Zum 100. Todestag von Michael Bakunin

Michael Bakunin, der am 1. Juli 1876 in Bern starb, hat kein umfassendes systematisches literarisches Werk hinterlassen. Er war ein Mann der Aktion, der an fast allen Revolutionen und Rebellionen seiner Zeit aktiv teilgenommen hat.

13 Jahre verbrachte er in preussischer, österreichischer und russischer Gefangenschaft. Doch zeugen seine Gelegenheitsschriften und Fragmente von einem originellen Denken, das sich mit den philosophischen und sozialideologischen Strömungen seiner Zeit intensiv und temperamentvoll auseinandergesetzt hat.

Aus seinen Schriften, die in der vom Syndikalistverlage 1921 vorgenommenen Auswahl im Karin-Kramer-Verlag neu herausgekommen sind, drucken wir einige uns wesentlich erscheinende Gedanken über Freiheit und Autorität ab:

Aus dem revolutionären Katechismus:

"Die Freiheit ist das absolute Recht aller erwachsenen Männer und Frauen, für ihre Handlungen keine andere Bewilligung zu suchen, als die ihres eigenen Gewissens und ihrer eigenen Vernunft, nur durch ihren eigenen Willen zu ihren Handlungen bestimmt zu werden, und folglich nur verantwortlich zu sein zunächst ihnen selbst gegenüber, dann gegenüber der Gesellschaft, der sie angehören, aber nur insoweit, als sie ihre freie Zustimmung dazu geben, ihr anzugehören.

Es ist nicht wahr, dass die Freiheit eines Individuums durch die Freiheit aller anderen begrenzt wird. Der Mensch ist nur in dem Grade wirklich frei, in welchem seine von dem freien Gewissen aller andern frei anerkannte und von ihm wie aus einem Spiegel zurückstrahlende Freiheit in der Freiheit der andern Bestätigung und Ausdehnung ins Unendliche hin findet. Der Mensch ist nur unter in gleicher Weise freien Menschen wirklich frei und da er nur in seiner Eigenschaft als Mensch frei ist, ist die Knechtschaft eines einzigen Menschen auf der Erde, als Verletzung des Prinzips der Menschheit selbst, eine Negierung der Freiheit Aller."

Aus "Gott und der Staat":

"Folgt hieraus, dass ich jede Autorität verwerfe? Dieser Gedanke liegt mir fern. Wenn es sich um Stiefel handelt, wende ich mich an die Autorität des Schusters; handelt es sich um ein Haus, einen Kanal oder eine Eisenbahn, so befrage ich die Autorität des Architekten oder des Ingenieurs. Für irgendeine Spezialwissenschaft wende ich mich an diesen oder jenen Gelehrten.

Aber weder der Schuster, noch der Architekt und der Gelehrte dürfen mir ihre Autorität aufzwingen. Ich höre sie frei an und mit aller ihrer Intelligenz, ihrem Charakter ihrem Wissen gebührender Achtung, behalte mir aber mein unbestreitbares Recht der Kritik und der Nachprüfung vor. Ich begnüge mich nicht, eine einzige Spezialautorität zu befragen, ich befrage mehrere, vergleiche ihre Meinungen und wähle die, die mir die richtigste zu sein scheint. Aber ich erkenne keine unfehlbare Autorität an, selbst nicht in ganz speziellen Fragen; folglich, welche Achtung ich auch immer für die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit einer Person habe, setze ich in niemand unbedingten Glauben. Ein solcher Glauben wäre verhängnisvoll für meine Vernunft, meine Freiheit und den Erfolg meines Unternehmens, er würde mich sofort in einen dummen Sklaven und ein Werkzeug des Willens und der Interessen anderer verwandeln.

