Memoiren eines Revolutionärs - Anarchistische Anmerkungen anlässlich ihrer Neuauflage (Buchbesprechung)

Teilweise aus dem Englischen neu übersetzt, werden sie von Heinrich Becker und Nicolaus Walter kundig eingeleitet. Sie sind mit erläuternden Anmerkungen und einem Personenregister versehen. All das ist uneingeschränkt zu loben (beckmesserisch wenige, immer schier unvermeidliche Druckfehler und Übersetzungsholprigkeiten herauszuklauben, kann ich mir und den hoffentlich vielen geneigten neuen Leserinnen und Lesern ersparen). Die Einleitung weist darauf hin, dass es eine historisch kritische Ausgabe der Ende des 19. Jahrhunderts ursprünglich englisch publizierten Memoiren nach wie vor nicht gibt. Die Herausgeber machen außerdem auf manche Auslassungen, Retouchen und Widersprüche von Kropotkins Werk und der schon im 57. Lebensjahr abgeschlossenen Memoiren nüchtern und behutsam aufmerksam. (2) Warum lohnen diese "Memoiren eines Revolutionärs", wie sie Kropotkin über zwanzig Jahre vor seinem Tod während seines langen Aufenthalts in England selbst genannt hat, ein Titel, der zu ironischen Glossen geradezu auffordert?

Zum einen erleichtern sie es, Spuren aufzufinden, die einen der wenigen prominenten Anarchisten dazu geführt haben, sich in eine Position des bewussten Außenseiters zu begeben (a). Zum anderen vermittelt diese Autobiographie Einsichten in das Russland der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und in einer der frühen Phasen der anarchistischen Internationale (2) (b). Zum dritten besitzen diese Lebenserinnerungen, jedenfalls zu beträchtlichen Teilen einen erheblichen literarischen Rang (c). Zum vierten schließlich regen sie dazu an, und geben manche Nahrung dafür, über die "Sprüche", sprich die 'Wirklichkeitskraft' und die Widersprüche seinerzeitigen und, soweit davon gesprochen werden kann, heutigen Anarchismus sich Rechenschaft abzulegen - so man sich, wie dies für den Verfasser gilt, selbst - lose und verbindlich zugleich, also anarchistisch - in die anarchistische Tradition einreiht (d) .

a) Anarchistische Motive

Dass Kropotkin zum Anarchisten geworden ist, ist angesichts seiner Geburt im Schosse des russisch-zaristischen Hochadels, der Art, wie er als Page nahe dem zaristischen Hof aufgewachsen ist und all den 'normalen' und 'anormalen' Karrierechancen, die ihm offen standen oder seinem Talent griffnah winkten, unwahrscheinlich. 'Normal' im Sinne von standesgemäß, wäre eine militärische Führungsposition gewesen verbunden mit seinem Erbe als Großgrundbesitzer. 'Anormal', indes seinen bald gezeigten naturwissenschaftlichen Talenten entsprechend, wäre es gewesen, er hätte, die fast schon gebahnte Karriere eines später nobelpreisverdächtigen Geologen und Geographen gewählt.

Beide Karrieren hat er bewusst ausgeschlagen. Warum er dies nicht getan hat, was alle nicht weiter auffälligen, jedoch zeitmächtigen Adeligen oder auch Wissenschaftler getrieben haben, wird sich auch vom besten (Auto-)Biographen nie restlos ermitteln lassen. Das gehört in die Geheimnisse der individuellen Habitus- und Bewusstseinsentwicklung allen allgemeinen Kontextfaktoren von der Familie bis zur Gesamtgesellschaft und allen unvermeidlichen 'Zufällen', sprich nicht allgemein erklärbaren Konstellationen zum Trotz.

