Gustav Landauer - Lew Nikolajewitsch Tolstoi

Seit Jean Jacques Rousseau, der ein priesterlich wilder Vorbote und Feldprediger der großen Revolution des 18. Jahrhunderts gewesen ist, hat kein dichterischer und denkerischer Schreiber eine so in das lebendige Tun gehende Wirkung auf die Völker geübt wie Lew Nikolajewitsch Tolstoi, der jetzt im Alter von zweiundachtzig Jahren mächtig gestorben ist. Wir denken an die Gesamtheit der Wirkung, die Goethe getan hat: in ruhiger Haltung des Körpers sitzen wir da, über das Gesicht legt es sich wie Schönheit und verklärte Heiterkeit, die Muskeln entspannen sich und groß schauen unsere erweiterten Augen gerade hin über das Land.

Wir denken an Ibsen: die Stirne kraust sich, die Augen blicken schärfer und wie in bösem Zweifel, um den Mund zuckt es, der Kopf wiegt sich in Unsicherheit und der Finger legt sich an die Nase. Wer aber diesen wilden Mann Tolstoi erlebt hat, der ist mit dem ganzen Leibe sein geworden: die Arme haben sich in starkem Schwung nach oben und rückwärts geworfen, Kopf und Nacken haben sich bohrend, stoßend nach vorne geschoben, die Bewegtheit unserer Seele ist zum Aufruhr, zum Nicht mehr stillhalten können, zur Erschütterung, zum Bäumen und wahrhaft zum Schreiten geworden.

Tolstoi war wie Rousseau eine Einheit von Rationalismus und inbrünstiger Mystik. Dieser Russe war der verkörperte gesunde Menschenverstand; er war so auf den Sinn und die Nützlichkeit aus wie nur je ein Bauer, und er hat sich in keinem Augenblick seines Denkens mit einer Lehre zufrieden gegeben, die nicht seiner Vernunft volles Genüge tat. Nur daß er, als er auf seiner Höhe angelangt war, die Vernunft eines Propheten und eines Heiligen hatte; daß ihn das nicht mehr nützlich dünkte, was der Rost und die Motten fressen, sondern nur das, was der Seele ein Heil und dem Geiste die ewige Wahrheit ist.

Er hat auch auf seiner Höhe, in den letzten fünfundzwanzig Jahren, nicht gerastet. Er ist da durchaus nicht der gleiche geblieben; er ist gewachsen bis zuletzt. Er nahm wohl da seinen Ausgang, wo ihm selber am meisten Anfechtung geworden war: von dem, was er damals, in den Zeiten der »Kreutzersonate«, etwa die Sündhaftigkeit der Wollust genannt hat. Er ist spottschlecht verstanden worden; schon in diesem Beginn kam es ihm auf die im Leben zu verwirklichende Erkenntnis im Sinne Piatons, des Christen, Spinozas und Buddhas an. Die Menschheit stirbt dabei aus? Nun, was weiter? Die Welt bleibt, was sie ist; sie kann sich nicht ändern. Aber sie stirbt ja schon nicht aus, sagt er uns gleich damals deutlich genug; habt doch ja keine Sorge, daß die Vielen auf mich hören; um derentwillen braucht ihr, zu denen ich eigentlich rede, euch nicht vom Heil abbringen zu lassen. Ihr, merket doch ihr, daß es in der Welt nicht auf den Genuß ankommt, sondern auf die Verwirklichung Gottes, der nicht draußen, sondern der in euch drinnen ist. Warum gebt ihr euch mit diesen unaufhörlichen, unendlichen Wandlungen ab, mit der Gier, die Welt in euch hineinzufressen? Glaubt ihr denn, die Welt würde davon besser, daß sie recht massenhaft in euch komme? gerade in euch? Oder ihr würdet besser, wenn ihr das und jenes gewännet? Die Welt ist in euch, das Ganze seid ihr; ihr findet es, wenn ihr euch von allem leiblich abkehrt und mit allem geistig und liebend vereint. Ihr findet den göttlichen Schatz eurer Seele, Wenn ihr euch leiblich arm machet. Das war schon damals seine Lehre und sie wurde unverkennbar und deutlich gesprochen.

Die Liebe im Sinne Piatons, im Sinne Jesu, im Sinne Spinozas, die himmlische Liebe des in sich einigen Geistes zu sich, die ihr irdisches Bild und ihre Lebendigkeit im Gefühl und Tun erhält durch deine Liebe zu allem Lebendigen, setzte er der Körperlust entgegen, die sich auch Liebe nennt, für ihn aber auch in ihrer höchsten Gestalt eine Ausschließlichkeit, eine Bevorzugung und darum nicht Liebe, sondern eitler Wahn hieß. Mehr und mehr kam von dieser Liebe her das große Verlangen über ihn, aus der Philosophie, die ihm Religion war, eine Erfüllung nicht blos für das in seine Isoliertheit zurückgezogene geistige Individuum; sondern für die Gesellschaft der Menschen zu machen. Er machte keine Konzessionen; er war immer der Mann, der bis zur äußersten Konsequenz ging; aber sein Ziel war jetzt nicht mehr bloß die Heiligkeit der Person, sondern die Heiligkeit der Gesellschaft durch die Vereinigung schwacher und in die Welt verstrickter, aber stark und ehrlich nach Reinheit strebender Menschen, die dem Beispiel ihrer Besten nachgehen wollen.