Wenn ich mich vor der Autorität von Spezialisten beuge und bereit bin, ihren Angaben und selbst ihren Leitungen in gewissem Grade und solange es mir notwendig erscheint zu folgen, tue ich das, weil diese Autorität mir von niemand aufgezwungen ist, nicht von den Menschen und nicht von Gott. Sonst würde ich sie mit Abscheu zurückweisen und ihre Ratschläge, ihre Leitung und ihre Wissenschaft zum Teufel jagen, in der Gewissheit, dass sie mich die Brocken menschlicher Wahrheit, die sie mir geben können, in viele Lügen eingehüllt, durch den Verlust meiner Freiheit und Würde bezahlen lassen. Ich neige mich vor der Autorität von Spezialisten, weil sie mir von meiner eigenen Vernunft auferlegt wird. Ich bin mir bewusst, dass ich nur einen sehr kleinen Teil der menschlichen Wissenschaft in allen Einzelheiten und positiven Entwicklungen umfassen kann.

Die grösste Intelligenz genügt nicht, alles zu umfassen. Daraus folgt für die Wissenschaft wie für die Industrie die Notwendigkeit der Arbeitsteilung und Vereinigung.

Ich empfange und ich gebe, so ist das menschliche Leben.

Jeder ist abwechselnd leitende Autorität oder Geleiteter.

Es gibt also keine ständige und festgelegte Autorität, sondern einen beständigen Wechsel von gegenseitiger Autorität und Unterordnung, die vorübergehend und vor allem freiwillig ist.

Diese gleiche Ursache verbietet mir also, eine feste, beständige und allgemeine Autorität anzuerkennen, weil es keinen universellen Menschen gibt, der imstande wäre, mit jedem Reichtum an Einzelheiten, ohne den die Anwendung der Wissenschaft auf das Leben nicht möglich ist, alle Wissenschaften, alle Zweige des sozialen Lebens zu umfassen. Und wenn es möglich wäre, dass eine solche Universalität je in einem einzigen Mann verwirklicht würde, und wenn er sich derselben bedienen wollte, um uns seine Autorität aufzuzwingen, so müsste man diesen Mann aus der Gesellschaft jagen, weil seine Autorität unvermeidlich alle anderen zur Sklaverei und zum Schwachsinn herabdrücken würde.

Ich meine nicht, dass die Gesellschaft Männer von Genie misshandeln soll, wie sie es bis jetzt getan hat. Aber ich meine ebensowenig, dass sie sie zu fett machen, vor allem ihnen irgendwelche Vorrechte oder ausschliesslichen Rechte einräumen soll, und dies aus drei Ursachen: Erstens weil es ihr oft vorkommen würde, einen Marktschreier für einen Mann von Genie zu halten; dann weil sie durch dieses System von Vorrechten selbst ein wahres Genie in einen Quacksalber verwandeln, demoralisieren, dummachen kann, und endlich, weil sie sich einen Despoten geben würde.

Ich fasse zusammen. Wir erkennen also die unbedingte Autorität der Wissenschaft an, weil die Wissenschaft keinen anderen Gegenstand hat, als die sorgfältige und möglichst systematische Wiedergabe der im materiellen, geistigen und moralischen Leben der physischen und sozialen Welt liegenden Naturgesetze; diese beiden Welten bilden tatsächlich nur ein und dieselbe natürliche Welt. Ausserhalb dieser Autorität, der einzig rechtmässigen, weil vernünftigen, und der menschlichen Freiheit entsprechenden, erklären wir alle anderen Autoritäten für lügenhaft, willkürlich, despotisch und verhängnisvoll.