Indes: lebhafte Spuren finden sich in den Memoiren. Ich greife einige derselben isoliert heraus. Danach suche sie, zu einer möglichen Spurlinie zu verbinden. "Die höhere Mathematik nahm auch viel von meiner Zeit in Anspruch", berichtet K (hinfort für Kropotkin) über seine Schulzeit im Pagenkorps des Zaren." Mehrere von uns hatten schon beschlossen, dass wir nicht ins Garderegiment eintreten wollten, wo unsere ganze Zeit durch den Militärdrill und durch Paraden ausgefüllt gewesen wäre, sondern wir wollten nach der fälligen Beförderung zu einer der Militärhochschulen, - der Artillerie oder der Pioniere. Dazu mussten wir uns aber erst in höherer Geometrie hinreichend vorbereiten, in der Differentialrechung und in den Anfängen der Integralrechnung, und wir nahmen zu diesem Zweck Privatstunden. Gleichzeitig vertiefte ich mich - ganz besonders während meines letzten Schuljahres - in die Lektüre astronomischer Werke, da uns die Grundlagen der Astronomie als 'mathematische Geographie' gelehrt wurden. Das nie endende Leben des Weltalls, das ich als Leben und Evolution empfand, wurde für mich zu einer unerschöpflichen Quelle höheren poetischen Denkens, und Schritt für Schritt wurde das Gefühl der Einheit des Menschen mit der belebten wie der unbelebten Natur - die Poesie der Natur - meine Lebensphilosophie" (S.142).

Dieses Bildungserlebnis, der - wie man heute sagte - holistische Hintergrund von Ks Natur-, Gesellschafts- und Anarchismusvorstellung bestätigt K am Anfang seiner abgebrochenen Karriere als Geograph. "Es gibt nicht viele Glückgefühle im menschlichen Leben, die dem gleichen, das wir empfinden, wenn wir nach langem geduldigen Forschen plötzlich begreifen, dass wir so etwas wie eine allgemeine Wahrheit gefunden haben. Was lange Jahre so chaotisch, so widersprüchlich und so unbegreiflich schien, nimmt auf einmal die ihm zukommende Position in einem harmonischen Ganzen ein. Aus einem Durcheinander von Tatsachen tritt aus dem Nebel von Vermutungen, die, kaum geäußert, schon widerlegt sind und verworfen werden müssen, ein formvollendetes Bild hervor, einer Alpenkette gleich, die plötzlich in ihrer ganzen Großartigkeit aus dem sie eben noch verhüllenden Nebel auftaucht und im Glanz der Sonne in all ihrer Einfachheit und Vielfältigkeit, all ihrer Gewaltigkeit und Schönheit vor uns liegt. Und wenn man diese Theorie dann testet, indem man sie auf Hunderte einzelner Fakten anwendet, die zuvor noch hoffnungslos widersprüchlich zu sein schienen, nimmt jedes auf einmal seinen ihm zustehenden Platz ein, wodurch das Beeindruckende des Bildes dann verstärkt, eine charakteristische Umrisslinie noch hervorgehoben, ein übersehenes, aber bedeutungsvolles Detail ergänzt wird" (261f.). Es folgt das Bedauern, diese "die Freude" sei herrschaftlich verursachter Weise "nur einer kleinen Handvoll Menschen" möglich.

In diesem Kontext, angeregt von zeitgenössischen intellektuellen, spezifisch russischen Stimmungen der "Volksnähe", "Des-ins-Volks-gehens" der Umschlag. "Aber welches Recht hatte ich auf diese höheren Freuden, wenn es um mich herum nichts als Elend und Kampf um ein schimmelndes Stückchen Brot gab; wenn all das, was ich ausgeben musste, um in dieser Welt erhabener Gefühle zu leben, notwendigerweise denen geradeweg vom Munde weggenommen werden musste, die den Weizen anbauen und selbst kein Brot für ihre Kinder hatten? Von irgend jemandes Mund musste es weggenommen werden, da die Gesamtproduktion der Menschheit noch zu klein ist. Wissen ist eine ungeheure Macht. (...). Die Massen wollen wissen: sie wollen lernen, sie können auch lernen (...). Das ist die Richtung, in die ich, und das sind die Leute, für die ich arbeiten muss! All diese hohlen Phrasen vom Arbeiten für den Fortschritt der Menschheit, während die Fortschrittsmacher sich gleichzeitig weit entfernt von denen halten, die sie voranzubringen vorgeben, sind nichts als Sophismen, ausgedacht von Köpfen, die nur das Bewusstsein eines schmerzlichen Widerspruchs abschütteln wollen. Also sandte ich meine ablehnende Antwort an die Geographische Gesellschaft" (275 f.).

