vorgängen im Bewußtsein des Individuums die Rede, sondern von dem Hin- und Her zwischen den Menschen. Doch war schon auf das Gedächtnis hingewiesen worden, das in immer leiseren Abstufungen die Liebe aus der Ehe in die Gemeinde, das Volk, die Menschheit hinüberträgt. Wem das zu geheimnisvoll klingt, der dürfte das nämliche mit andern Worten zum Ausdruck bringen, wenn er sagt, daß das Glück im Hause und die Gesundheit der engen Lebensgemeinschaft uns zu Gerechtigkeit und erhöhtem Gemeinschaftsleben befähigt.

Als der Sozialismus in unseren Zeiten neu erstand, war er zunächst verbunden mit einer religiösen Reaktion gegen die französische Aufklärung, gegen Voltaire. Man kann Fourier, die Saint-Simonisten, Pierre Leroux und andere gar nicht verstehen, wenn man nicht weiß, daß ihr Kommunismus und ihre Weibergemeinschaft mit dem Versuch verbunden waren, irgend eine Theokratie, eine neue Staatsreligion zu erfinden. Diese frühen Sozialisten also konnten sich eine Lösung der sozialen Fragen ohne Gemeineigentum in Wirtschaft und Liebe nicht vorstellen.**)

Der erste Sozialist, der sich von der Religion zur Natur, vom Kommunismus zum Individualismus, von der Weibergemeinschaft zur Ehe, von der Dumpfheit der Religionsnebel, die nicht mehr echt, sondern künstliche Retortenfabrikate waren, zur Klarheit des Geistes wandte, war Proudhon. Proudhon hat aber in seinen Zeiten noch das nämliche Bild mit angesehen, das sich uns heute wieder bietet. Er hat erlebt, wie wir es erleben, aus welcher Seelen- und Gesellschaftsverfassung heraus die kommunistischen Tendenzen in unserer Zeit entspringen. Zum Kommunismus ist keinerlei Möglichkeit; es fehlen die geistigen Vorbedingungen, daß er es auch nur zu den Anfängen bringen könnte, die dann wieder an der Natur scheitern würden. Aber zu einen Art proletarisch-zigeunerischer Imitation und Verzerrung des Kommunismus liegt die Notwendigkeit in der Hinfälligkeit und dem geistig-gesellschaftlichen Verfall unserer Zeit. Der echte Kommunismus wäre ein festes Gefüge der Ordnung; die Zigeunerei ist Unordentlichkeit und Haltlosigkeit, wie der Allerweltskommunismus, der sich nicht auf Sekten oder Gemeinden gründet, ohnmächtiger Dilettantismus und meistens bloßes Geschwätz ist. Das Widerstreben gegen die Ehe, gegen diesen freien Bund, gegen diese Hingebung und dieses Zusammenfinden fürs Leben, bei welchem Widerstreben freilich oft aus der Not eine Tugend und eine Propaganda gemacht wird, ist ein
Symptom chaotischer Auflösung.

Aus der Not der Mütter, die von ihren Schwängerern verlassen und dem Elend preisgegeben sind, gleich eine neue Theorie und Sexualethik zu machen, die unter dem Namen Mutterschutz propagiert wird, und die, wie ich sagte, nichts anderes will, als die Vaterschaft abschaffen, das nenne ich ein bedenkliches Zeichen des geistigen und gesellschaftlichen Niedergangs unserer Zeit. Ich denke nicht daran, jemandes Privatleben zu kritisieren oder ihm Ratschläge zu geben; aber Aufgabe des Sozialisten ist es, die Dinge, die jeder als seine Privatsache, als sein persönliches Mißgeschick oder als das, wozu er Lust hat, betrachtet, in ihrer Zusammengehörigkeit zu erfassen. Wenn ich sage: in unseren Zuständen werden unsere Proletarier stumpf, ergeben, roh, äußerlich und in immer noch steigendem Maße alkoholisiert, — ist das ein Angriff gegen die persönliche Freiheit irgend welcher Beliebigen? Nun, ebenso sage ich, daß es ein Kennzeichen unserer Zeit ist, daß mit der alten Religion und Moral weiten Schichten jeder Halt, jede Heiligkeit, jede Festigkeit des Charakters verloren gegangen ist; daß die Familie von der Zerstörung angefressen ist; daß die Frauen in den Wirbel der oberflächlichen Sinnlichkeit, der farbig-dekorativen Genußgier hineingerissen worden sind; daß an die Stelle der natürlich-unbesonnenen Volksvermehrung in allen Schichten der Bevölkerung, von Wissenschaft und Technik geleitet, die kinderlose Geschlechtlichkeit tritt; daß unter Proletariern und Bürgern die Zigeunerei gerade die besseren ergreift, die es nicht mehr aushalten, unter den obwaltenden Bedingungen regelmäßig freudlose Arbeit zu tun; ich sage, daß das alles in allen Schichten der Gesellschaft nicht mehr bloß sozial, Beziehung zwischen den Menschen bleibt, sondern daß es anfängt, die individuellen Leiber zu erfassen und die Menschen neurasthenisch, hysterisch oder noch schwerer krank zu machen. Das alles sind notwendige Beschreibungen unseres Zustands; und gegen das alles gibt es keine andere Rettung, als die Erneuerung des Geistes, der Gesellschaft und der Leiber, die wir als Sozialismus zusammenfassen. Und so spreche ich als von dem Inbegriff einer Menge von Einzelerscheinungen, die mir zur Einheit, zur Gemeinschaft oder Wechselwirkung zusammengehen, von den entarteten, entfesselten und entwurzelten Weiblein und ihrem Männertroß, die Promiscuität verkünden, an die Stelle der Familie das Vergnügen der Abwechselung, an die Stelle der freiwilligen Bindung die Schrankenlosigkeit, an die Stelle der Vaterschaft die staatliche Mutterschaftsversicherung setzen wollen. Bachofen hin, Bachofen her; in Kulturen, in denen die Männer sich nicht mit der Rolle des namenlosen Beleghengstes zufrieden geben, und schon bei den höheren Säugetieren werden die Kinder nicht aus dem Backofen geholt und entstammen nicht der schwülen Brutanstalt der Zigeunerfeste und Faschingsvormittage, sondern sie haben Vater und Mutter.