Wir erkennen die unbedingte Autorität der Wissenschaft an, aber wir weisen die Unfehlbarkeit und Universalität der Vertreter der Wissenschaft zurück. In unserer Kirche - man erlaube mir einen Augenblick, dieses Wort zu gebrauchen, das ich im übrigen verabscheue; beide, Staat und Kirche sind mir unausstehlich -, in unserer Kirche, wie in der protestantischen Kirche haben wir ein Oberhaupt, einen unsichtbaren Christus, die Wissenschaft, und - wie die Protestanten, sogar konsequenter als die Protestanten, wollen wir in derselben weder Papst, noch Konzile, noch Versammlungen unfehlbarer Kardinäle, noch Bischöfe und selbst keine Priester dulden. Unser Christus unterscheidet sich von dem protestantischen und christlichen Christus darin, dass letzterer ein persönliches Wesen und unserer unpersönlich ist; der christliche Christus, der schon in einer ewigen Vergangenheit zur Vollendung gelangte, stellt sich als vollkommenes Wesen dar, während die Vollendung und Vervollkommnung unseres Christus, der Wissenschaft, immer in der Zukunft liegen, was soviel heisst, als dass sie nie zur Verwirklichung gelangen wird.

Wenn wir nur die unbedingte Autorität der absoluten Wissenschaft anerkennen, setzen wir also in keiner Weise unsere Freiheit aufs Spiel. Ich verstehe unter "absoluter Wissenschaft" die wirkliche universelle Wissenschaft, die das Universum, das,System oder die Zusammenordnung aller sich in der beständigen Entwicklung der Welten äussernden Naturgesetze, in seiner ganzen Ausdehnung und all seinen unendlichen Einzelheiten ideal wiedergeben würde. Es ist klar, dass diese Wissenschaft, das erhabenste Ziel aller Anstrengungen des menschlichen Geistes, nie in absoluter Vollständigkeit verwirklicht werden wird. Unser Christus wird also ewig unvollendet bleiben, was den Stolz seiner bevorrechteten Vertreter unter uns bedeutend vermindern muss. Gegen diesen Sohn Gottes, in dessen Namen sie uns ihre unverschämte und pedantische Autorität aufzulegen die Anmassung haben würden, werden wir uns auf Gott den Vater berufen, der die wirkliche Welt, das wirkliche Leben ist, von denen jener nur der nur allzu unvollkommene Ausdruck ist, und deren unmittelbare Vertreter wir selbs sind, - die lebenden Wesen, die wir leben, arbeiten, kämpfen, lieben, streben, geniessen und leiden.

Aber während wir die unbedingte, universelle und unfehlbare Autorität der Männer der Wissenschaft zurückweisen, beugen wir uns gern vor der achtenswerten, aber relativen und sehr vorübergehenden, sehr beschränkten Autorität der Vertreter der Spezialwissenschaften und verlangen nichts besseres, als sie zu befragen, wenn die Reihe an sie kommt, sehr dankbar für die wertvollen Fingerzeige, die sie uns geben, unter der Bedingung, dass sie selbst bereit sind, von uns gleich Angaben anzunehmen über Dinge und in Fällen, in denen wir gelehrter sind als sie. Im Allgemeinen ist es uns ganz erwünscht, zu sehen, dass Männer von grossem Wissen, grosser Erfahrung, grossem Geist und vor allem grossen Herzens auf uns einen natürlichen, rechtmässigen, frei angenommenen Einfluss ausüben, der nie im Namen irgendeiner Autorität auferlegt wird. Wir nehmen alle natürlichen Autoritäten und Einflüsse an, die im Wesen der Sache nicht aber im Recht liegen; denn jede im Recht liegende und daher offiziell auferlegte Autorität und jeder Einfluss dieser Art wird sofort Unterdrückung und Lüge und würde uns unfehlbar, wie ich hinreichend bewiesen zu haben glaube, Sklaverei und Unsinn aufzwingen.

Mit einem Wort, wir weisen alle privilegierte, patentierte, offizielle und legale Gesetzgebung, Autorität und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen sind, in der Überzeugung, dass sie immer nur zum Nutzen einer herrschenden und ausbeutenden Minderheit gegen die Interessen der ungeheuren geknechteten Mehrheit sich wenden können.

In diesem Sinne sind wir wirklich Anarchisten."

Originaltext: Akratie Nr. 6, Sommer 1976. Korrekturen von Ue zu Ü etc.  Digitalisiert von www.anarchismus.at


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