Noch steht ein Wachstums- und Entscheidungsring aus. Dieser stülpt sich aus im Verlauf der ersten, westwärts gerichteten Auslandsreise Ks im Umkreis der Genfer Sektion der 1. Internationalen und der anarchistischen Gruppen im schweizerischen Jura, Uhrmacher spielen eine wichtige Rolle, Bakunins Geist und gerade noch seine Gegenwart sind lebendig, anlässlich einer Veranstaltung zur Erinnerung an die Pariser Kommune am ersten Jahrestag, an dem die Kommune am 18.3.1872 ausgerufen worden ist.

"Stepniak sagt in seiner Laufbahn eines Nihilisten, jeder Revolutionär habe in seinem Leben einen Moment gehabt, wo ihn irgendein möglicherweise unbedeutender Umstand zu dem Gelöbnis gebracht habe, sich der Sache der Revolution zu weihen. Ich kenne diesen Moment, ich erlebte ihn nach einem Treffen in der Freimaurerloge, als ich stärker als je zuvor empfand, wie feige all die Gebildeten handeln, die zögern, ihre Bildung, ihr Wissen, ihre Energie in den Dienst derer zu stellen, die dieser Bildung und Energie so sehr bedürfen. 'Hier sind Menschen', sagte ich zu mir, 'die sich ihrer Knechtschaft bewusst sind und die dafür arbeiten, sich von ihr frei zu machen - aber, wo sind die Helfer? Wo sind die, die den Massen dienen wollen - ohne sie für ihre eigenen Ambitionen zu missbrauchen?'" (310 f.). Die Häutung zum bewussten Anarchisten war fast perfekt. "Die theoretische Ausbildung des Anarchismus, wie sie damals innerhalb der Jura-Föderation nicht zuletzt durch Bakunin Formen annahm, die Kritik des Staatssozialismus - die Furcht vor einem den bloßen politischen Despotismus an Gefährlichkeit weit übertreffenden wirtschaftlichen Despotismus -, die ich dort formuliert hörte, und der revolutionäre Charakter der Agitation sprachen mich ungemein an und beeinflussten mich tief. Aber die Art wie jeder jeden als Gleichen sah und behandelte, die ich in den jurassischen Bergen fand, die Unabhängigkeit im Denken und im Ausdruck, wie ich sie unter den dortigen Arbeitern entwickeln sah, und ihre grenzenlose Hingabe an die gemeinsame Sache sprachen meine Gefühle noch viel mehr an; und als ich die Berge nach einer guten Woche Aufenthalt bei den Uhrmachern wieder hinter mir ließ, standen meine sozialistischen Ansichten fest: Ich war ein Anarchist" (319). Die ungeheure Aufgabe der Revolution, in den 'Gebeinen' der Natur- und Gesellschaftsgeschichte ohnehin angelegt, türmte sich vor K als anhaltendes Dauererfordernis. "Die Frage ist von daher nicht so sehr, wie man Revolutionen vermeiden kann, sondern wie die weitestgehenden Ergebnisse mit dem geringsten Maß an Bürgerkrieg, der geringsten Zahl an Opfern und einem Minimum gegenseitiger Erbitterung zu erzielen sind. Hierfür gibt es nur ein Mittel, nämlich dass der unterdrückte Teil der Gesellschaft sich so klar wie möglich über seine Ziele und die dahin führenden Wege ist und dass er mit dem zur Erreichung des Zieles nötigen Enthusiasmus ausgestattet ist; denn dann kann er sicher sein, dass gerade die besten und frischesten intellektuellen Kräfte der privilegierten Klasse sich seiner Sache anschließen" (322 f.).

