Leo Tolstoi - Der Lack des Christentums

Mir kommt es manchmal vor, wenn wir diese Lehre, die unter Martern und Leid zur Welt gekommen ist, nicht hätten; wenn sie nicht allgemein anerkannt und auf eine unnahbare Höhe der menschlichen Verehrung gestellt worden wäre; wenn sie nicht in die Grundbedingungen des Lebens eingegangen wäre; wenn man sie nicht unter Glockengeläut als die herrschende, triumphierende Lehre aller Welt verkündete, — wäre all dies nicht, man wäre wahrhaftig vielleicht einfacher und besser dran.

Wir kannten dann kein besseres Leben. Die Forderungen höherer Sittlichkeit sprächen nicht zu uns, wir hätten keine großmächtige Wahrheit, die für die Menschen entdeckt und mit dem Tod des Lehrers selbst und so vieler seiner Jünger besiegelt worden ist, — und unser Leben wimmelte vielleicht nicht von diesen schrecklichen, grauenvollen Widersprüchen, die es jetzt erfüllen. Wir wären Heiden — ganz einfach. Wir wüßten nichts anderes und würden uns nicht mit unsäglichen Qualen und Bissen des Gewissens quälen und martern, das nicht abläßt, uns die Lüge und die Verkehrtheit unseres Lebens vorzurücken. Auf der Oberfläche ist der Lack und die Politur der hohen Lehre und des heiligen Glaubens, innen aber der Ekel und der Wurmfraß des Heidentums.

Fäulnis der Seele! Von alldem wüßten wir nichts, und unsere Seele taugte mehr; sie wäre wie die der selbstzufriedenen, glattrasierten und feisten Römer, die nur die Genüsse des Leibes kannten, nichts als ihn anbeteten und hochmütig erklärten: Phantastereien gibt's für uns nicht!

Wir haben ja doch unser Leben eingerichtet, als ob der Geist über allem wohnte. Die Menschen sinken vor der »Idee« in die Kniee, sie küssen ihre Symbole und Bildsäulen; mit Beharrlichkeit und Stolz, manchmal sogar auch mit Kanonen und Maschinengewehren, erklären wir der Welt, wir wären Christen und liebten ihn, den Barmherzigen; in Wahrheit aber herrscht bei uns in den Familien, den Schulen, den Staaten die Verwesung des finstern Heidentums und der Gestank der fauligsten Anschauungen. Mord, Verfolgung, Kerker, Hinrichtung davon ächzt und stöhnt das Leben. Der Himmel zittert vor dem Wehgeschrei der leidenden Menschen. Und sie nehmen das Maul voll und brüsten sich, sie wären Christen. Sie sind es, die das ganze Gift des Heidentums brauen, sie ersticken das Heiligste, das im Christentum lebt, und treten es mit Füßen!

Und das ist die Tragödie unseres Lebens.

Anmerkung:
*) Aus dem soeben erschienenen Buche: »Gespräche mit Tolstoi«. Verlag Erich Reiß in Berlin

Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 23-24, 15.12.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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