Über Noam Chomsky - Die politische Ökonomie der Menschenrechte (Buchbesprechung)

Zum 70. Geburtstag von Noam Chomsky im Dezember 1998 hat der Übersetzer Michael Schiffmann eine Reihe von Essays, Vorträgen und Artikel der letzten beiden Jahre aus dem Z-Magazin zu aktuellen politischen Themen ausgewählt, die sich, wie bei Noam Chomsky gewohnt, kritisch mit den Hintergründen der Politik auseinandersetzen. Die politischen Ökonomie der Menschenrechte ist der momentan im deutschsprachigen Raum wohl aktuellste Überblick über Chomskys Ideen und Analysen.

Michael Schiffman - Die politische Ökonomie der Menschenrechte

Die vorliegende Sammlung von Interviews, Vorträgen und Essays Noam Chomskys aus den Jahren 1996 - 1998 entstand aus einem doppelten Anlass: Chomskys siebzigstem Geburtstag am 7. Dezember 1998 und dem 50. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1998.

Seit Noam Chomsky, dessen Weltruf sich ursprünglich auf seine umwälzenden Beiträge zur modernen Linguistik gründet, 1964 anfing, zusätzlich zu seiner Tätigkeit als Sprachwissenschaftler ein Doppelleben als politischer Kommentator und Aktivist zu führen, zieht sich die Spannung zwischen der Darstellung der politisch-sozialen Wirklichkeit und der Analyse der propagandistisch verzerrten Widerspiegelung dieser Realität in den Medien wie ein roter Faden durch sein Werk. Auch in seinem jetzt neu erscheinenden Buch knüpft Chomsky beständig an der Präsentation der Welt in Medien und Ideologie an, um von dort zu den realen Verhältnissen von ökonomischer Ausbeutung und wirtschaftlicher, sozialer und politischer Macht vorzustoßen, die heute die internationale Ordnung und die gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb der einzelnen Länder bestimmen.

Um welche Ordnung und um was für Verhältnisse handelt es sich dabei? Mit dem Aufkommen neuer Kommunikationstechnologien im Verlauf der letzten Jahrzehnte und dem Zusammenbruch der Ostblockstaaten Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre fielen die letzten Schranken für eine weltweite Entfaltung des westlichen Kapitalismus fort. Begleitet wurde und wird diese Entwicklung von einer neoliberalen Wirtschaftsideologie, deren Hauptaussage im wesentlichen in dem Satz: "Wer arm ist, ist selbst schuld" besteht. Auf der politischen Ebene gerieren sich die westlichen Staaten, allen voran die USA, als "Wahrer der Menschenrechte", die sie angeblich gegen bestimmte "Schurkenstaaten" verteidigen. Dementsprechend sind die ersten beiden Kapitel von Chomskys Buch einer vergleichenden Untersuchung dieser Menschenrechtsposse gewidmet. Chomsky macht zunächst auf eine Tatsache aufmerksam, die im westlichen "Menschenrechtsdiskurs" gern unterschlagen wird: "Die Bestimmungen und Forderungen der Erklärung sind alle gleichermaßen gültig." Zu den Rechten, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 niedergelegt sind, gehören aber nicht nur die politischen, sondern auch die sozialen Menschenrechte. Diese stehen allerdings in frontalem Widerspruch zur Ideologie des Neoliberalismus, für den die wachsende Verarmung immer größerer Teile der Welt ohne jedes Interesse ist, solange seine Hauptkennziffern Bruttosozialprodukt und Unternehmensgewinne stimmen. Die weitere Öffnung der Reichtumsschere zwischen den zwanzig Prozent der ärmsten und den zwanzig Prozent der reichsten Ländern in den letzten 30 Jahren auf das Doppelte (von 1:30 auf 1:60) und die Tatsache, dass hunderte von Millionen Menschen absolut ärmer geworden sind, stellen aus dieser Sicht keine Verschlechterung der Menschenrechtssituation dar – ebenso wenig wie der Widerstand der Betroffenen als ein Menschenrecht angesehen wird. Die "Relativität der Menschenrechte" (so der Titel des ersten Kapitels) wird aber auch noch in anderer Hinsicht praktiziert. Wenn man die von der Regierungspolitik und den Medien im Westen besonders gebrandmarkten Verletzer der politischen Menschenrechte mit den Berichten etwa von Amnesty International vergleicht, fällt auf, dass die Empörung der westlichen Staaten über die Missachtung dieser Rechte hochgradig selektiv ist. An erster Stelle, so Chomsky ist dabei festzuhalten, dass "sie selbst sowie ihre Partner und Klienten auf der Liste der Angeklagten ... regelmäßig fehlen." Imperiale Massenschlächtereien wie der französische Indochinakrieg mit 500.000 Toten, der Algerienkrieg mit 300.000 Toten, die amerikanischen Indochinakriege mit 3-4 Millionen Toten oder die israelische Libanoninvasion mit 20.000 Toten machen die entsprechenden Ländern keineswegs zu medienträchtigen "Schurkenstaaten". So konnte einer der schärfsten liberalen Kritiker des Vietnamkrieges in den USA, Anthony Lewis, diesen in der New York Times noch 1969, als der Krieg bereits ins fünfte Jahr ging, als "stümperhaften Versuch, Gutes zu tun", bezeichnen, der sich indes in einen "verheerenden Fehler" verwandelt habe.