Zurück in Russland wird K Teil der Bewegung Intellektueller, die 'ins Volk gehen', sprich zu den Bauern, zu Arbeitern, um sie, von Spitzeln verfolgt und unterwandert, wie 'Apostel' empfangen und behandelt, zur Selbstorganisation zu fördern. "'Redet mit anderen', sagten wir, 'bringt Leute zusammen; und wenn wir zahlreicher geworden sind, werden wir sehen, was wir erreichen können.' Sie verstanden vollkommen, und wir mussten nur ihren Eifer mäßigen. Unter ihnen verbrachte ich meine glücklichsten Stunden. Ganz besonders erinnere ich mich an den Neujahrstag 1874, den letzten, den ich in Russland in Freiheit verbrachte (K wurde wie viele andere verhaftet; die Gefängnisbedingungen hat er hier wie später in Frankreich anschaulich beschrieben; zwei Jahre darauf gelang ihm die Flucht; die Beschreibung lohnt der Lektüre; er emigrierte in die Schweiz, dann nach Frankreich, anschließend nach England. Erst ins revolutionäre Russland kehrte er im Februar 1917, von 60 000 Menschen begrüßt, nach Petersburg zurück. Die Kerenski-Regierung bietet ihm ein Ministerium an. Er lehnt ab. Er berät sie aber. Unter anderem ratschlagt er dazu, den Krieg fortzusetzen. Nach der Oktober-Revolution wird K von der bolschewistischen Regierung in Schritt und Tritt eingeengt. Nur zur Beerdigung Ks nach seinem Tod am 8.2.1921 lässt das längst von der Tscheka mitgeführte Regime eine von Anarchisten organisierte Beerdigung zu. Viele von diesen sind dafür zeitweise aus der Haft entlassen worden. Die schwarze Fahne flattert ein letztes Mal zugelassen öffentlich. Ein Staatsbegräbnis hatte die Familie abgelehnt. 100.000 Menschen folgen dem Sarg von Dmitrov, in der Nähe Moskaus gelegen, in die Hauptstadt (3). Den Abend vorher hatte ich in 'feiner Gesellschaft' verbracht. Inspirierte, edle Worte wurden an diesem Abend über Bürgerpflichten, das Wohl des Landes und dergleichen gesprochen. Aber bei all diesen begeisterten Reden klang doch ein Ton immer wieder an: wie könnte jeder der Redner sein eigenes, persönliches Wohlergehen sichern? Und doch hatte keiner den Mut, frei und offen auszusprechen, dass er nur das zu tun bereit war, was sein eigenes gemachtes Nest nicht in Gefahr brachte. Sophismen - immer nur Sophismen - über die Langsamkeit des Fortschritts, über die Untätigkeit der unteren Klassen, die Nutzlosigkeit von Opfern, waren die Art von Phrasen, die die unausgesprochenen Worte zu rechtfertigen gemeint waren und die mit Beteuerungen jedes einzelnen durchsetzt waren, er sei zu Opfern nur zu bereit. Ich wurde inmitten all dieses Geschwätzes plötzlich von einer tiefen Traurigkeit gepackt und kehrte nach Hause zurück. Am nächsten Morgen besuchte ich eine unserer Weberversammlungen. Sie fand in einem unterirdischen dunklen Raum statt. Ich war wie ein Bauer gekleidet und ging völlig in der Menge anderer Schafspelze auf. Mein Genosse, den die Arbeiter kannten, stellte mich einfach als: 'Borodin, ein Freund' vor. 'Erzähl uns Borodin', sagte er, 'was Du im Ausland gesehen hast.' Und ich sprach von der Arbeiterbewegung in Westeuropa, ihren Kämpfen, ihren Problemen und ihren Hoffnungen. Das Publikum bestand hauptsächlich aus Leuten im mittleren Lebensalter; sie waren ungemein interessiert. Die Fragen, die sie mir stellten, gingen alle auf den Punkt - über die kleinsten Details der Gewerkschaften, über die Ziehe der Internationalen Arbeiterassoziation und ihre Chancen auf Erfolg. Und dann kamen wieder Fragen, was in Russland gemacht werden könnte und welche Aussicht unsere Propaganda hätte. Ich verkleinerte die Gefahren unserer Agitation niemals und sagte offen, was ich dachte. 'Wir werden wahrscheinlich früher oder später nach Sibirien geschickt werden; und ihr - ein Teil von euch - werden lange Monate ins Gefängnis geworfen werden, weil ihr uns zugehört habt.' Diese düstere Aussicht erschreckte sie nicht. 'Na ja, in Sibirien leben auch Menschen - nicht bloß Bären.' - 'Wo schon Menschen leben, können andere auch existieren.' 'Der Teufel ist nicht so schwarz, wie er gemalt wird.' 'Wer sich vor Wölfen fürchtet, darf nicht in die Wald gehen,' sagten sie, als wir uns verabschiedeten. Und als später einige von ihnen wirklich verhaftet wurden, verhielten sie sich beinahe alle mutig, deckten uns und verrieten keinen" (359 f.).

