Michael Bakunin - Die politische Macht und ihre Wesensäußerungen

Aus "Les ours de Berne et Tours de Saint-Petersburg" (1870)

Dies also ist das klarste Ergebnis unserer großen Errungenschaften von 1848. Die politische Zentralisation, welche die radikale Partei im Namen der Freiheit geschaffen hat, tötet die Freiheit. Es genügt, daß der Schweizer Bundesrat sich durch eine fremde Macht einschüchtern oder bestechen läßt, damit alle Kantone die Freiheit verraten. Es genügt ein Befehl des Bundesrates, daß alle Kanton-Behörden sich in die Gendarmen der Despoten verwandeln. Daraus folgt, daß die ehemalige Selbstverwaltung der Kantone die Freiheit und nationale Unabhängigkeit der Schweiz viel besser gesichert hat als das gegenwärtige System.

Wenn die Freiheit in manchen, früher sehr reaktionären Kantonen große Fortschritte gemacht hat, so ist das keineswegs eine Folge der neuen Machtbefugnisse, mit welchen die Konstitution von 1848 die Bundesregierung ausgestaltet hat; es ist dies einzig und allein der Entwickelung der Geister, dem Gang der Zeiten zu verdanken. Jeder Fortschritt, welcher sich innerhalb der Grenzen der Schweizer Eidgenossenschaft seit 1848 verwirklicht hat, war ein wirtschaftlicher Fortschritt, wie z.B. die Vereinheitlichung des Münzsystems und der Maße und Gewichte, die großen öffentlichen Arbeiten, die Handelsverträge usw.

Man wird sagen, daß die wirtschaftliche Zentralisation nur durch die politische Zentralisation erreichbar ist, daß eine die andere bedingt, daß beide gleich notwendig und wohltätig sind. Aber das ist nicht wahr. Die wirtschaftliche Zentralisation, eine notwendige Bedingung der Zivilisation, schafft Freiheit; (*) aber die politische Zentralisation tötet dieselbe, indem sie zum Nutzen der regierenden und agierenden Klassen das eigene Leben und das selbständige Handeln der Bevölkerung zerstört. Die Konzentration der politischen Gewalten kann nur Sklaverei erzeugen, denn Freiheit und Macht schließen sich gegenseitig unbedingt aus. Jede Regierung, sogar die demokratischeste, ist ein natürlicher Feind der Freiheit, und je konzentrierter und stärker sie ist, desto bedrückender ist sie. Das sind übrigens so einfache klare Wahrheiten, daß man sich beinahe schämt, dieselben zu wiederholen.

Wenn die schweizerischen Kantone noch unabhängig wären, so hätte der Bundesrat weder das Recht noch die Macht, dieselben zu Gendarmen fremder Mächte zu machen. Jedenfalls würde es sehr reaktionäre Kantone geben. Aber gibt es nicht auch heute solche? Gibt es nicht Kantone, in welchen man Menschen zur Prügelstrafe verurteilt, weil sie die Göttlichkeit Jesu Christi zu leugnen wagen, ohne daß sich der Bundesrat da hineinmischt. (**) Aber neben den reaktionären Kantonen würde es solche geben, die zum großen Teil vom Geiste der Freiheit durchdrungen sind, und deren Fortschritt der Bundesrat nicht mehr aufhalten könnte. Diese Kantone würden keineswegs von den reaktionären Kantonen zurückgehalten werden, sondern im Gegenteil, am Ende würden sie diese letzteren mit sich reißen. Denn die Freiheit ist ansteckend, und nur die Freiheit — nicht die Regierungen — kann die Freiheit scharfen.

Die heutige Gesellschaft ist tief überzeugt von dieser Wahrheit:daß jede politische Macht, was immer ihr Ursprung und ihre Form sein mögen, sich notgedrungen zur Willkürherrschaft, zum Despotismus entwickelt; in allen Ländern, wo sie sich nur einigermaßen befreien konnte, hat sie sich beeilt, die Regierungen, wenn dieselben auch aus der Revolution und der Wahl des Volkes hervorgegangen sind, einer möglichst strengen Aufsicht zu unterwerfen.

Sie hat das ganze Heil der Freiheit in der wahren und ernstlichen Organisation der Beaufsichtigung gesetzt, welche die Meinung und der Wille des Volkes über all jene Menschen ausübt, denen die öffentliche Macht anvertraut ist. In allen Ländern, welche eine repräsentative, parlamentarische Regierung haben, kann also die Freiheit nur dann wirklich bestehen, wenn diese Beaufsichtigung wirklich ist. Wenn hingegen diese Beaufsichtigung nur dem Schein nach besteht, so wird die Volksfreiheit auch nur zum bloßen Scheine.