Was Tolstoi wie die Pest gehaßt hat, war durchaus nicht die Schwäche, des Widerstands gegen die Lebenstriebe. Er hatte eine bis zur Zärtlichkeit gehende Liebe zu den starken Naturen, die ihrer Triebe und Lüste nicht Meister werden, zu den Sündern und Verbrechern. Was er haßte, war die Schwäche der Vernunft und die geschwächte Aufrichtigkeit. Mit allen Waffen der Demaskierung, mit den Keulenschlägen seiner geraden Volkssprache und seiner bauernharten Logik und mit den Witzen seiner feinen Zivilisation bekämpfte er Lüge, Heuchelei, Aberglauben in den Kirchen der Konfessionen und der Wissenschaften. Für ihn war Glaube und Vernunft so ein und dasselbe, wie Religion ihm zusammenfiel mit der Liebespraxis der Milde und der Anerkennung alles Lebendigen.

Wer ihn verstehen will, muß wissen, daß seine Genialität Nüchternheit war. Er war so nüchtern und klug, wie es nur je ein Kaufmann oder Politiker gewesen ist. Nur war er nüchtern und ein Handelsgenie nicht in den Dingen des Marktens, sondern in den Dingen des wahren Lebens. Das war seine Macht, die er über uns alle hatte: daß er seine Besonnenheit, seine Geradheit und Ehrlichkeit, seine Klarheit und seinen Wirklichkeitssinn in die Tiefen des Gemüts geworfen hatte und daß er nur auf jenem Markte stand, auf dem um unser ewiges Teil gehandelt wird.

Da war endlich einmal ein jugendlich feuriges Herz, ein Geist mit der Tapferkeit und Rücksichtslosigkeit des Knaben, der ein Greis war und nichts anderes mehr vom Leben wollte als seine tiefste Schönheit und Göttlichkeit. An dem Anblick dieser mannhaften Gestalt, die unbeugsam, starr, heftig, wild, leidenschaftlich das Rapier schwang für die Dinge, die sonst in unseren Zeiten nur ein papierenes oder öliges Dasein führen, ihm aber glühendes Leben waren, haben wir uns Jahre und Jahre gelabt; und ein Labsal war uns auch seine letzte Wanderung; seine kriegerische Pilgerschaft in den Tod. Wir haben ihm alle den Tod in diesem hohen Moment von Herzen gegönnt; und doch wissen wir, es wäre nichts Kleines gewesen, was er uns weiter gelebt hätte, wenn die Kraft des Körpers gereicht hätte.

Man muß bis auf die Propheten des alten Bundes zurückgehen, um Männer zu treffen, die so wie er zornige, wutentbrannte Streiter für Güte, Sanftmut, Verzicht und Brüderlichkeit gewesen sind; aber ganz ohnegleichen war er in seiner Vereinigung von grober Wahrheit und dolchscharfer Logik. Wie er das Elend auf die Regierung, wie er die Regierung auf die kriegsmäßige Gewalt, wie er dieses Soldatentum auf die durch Schule und Kirche gezüchtete Dummheit, wie er die Seelenverfassung der Mächtigen auf ihre Herzensödigkeit zurückgeführt hat, wie er schließlich demonstriert hat, daß das Ziel, die Gewaltlosigkeit, zugleich schon das Mittel ist, um dieses Ziel zu erreichen, daß alle Gewaltherrschaft zusammenbricht und alle Unrechtsqual erlischt, wenn die Knechte aufhören, Gewalt zu üben, Gewalt gegen sich selbst: das hat keiner wie er mit solcher Kraft und solcher unwiderlegbaren Einfachheit einmalig und selbstverständlich in die Köpfe gehämmert; auch sein großer Vorgänger Etienne de la Boëtie, den er, als er schon in seinem gleichartigen Wirken stand, freudig kennen gelernt hat, besaß keine solche Ungebrochenheit und heilige Macht der Rede. Tolstoi war nie vorher ein solcher Sprachkünstler gewesen wie jetzt, da er in der Sprache des Volkes zu allem Volke vom rechten Leben sprach.