Ich mag nichts von einem Sozialismus wissen, in dem das Elternhaus abgeschafft und der reale Vater ersetzt ist durch einen ideellen Vater im Himmel oder im Gemeindevorstand. Wissen wir denn, ob wir das, was jetzt als Ersatz des fehlenden Geistes innerhalb der Zwangs- und Herrschaftsinstitutionen, die an seine Stelle getreten sind, zu toben beginnt: die Freiheit der verantwortungslosen Lust, ob wir sie vertragen? Ob nicht die grauenhafteste Qual und Öde, die hinfälligste Schwäche und stumpfe Schwunglosigkeit sich aus alldem ergeben muß? Der Geist braucht Freiheit und trägt Freiheit in sich: wo der Geist Einungen gleich Familie, Genossenschaft, Berufsgruppe, Gemeinde und Volk schafft, da wird die Menschheit, da wird sie aus der Freiheit und Gebundenheit der vom Geiste erfüllten Individuen, die von ihrem stärksten Naturtrieb erfaßt, zufördert die tragende Gestalt aller gesellschaftlichen Bünde festgesetzt haben: die Ehe. Die Ehe war; sie ist, wenn auch selten genug; sie wird sein.

gl (Gustav Landauer)

Anmerkungen:
*) Die Forderung der Güter-, Weiber- und Kindergemeinschaft findet sich bekanntlich schon in Platons Staatsutopie, wohin sie aller Wahrscheinlichkeit nach auf allerlei Umwegen aus orientalischen Sekten gekommen ist. — In einer Unzahl „ketzerischer" Sekten des Christentums wurde diese Regel gelehrt und gelebt. Einen besonders deutlichen Ausdruck fand sie im 16. Jahrhundert in der pantheistischen Sekte der Libertiner in Genf. Eine Libertinerin, Benoile Ameaux, die Gattin eines Ratsherren, verteidigte sich vor dem Genfer Konsistorium z.B. folgendermaßen: Die Gemeinschaft der Heiligen sei nur dann vollkommen, wenn alle Dinge gemeinsam seien: Güter, Häuser und der Leib. Es sei ebenso hartherzig, wenn ein Weib einen Mann, der nach der Geschlechtsvereinigung mit ihr begehre, zurückweise, wie wenn einem Armen das Essen und Trinken verweigert werde. — Bei den Mormonen, dieser sehr merkwürdigen, im 19. Jahrhundert entstandenen Sekte, ist die Vielweiberei mit einer seltsamen Verachtung der Frau verknüpft: die Weiber sollen nur dadurch am vollen Segen der Erlösung Teil haben, daß sie einem Heiligen versiegelt, d.h. angetraut werden, und um christlicher Barmherzigkeit willen ist der Heilige gehalten, mehrere Seelenfrauen zu nehmen.
**) Von diesem Lager her war auch die genialische Rahel Varnhagen beeinflußt, zudem noch von den deutschen Romantikern, in denen ähnliches, nur ohne rechten Verwirklichungsdrang, schäumte, und von den Zwischengliedern der Romantiker und des jungen Deutschland, die schon stark ins Rhetorische gingen. Auf die Stelle, auf die sich Mühsam beruft, gehe ich indessen nicht ein; aus der Tatsache, daß er die schwer zu verstehenden Worte unvollständig anführt und die wichtige Eingangsstelle wegläßt, ergibt sich mir, daß er sie, als er sie ganz und gar als auf seinen Fall passend nahm, nicht verstanden hat. Rahel repräsentiert eine wahrhaft kraftvolle Gärung und Wirrnis einer großen Natur; bedeutend war sie in ihrem Denken, nämlich in der Tätigkeit des Denkens; das Gedachte, der Inhalt, der sich aus dieser leidenschaftlich geübten Tätigkeit ergab, braucht nicht immer allzu feierlich genommen zu werden.

Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 19, 1.10.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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