Es läßt sich leicht beweisen, daß diese Beaufsichtigung nirgends in Europa wirklich ist. Wir wollen hier nur deren Betätigung in der Schweiz untersuchen; erstens weil sie uns am nächsten angeht, und zweitens, weil sie heute die einzige demokratische Republik in Europa ist (***) und so einigermaßen das Ideal der Volksherrschaft verwirklicht hat; was für sie gilt, muß demnach in noch viel stärkerem Maße für die anderen Länder gelten.

Die vorgeschrittensten Kantone der Schweiz haben um 1830 herum die Garantie der Freiheit im allgemeinen Wahlrecht gesucht. Es war dies eine vollkommen berechtigte Bewegung. Solange unsere gesetzgebenden Körperschaften nur von einer privilegierten Klasse von Staatsbürgern ernannt wurden, solange in Hinsicht des Wahlrechtes Verschiedenheiten zwischen der städtischen und ländlichen Bevölkerung, zwischen Patriziern und dem Volke bestanden, so lange konnte die Regierung, welche von diesen Körperschaften gewählt wurde, sowie die Gesetze, welche dieselben brachten, keinen anderen Zweck haben, als die Herrschaft einer Aristokratie über die Nation zu sichern und zu regeln. Es war also im Interesse der Volksfreiheit notwendig, dieses Regime zu stürzen, und es durch jenes der Volkssouveränität zu ersetzen.

Als einmal das allgemeine Wahlrecht verwirklicht war, glaubte man die Freiheit der Bevölkerung gesichert zu haben. Nun, dies war eine große Täuschung. Und man kann sagen, daß das Bewußtsein dieses Irrtums in mehreren Kantonen den Sturz, in allen die Demoralisation der radikalen Partei herbeigeführt hat.

Die Verfechter des allgemeinen Wahlrechtes, die Radikalen, haben zwar nicht absichtlich das Volk betrügen wollen, wie es unsere sogenannte liberale Presse behauptet; aber sie haben sich selbst betrogen. Es war wirklich ihre Ueberzeugung, als sie dem Volke durch das allgemeine Wahlrecht die Freiheit versprachen, und voll von dieser Überzeugung hatten sie die Kraft, die Massen zur Erhebung zu bringen und die bestehenden aristokratischen Regierungen zu stürzen. Heute, nachdem sie durch die Erfahrungen und die Macht gewitzigt worden sind, haben sie diesen Glauben an sich selbst und an ihr eigenes Prinzip verloren, und darum sind sie niedergeschlagen und bis ins Innerste verdorben.

Und wahrlich, die Sache schien so natürlich und so einfach: Wenn einmal die gesetzgebende und gesetzvollstreckende Gewalt unmittelbar aus der Wahl des Volkes hervorgeht, mußte sie dann nicht der reine Ausdruck des Volkswillens werden, und konnte das Ergebnis dieses Willens etwas anderes sein als die Freiheit und der Wohlstand des Volkes?

Die ganze Lüge des Volksvertretungs-Systems ruht auf dieser falschen Annahme, daß eine Regierung und eine gesetzgebende Körperschaft, welche durch das Volk gewählt wird, unbedingt den wahren Willen des Volkes vertritt oder auch nur vertreten kann. Das Volk will, in der Schweiz wie anderswo, notgedrungen, instinktiv, zwei Sachen: den möglichst großen, materiellen Wohlstand, mit der möglichst großen Freiheit des Daseins, des eigenen Bewegens und Handelns; d.h., die beste Organisation seiner wirtschaftlichen Interessen, und die vollständige Abwesenheit von jeder Regierung, jeder politischen Organisation — da jede politische Organisation unvermeidlich zur Verneinung seiner Freiheit führt. Dies ist das wahre Wesen aller Volksbestrebungen.