Von geradezu hygienischer und gymnastischer Bedeutung für ihn, für die Erhaltung seiner geschmeidigen Kraft und seiner stählernen Jugend, und ein inständig schönes Bild für uns war die immer, von Jahr zu Jahr steigende Übereinstimmung seines Lebens mit der Lehre. Er ist, soviel er auch von sich abtat, und so bewunderungswürdig er Gewohnheiten ablegte, die er verächtlich oder überflüssig fand, nie mit sich zufrieden gewesen und konnte sich nie genug tun. Viele haben es gewußt, daß er von einem Teil seiner Familie wie mit einem Wall umgeben war und daß er Jahre lang nach außen und innen gekämpft hat, um sich von dieser Umgebung und Vormundschaft der Gewöhnlichkeit, die er in menschlich-natürlicher Art lieb hatte und doch durchschaute, freizumachen. In den »Gesprächen mit Tolstoi«, die sein Freund Teneromo gerade jetzt in deutscher Sprache herausgegeben hat, wird erzählt, und keiner erfährt es ohne innige Erschütterung, wie Tolstoi sich vor Jahren schon darüber geäußert hat. »Lew Nikolajewitsch«, heißt es da, »kehrte eines Tags sehr traurig von einem Spaziergang zurück«. Er war auf der Landstraße zwei alten Bauern begegnet, die von weither gewandert waren, um den Märchenerzähler, ihn selbst nämlich, zu besuchen. Sie gehen plaudernd mit ihm dahin und wie er sich ihnen offenbart, daß er selbst der Geschichtenerzähler sei, sagen sie: »Wahrhaftig? Es könnte schon sein. Du hast ein verhärmtes Gesicht, grämst dich wohl viel. Komm her, Lew, laß dich küssen.«

Wie sie sich nun aber dem Schloß Jasnaja Poljana nähern, wie die Straße in den Park einbiegt, wie eine feine Gesellschaft in einer Equipage an der Rampe vorfährt und es gar zu Tisch läutet, da bleiben sie stehen und lehnen es ab, mit ihm ins Haus zu kommen. Und der eine, eben der, der, ihn geküßt hatte, erzählt ihm die Geschichte von der Wahrheit und dem Unrecht; von der Wahrheit, die schweigen muß, weil sie mit dem Unrecht Tee getrunken hat. »So geht es auch dir«, fügt er hart hinzu: die beiden Greise aus dem Volk gehen und lassen ihn den feinen Leutchen, die er selber verachtet. »Glauben Sie mir«, sagte Tolstoi zu dem Freunde, dem er von dieser furchtbaren Begegnung berichtete, »dieses Wort traf mich wie ein zischender Stachel ins Herz ... Und jetzt, wenn ich dieses Schieben der Stühle oben höre, wenn ich dieses Hin- und Herlaufen der Lakaien, die die Herrschaften bei Tisch bedienen, sehe, quält und drückt es mich so schwer ... Ich trinke ja wirklich mit ihnen Tee. Und dieser Greis hat recht, tausendmal recht, daß ich die Wahrheit nicht sagen kann ... Ich reiße mich aber mit ganzer Seele von dem da los und bin überzeugt, daß ich es noch durchführen werde ...«

Wir wissen alle, wie der Zweiundachtzigjährige es durchgeführt hat, wie er aus Gewissensnot die alte Frau und die Kinder geflohen ist, deren Tisch und Lebensführung er längst nicht mehr teilte, die er nur noch als seine Umgebung bei sich duldete, während sie, die armen Reichen, wohl wähnten, daß sie ihn, den in ihrem Reichtum freiwillig Armen, bei sich geduldet und beinahe gefangen gehalten hätten; wie er, ein umgekehrter Faust, mit der Kraft des Sterbenden in die Welt rannte, um die Welt zu fliehen; wie er, ein umgekehrter Prometheus, in die Wüste floh, weil er das Leben, sein wahres Leben liebte; wie er, ein anderer König Lear, in die Nacht stürmte und auf der Haide das Haar lieber den Winden und die Brust dem Unwetter preisgab, ehe er in das Haus der Seinen, die von ihm abgefallen waren, weil sie nie die Seinen gewesen, zurückkehrte; wie er unterwegs in einem kleinen Dorfbahnhof zusammenbrach und noch auf dem Totenbett einen Jähzornsanfall bekam, weil er sein gewohntes weiches Kissen unter dem Kopfe fand, das ihm die Tochter Cordelia untergeschoben hatte.

Heiliges Rußland! Dein Lew Nikolajewitsch ist kein Selbstgerechter gewesen! Er war ein Mann und ein Kämpfer, der mit größerer Kraft und innigerer Sehnsucht, als wir alle sie vermögen, nach der Reinheit und der Einheit des Lebens begehrt hat und der ein Erbe der alten Weisheit der großen Einsamen aller Zeiten gewesen ist; mild und schrecklich ist er gewesen und gegen keinen so streng wie gegen sich selbst. Als ein Milder und Schrecklicher ist er nun in die Geschichte eingegangen und ist für uns nicht mehr der Verfasser seiner Werke, sondern die Gestalt Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Großes, weites, unergründliches, wildes und inniges Rußland! Wenn je Propheten und heilige Männer waren, dann ist der aus ihrer Zahl, der jetzt von uns gegangen ist. Wir, die Heiden und die Völker, wir danken dir, daß du uns seinen köstlichen Anblick geschenkt hast! Wir danken dir, daß Tolstoi in uns lebt, in uns und unsern Kindern, in den Großen und in den Kleinen, wenn wir das unsere tun, um ein Leben der Ganzheit zu schaffen.

Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 23-24, 15.12.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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