b) Russland in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts

Als Fürstensohn, der früh seine geliebte Mutter verlor, mit dem spröde und adelskonventionell anmutenden Vater vorlieb nehmen musste, soweit er rar und distanziert in Erscheinung trat, in brüderlicher Liebe seinem älteren Bruder eng verbunden war K, wie es nicht anders möglich ist, Kind seiner Zeit. Des zaristischen Russlands mit den wenigen städtischen Zentren in Moskau und Petersburg insbesondere. Eines Bauernlandes russisch-orthodoxen Glaubens, in dem bis 1861 Erbuntertänigkeit herrschte. Sie wurde durch Alexander II. mit einem Fidelio-Ton "Freiheit", der durch das riesige Land schallte, aufgehoben, sogleich wieder halb zurückgenommen und in ihrer Umsetzung zuweilen bis zum verelendenden Nichts, das Großbesitzer privilegierte, zerrieben. K erlebte die lang ersehnte Aufhebung der Erbuntertänigkeit, ihren Hoffnungsregen, ihre unzureichenden Öffnungen und ihre raschen herrschaftswillkürlichen Schließungen aus nächster Hofnähe mit. Aus den vielen kennzeichnenden Splittern der widersprüchlich gehemmten und selbst beherrscht herrschenden Gestalt Alexanders II. ließe sich fast so etwas wie eine Porträtstudie kollagieren.

Viele Einflussbrocken und Entwicklungslinien werden fass- und vermutbar, die den Adelszögling K. wachsend seine Welt ergreifen ließen und die ihn zu dem machen, was er früh an Leibeigenen beobachtet, die ihn wie ihr Kind, zärtlich und sorglich und schutzschirmend erzogen. "Manche Menschen verzehrt der leidenschaftliche Wunsch, nach dem Tode fortzuleben, aber oft geht ihr Leben dahin, ohne dass sie erkennen, dass das Andenken eines wahrhaft guten Menschen niemals vergeht. Es prägt sich der nächsten Generation ein und wird von ihr wieder der folgenden übermittelt. Ist das eine Art der Unsterblichkeit, nach der sich zu streben lohnt?" (S.42). In K aufgehobene anscheinshafte Niemande, Leibeigene, Frauen und Männer, die in ihm und durch ihn und über ihn hinaus die Ekstase des aufrechten Gangs erlebten.

Von den vielen Schilderungen und Beobachtungen will ich nur solche aus zwei Bereichen herausgreifen. Über die Leibeigenen und aus den Beobachtungen über die Amur-Region in Sibirien. Solche aus der Schulzeit über ungewöhnliche Lehrer habe ich gerade gestrichen, als ich bemerkte, dass mein Text sich aufplusterte. Nachlesen also bitte u.a. Seite 108 bis 118. A propos Schule. Elemente düsterster Pädagogik, dem schulischen Vorkasernendrill mischen sich mit solchen privilegierter und enger Heimerziehung, dennoch möglichem Lern- und Wissensenthusiasmus - siehe oben - und neben den Prügel-, den Sonnenflecken von Lehrern, die a-normal lehrten. Vielleicht sind es zuweilen die Sonnenflecken, die "magisch" weiterleuchten, selbst wenn ansonsten Nacht dunkelt.

Leibeigene. Es ist wahrhaft banal. Wer Russland und seine Geschichte, der bis heute merkwürdigen Legierung von "Moderne" und "Vormoderne", gerade in ihren eigenartigen Herrschafts- und Legitimationsformen wenigstens ansatzweise verstehen will, der muss das riesige "Land" dieses riesigen Landes, der muss die bäuerliche Bevölkerung in ihrer unterdrückungsdurchwachsenen, Existenzweise, ihren beschränkten, dann gewaltsam aufgenötigten Produktionsbedingungen begreifen.