Die Gefühle und Bestrebungen jener, die regieren — ob sie Gesetze bringen oder dieselben vollstrecken, bleibt sich gleich — sind, gerade wegen ihrer Ausnahmstellung, direkt entgegengesetzt. Wie immer demokratisch ihre Gefühle und ihre Absichten sein mögen, so können sie von der Höhe, auf welcher sie sich befinden, die Gesellschaft doch nicht anders auffassen als wie ein Erzieher seinen Zögling auffaßt. Aber zwischen Erzieher und Zögling kann keine Gleichheit bestehen. Auf der einen Seite ist ein Gefühl der Oberhoheit, welches sich unvermeidlich durch die höhere Stellung entwickelt; auf der anderen Seite das Gefühl einer Erniedrigung, entspringend aus der Oberherrschaft des Erziehers, der entweder die vollstreckende oder die gesetzgebende Gewalt ausübt. Wer von der politischen Macht spricht, der meint die Herrschaft; aber wo Herrschaft besteht, muß es notwendigerweise einen größeren oder kleineren Teil der Gesellschaft geben, welcher beherrscht wird und jene, die beherrscht sind, hassen instinktiv diejenigen, welche sie beherrschen, während die Herrschenden notgedrungen diejenigen in Schranken halten, also unterdrücken müssen, welche ihrer Herrschaft unterworfen sind.

Dies ist die ewige Geschichte der politischen Macht, seitdem diese Macht auf der Erde besteht. Dies erklärt es auch, warum jene Menschen, die die rötesten Demokraten, die wütendsten Rebellen waren, so lange sie sich in der Masse der beherrschten befanden, sich zu äußerst gemäßigten Konservativen umwandeln, sobald sie zur Herrschaft emporgestiegen sind. Solche Meinungswechsel werden gewöhnlich dem Verrat zugeschrieben. Das ist ein Irrtum; ihre Hauptursache ist die Veränderung im Gesichtspunkt und der Stellung; und vergessen wir nie, daß die Lebensstellung des Menschen und die Notwendigkeiten, welche sie ihm aufzwingt, immer stärker sind, als der persönliche Haß oder schlechte Wille.

Von dieser Wahrheit durchdrungen, fürchte ich mich nicht, meine Überzeugung zu verkünden, daß, wenn man morgen eine Regierung, eine gesetzgebende Körperschaft, ein Parlament schaffen würde, die ausschließich aus Arbeitern bestehen, diese Arbeiter, die heute stramme Sozialdemokraten sind, übermorgen zu entschiedenen Aristokraten werden würden, die offen oder versteckt dem Prinzip der Autorität huldigen und das Volk ausbeuten und unterdrücken. Ich sage darum: Man muß alles, was politische Macht genannt wird, im Prinzip und in Wirklichkeit vollkommen abschaffen; denn solange eine politische Macht besteht, wird es Herrschende und Beherrschte, Herren und Sklaven, Ausbeuter und Ausgebeutete geben.

Wenn die politische Macht einmal abgeschafft ist, muß man sie durch die freie Organisation der produktiven Kräfte und der wirtschaftlichen Arbeit ersetzen.

Anmerkungen:
*) Zur besseren Erklärung dieses Satzes sei konstatiert: Bakunin meint damit das einheitliche, freiwillige Zusammenwirken der wirtschaftlichen Kräfte, im Gegensatze zur Zersplitterung und die daraus erfolgende Verschwendung derselben, die entstehen würde, wenn sich z.B. eine jede Gruppe von Produzenten von den übrigen abschließen wollte, jeder Einzelne für sich allein arbeiten wollte. Man mißverstehe aber seinen Satz nicht so, als ob Bakunin die Regelung der Produktion durch eine Zentralleitung oder das Zusammenpferchen einzelner Industrien an einigen Teilen des Landes auf Kosten von dessen Gesundheit und Schönheit und Vernachlässigung der natürlichen Ertrags- und Arbeitsfähigkeit der übrigen Teile gemeint hätte, wie dies heutzutage geschieht, um der Profitgier der Kapitalisten zu dienen; oder, wie die Marxisten, die diese Profitgier in "historische Gesetze" und "ökonomische Kategorien" verwandelt haben, es meinen, um eine gewisse Entwicklungslinie zu verfolgen, da wir sonst keinen Sozialismus bekämen. Die Red.
**) Auch dies ist noch nicht überholt. Aber, um auf einen unmittelbareren Umstand der neuesten Schweizer "Freiheit" hinzuweisen, gemahnen wir daran, daß unser Kamerad, der Anarchist Senna Hoy, in einem Schweizer Gefängnis mittels eines Gummischlauches geschlagen wurde! Die Red.
***) Dies ist vor 1870 geschrieben, als Frankreich noch ein Kaiserreich war. Die Red.

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 3. Jahrgang, Nr. 2, September 1908. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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