Und Chomsky zeigt an einer Reihe von Beispielen, dass dies nicht nur für die westlichen Länder selbst, sondern auch für ihre "Klienten" gilt. Während die Terrorstaaten Mittelamerikas in der liberalen Presse der USA als "flügge werdende Demokratien" bezeichnet wurden, denen man bei diesem lobenswerten Prozess unbedingt helfen müsse, bestand die Reaktion auf den Völkermord, den das mit den USA verbündete Indonesien in Osttimor beging, lange Zeit in völligem Schweigen. Dasselbe Schweigen herrschte, als Saddam Hussein, damals noch Verbündeter der USA, 1988 in Halabja 5.000 Kurden vergaste; genau die Bilder aber, deren Authentizität das amerikanische Außenministerium damals bestritt, wurden später, als Saddam sich mit der Besetzung Kuwaits in einen Feind verwandelt hatte, verwendet, um die unaussprechliche Brutalität der "Bestie von Bagdad" anzuprangern. Der schreiende Widerspruch zwischen der gewalttätigen Reaktion des Westens auf die Brutalität des Milosevic-Regimes gegenüber den Albanern des Kosovo und der gleichzeitigen Unterstützung der Unterdrückung und Massakrierung der Kurden in der Türkei durch massive Rüstungslieferungen könnte als jüngstes Beispiel für das Prinzip genannt werden, das Chomsky bei der Behandlung von Menschenrechtsfragen durch den Westen am Werk sieht: "Kurz, das Engagement für die Menschenrechte ist instrumenteller Natur. Wenn sie bestimmten Interessen dienen, sind sie wichtig und werden als bedeutendes Ideal präsentiert; ansonsten herrscht das pragmatische Kriterium" - bei dem nur danach gefragt wird, ob "das Engagement für die Menschenrechte" die eigene politische und ökonomische Macht befördert oder nicht.

Denjenigen, die gegenüber dieser Verhaltensmaxime der westlichen Politik auf die aufklärerische Kraft unserer vom Staat unabhängigen Medien setzen, macht Chomsky in seinem Kapitel über die Medien "Warum die Mainstreammedien Mainstream sind" wenig Hoffnung. Seiner Ansicht nach führt eine Analyse der institutionellen und ideologischen Strukturen der Medien sowie ihres Outputs zu dem Ergebnis, dass sie ebenso sehr von der heute eigentlich herrschenden Macht, nämlich den Wirtschaftsunternehmen beherrscht sind, wie das gesellschaftliche und politische Leben insgesamt.

Ein solches Bild der Verhältnisse in der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges könnte erdrückend wirken, wäre da nicht das Vertrauen, das Chomsky in die moralischen und intellektuellen Fähigkeiten ganz normaler Menschen, sprich, der Mehrheit der Bevölkerung setzt, die normalerweise bei den wichtigen Entscheidungen von Politik und Wirtschaft wenig mitzureden hat. Wie eine wirklich demokratische Politik aussehen könnte, diskutiert Chomsky in einem langen Interview mit David Barsamian über den "Kampf um die Erweiterung des Freiraums im Käfig". Darin spricht er über den Massenwiderstand gegen die herrschende neoliberale Politik, den es, vor allem in der Dritten Welt, sehr wohl gibt, auch wenn wir aus den Medien wenig darüber erfahren. Den Stein der Weisen, den archimedischen Punkt einer endlich gefundenen "richtigen" Strategie, nach dem die elitären Teile der Linken immer suchen, gibt es Chomsky zufolge nicht. Statt dessen muss die Tätigkeit einer demokratischen Linken immer darauf gerichtet sein, die autonome Organisation der Menschen selbst zu erleichtern. Chomsky ist der Auffassung, dass Intellektuelle wie er selbst die Aufgabe haben, ihre privilegierte Position zu nutzen, um der Bevölkerung die Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihr selbst ermöglicht, für die Erweiterung ihrer Rechte und Freiheiten einzutreten. Von der Meinung zahlreicher, von ihm ausgiebig zitierter westlicher Demokratietheoretiker, die "stumpfe Masse" der Bevölkerung sei unfähig, ihre Interessen selbst zu beurteilen, hat Chomsky sich immer energisch abgegrenzt. Der aufgrund seiner scharfen Kritik westlicher Ideologie und Politik verschiedentlich gegen ihn erhobene Vorwurf des "Stalinismus" geht an Chomskys tatsächlicher Position völlig vorbei. Chomsky ist immer der Auffassung gewesen, die öffentliche Verantwortung des Intellektuellen bestehe darin, die Lügen und Verbrechen der herrschenden Kräfte im eigenen Land oder Machtblock anzuprangern, was mit einer Verteidigung der Standpunkte "gegnerischer" Mächte nicht das geringste zu tun hat. Ganz im Gegenteil sieht Chomsky, was die Verachtung der breiten Masse und ihren Ausschluss aus den wesentlichen Entscheidungsprozessen betrifft, starke Parallelen zwischen dem westlichen Liberalismus und seinem nunmehr geschlagenen Gegner, dem Kommunismus (oder wie Chomsky sagt, "Leninismus"). Seine eigene Position stellt er dezidiert in die Tradition der - durch sozialistische Ideale bereicherten - Aufklärung. Die Lösung für die politischen, wirtschaftliche und sozialen Krisen unserer Zeit sieht er in einer Vision, die man als "Anarchismus mit Vorbehalt" bezeichnen könnte: Da die Ausübung von Autorität und Zwang, seien sie nun wirtschaftlicher, politischer, kultureller oder sonstiger Natur, immer eine Einschränkung der menschlichen Freiheit bedeute, bedürfe jede derartige Einschränkung der Rechtfertigung, und eine solche Rechtfertigung, so Chomsky, "kann nur in den seltensten Fällen gegeben werden".

Originaltext: http://www.txt.de/trotzdem/titel/ch_70.htm (überarbeitet und neue Rechtschreibung)


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