Auch indem ihr oder ihm einsichtig, welcher auch 'positiv' ertragenden und mit denen anderen Bauern umgehenden Verhaltensweisen einer eigenen "moralischen Ökonomie" es bedurfte, diesen schier ewigen Herrschaftsdruck auszuhalten. Die Geschichte der Erbuntertänigkeit und ihrer halben Aufhebungen im 19. und 20. Jahrhundert spielen hierbei eine hauptsächlich Rolle (4). K ist der Leibeigenschaft begegnet, schon bevor er sich auf Kleinkinderbeinen bewegte. Leibeigene haben ihn, fast an Kindes statt, groß gezogen. Alles durch Leibeigene, was man braucht, herstellen und servieren zu lassen, das war unter anderem der stellvertretende 'Stolz' adeliger Großgrundbesitzer wie seines Vater. Die Leibeigenschaft war es, die K zuerst Herrschaft erfahren ließ, die den ganzen Menschen, all seine Bedingungen und Äußerungen um- und erfasste. "Frei zu werden", der "beständigen Traum der Leibeigenen" begegnete ihm als erste konkrete Utopie vieler Menschen, die er kannte (und auch liebte). Dass die ökonomische und soziale Organisation des ländlich bäuerlichen Raums, die Art, wie Menschen Brot gewinnen und verteilen, mit der industriellen Produktion einträglich verbunden werden und jeder daran teilhaben müsse, gehört zu Ks anhaltenden Überzeugungen. Er hat diesen viele seiner Überlegungen zur sozialistisch anarchistisch angemessenen Organisation gewidmet hat (5). Hier nicht zuletzt besteht einer der konzeptionell größten Unterschiede zum industrie- und wachstumsfixierten Sozialismus/Kommunismus fast aller nicht anarchistischen Prägungen. Erst der Anarchismus dieser Prägung stellt deshalb eine, allenfalls in ihrer Bestandsfähigkeit bezweifelbare radikale Alternative zum Kapitalismus dar.

Eine kleine Geschichte 11 Jahre nach dem Ruf "Es ist die Freiheit", also nach 1861 muss genügen. "11 Jahre nach jener denkwürdigen Zeit reiste ich zu unserem Gut in Tambow, das ich von meinem Vater geerbt hatte. Ich blieb ein paar Wochen dort, und am Abend vor meiner Abreise machte unser Dorfpriester - ein intelligenter unabhängiger Mann, wie man sie hin und wieder in unseren südlichen Provinzen trifft -, einen Rundgang durch das Dorf. Der Sonnenuntergang war herrlich, und eine samtweiche Luft wehte von der Steppe aus herein. Er traf auf einen Bauern mittleren Alters, namens Anton Saweljew, der auf einer kleinen Anhöhe beim Dorf saß und im Buch der Psalmen las. Der Bauer kannte die altslawischen Buchstaben kaum, und er las oft einen Psalm, indem er von hinten nach vorn blätterte. Diese Art des Lesens schien ihm besondere Freude zu machen; hin und wieder stach ihm dabei ein Wort in die Augen, und es zu wiederholen bereitete ihm Vergnügen. In dem Moment las er gerade einen Psalm, bei dem jeder Vers mit dem Wort 'Freue dich' anfing. 'Was liest Du, Saweljew ?' fragte der Pope. 'Nun, Vater, ich werd's Ihnen sagen', war seine Antwort. 'Es sind vierzehn Jahre her, da kam einmal der alte Fürst ins Dorf. Es war mitten im Winter, und ich war gerade nach Hause gekommen, fast erfroren. Draußen tobte ein Schneesturm. Ich hatte kaum angefangen, mich auszuziehen, als wir es ans Fenster klopfen hörten: Es war der Dorfälteste, der rief: 'Geh zum Fürsten! Er will dich sehen!' Wir alle - meine Frau und unsere Kinder - waren wie vom Blitz getroffen. 'Was kann er von Dir wollen', schrie meine Frau ganz aufgeregt. Ich bekreuzigte mich und ging; der Schneesturm blendete mich fast, als ich die Brücke überquerte. Nun, die Sache endete gut. Der alte Fürst hielt sein Mittagsschläfchen, und als er aufwachte, fragte er mich, ob ich was vom Tünchen verstände, und sagte mir dann nur: 'Komm morgen und tünche das Zimmer dort!' Ich ging ganz glücklich heim. Als ich aber an die Brücke komme, treffe ich dort meine Frau. Sie hat die ganze Zeit dort mit dem Baby auf dem Arm im Schneesturm gestanden und auf mich gewartet. 'Was gab's Sawelitsch', rief sie. 'Nun', antwortete ich, 'nichts Schlimmes; er hat mir nur aufgetragen, ich solle ein Zimmer tünchen.' Das, Vater, war unter dem alten Fürsten. Und nun ist der junge Fürst hergekommen, und ich bin gestern zu ihm gegangen und fand ihn im Garten, wo er am Teetisch im Schatten seines Hauses saß; Sie, Vater, saßen neben ihm und der Bezirksälteste mit seiner Bürgermeisterkette um den Hals. 'Willst Du Tee, Sawletisch?' fragte er mich. 'Nimm einen Stuhl! Peter Grigorjew' - das sagte er zu dem Alten - 'hol uns noch einen Stuhl!' Und Peter Grigorjew - Sie wissen, welche Angst wir alle vor ihm hatten, als er noch Verwalter des alten Fürsten war -brachte den Stuhl, und wir saßen alle um den Teetisch herum und redeten miteinander, und er goß uns allen Tee ein. Nun, sehen Sie, Vater, der Abend ist so schön, von den Steppen kommt der Wind herein, und ich sitze und lese 'Freue dich! Freue dich!' Das bedeutete die Aufhebung der Leibeigenschaft für die Bauern" (163 f.).

Sibirien. Amur. Immer wenn ich mich an meine erste Lektüre der "Memoiren eines Revolutionärs" in den 70er Jahren erinnerte, war es ein Aspekt, der mir zuvor trotz intensiver Lektüre 'der' Russen während meiner Studentenzeit, Dostojewski an erster Stelle, so nicht aufgefallen war. K hatte mir die Augen für die ungeheure, allenfalls beherrsch-, jedoch nicht regierbare Größe Russlands geöffnet und darin der schier unermesslichen Weite in der Größe, der Weite Sibiriens. Nicht als "Totenhaus", wie sie der dort jahrelang inhaftierte Dostojewski schildert, sodass man von diesem Gefängnismal in der Vorstellungsseele nie mehr loskommt, als großgestaltetes, vom Riesenfluss Amur Tausende von Kilometern verbundene, bergtalig vielgestaltig aufgeworfenen Riesenort der Möglichkeiten erscheint Sibirien in den Worten des faszinierten jungen Geographien und Messkünstlers K. Ich war nie dort. Und habe es sich noch so viel verändert - und dies hat es in der Sowjet-Union und heute im nachsowjetisches Russland und den diversen asiatischen Nachfolge- oder schon seinerzeitigen Anrainerstaaten -, ich gäbe viel darum, das, was ich durch Ks forschend kundiges Auge gesehen habe, nicht nur touristisch wahrnehmen zu können. Der "Dritte Teil: Sibirien", am Ende des 1. Bandes handelt von diesem mir fast nur durch K erschlossenen Sibirien. Statt zu versuchen, das von K vermittelte Riesen-Weite-Erlebnis in knappen Zitaten einzufangen, führe ich nur zwei, nicht nur für K wichtige politische Einsichten an, ohne damit vertuschen zu wollen, dass auch in er Geographie selbst ein schlafendes Politikum liegt.

"Die höhere Verwaltung in Sibirien war von den besten Absichten beseelt (...). Aber es war eben doch eine Verwaltung, ein Zweig des Baums, der seine Wurzeln in St. Petersburg hatte, und das genügte völlig, um die besten Absichten zu lähmen und alle Ansätze eines selbstständigen regionalen Lebens und Fortschritts zu sabotieren. Was immer örtliche Vertreter zum besten des Landes in die Wege leiteten, wurde mit Misstrauen betrachtet und wurde sogleich durch Berge von Schwierigkeiten blockiert, die nicht so sehr in böser Absicht der betreffenden Personen ihren Grund hatten - Menschen sind im allgemeinen besser als Institutionen -, sondern nur darin, dass sie Teil einer pyramidenförmigen, zentralisierten Verwaltung waren. Allein die Tatsache, dass es sich um eine Regierung handelt, die ihren Ursprung in einer fernen Hauptstadt hat, bringt sie dazu, alles nur noch vom Gesichtspunkt eines Beamten aus zu sehen, der zu aller erst daran denkt, was die Vorgesetzten sagen werden und wie alles sich in die Verwaltungsmaschine einfügt, nicht aber an die Interessen des Landes" (235 f.). Danach folgt ein für K entscheidendes Lernerlebnis, das, zusammen mit dem schon Skizzierten, geradezu die "Basis" oder metaphorisch anders, die "Triebkraft und Seele", ja das verborgene und appellativ gemeinte Subjekt seines Anarchismus ausmacht.

"Die Jahre, die ich in Sibirien lebte, lehrten mich vieles, das ich kaum andernorts hätte lernen können. Ich begriff bald, dass es völlig unmöglich ist, etwas wirklich Nützliches für die große Masse des Volkes mithilfe der Verwaltungsmaschinerie zu leisten. Diese Illusion verlor ich ein für allemal. Aber daneben entwickelte ich nicht nur für die Menschen und den menschlichen Charakter ein Verständnis, sondern auch für die inneren Triebfedern und das Funkionieren der menschlichen Gesellschaft. Die von den namenlosen Massen geleistete schöpferische Arbeit findet so selten in den Büchern auch nur eine Erwähnung, und hier trat mir ihre große Bedeutung für die Entwicklung gesellschaftlicher Formen in all ihrer Breite vor Augen. (...) Es war im Grunde ein Anschauungsunterricht, der mich ein für allemal begreifen ließ, welchen Anteil die unbekannten Massen an allen wichtigen historischen Geschehen, selbst den kriegerischen haben; dabei entwickelte ich Auffassungen über das Verhältnis zwischen Führern und Massen, die ganz denen ähneln, die Tolstoj in seinem monumentalen Wert Krieg und Frieden zum Ausdruck bringt" (238).

So gesehen hat die erste Reise nach Westeuropa Anfang der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, vor allem in den Schweizer Jura nur den lange angelegten, aus vielen Einflüssen 'zusammengeschossenen' Anarchisten Peter Kropotkin evident und bewusst gemacht.

c) Die Memoiren als ein Buch 'für sich' genommen

Das dürfte schon deutlich geworden sein. Dass K's Erinnerungen seines Lebens, die gerade knapp zwei Dritteln desselben gelten, an sich selber die Lektüre lohnen, ob man nun an K als einer Person, insbesondere an K als einem prominenten Anarchisten besonderes interessiert ist oder nicht. Von selbst versteht sich, dass das zusätzliche Interesse an der Konzeption, der Geschichte und an den hauptsächlichen Merkmalen des Anarchismus, genauer der Anarchismen und seinen hauptsächlichen Vertretern diese Memoiren zu einer zusätzlich ausschöpfbaren Fundgrube macht.

Da ich die englische Fassung nicht vor mir liegen habe und entsprechend mit der deutschen vergleichen kann, halte ich mich beim Urteil über die sprachliche Qualität der Memoiren zurück. Wie oben schon berührt lesen sich die Erinnerungen mühelos. Zum Teil sind die Schilderungen sehr farbig und anschaulich geraten. Ganze Kapitel und Kapitelteile besitzen einen erheblichen literarischen Rang. Sprich, in ihnen wird beispielsweise die Bedeutung der Erbuntertänigkeit für die Erbuntertanen oder der Gefängnisse für die Inhaftierten so greif- und nachvollziehbar vorgestellt, dass allgemeine Verhältnisse und ihre besondere Bedeutung für die einzelnen Menschen, dicht beschrieben, ineinander vermittelt aufgehoben werden. Die Komposition der Memoiren insgesamt besitzt keine eigene, mehr als durch K und seine Zeit zusammengehaltene 'Logik'. Die Erinnerungen folgen keinem überragenden kompositorischen Prinzip, das in einem Finale berstend bündelte. Unbeeinträchtigt von diesem nicht nur ästhetischen Urteil sind sie jedoch in den berichteten 'Wirklichkeitsblicken' meist jenseits der Hauptstraßen - und selbst auf den Hauptstraßen denselben untergründig und deviant - ausgesprochen spannend zu lesen. Ihre Lebendigkeit kommt darin besonders zum Ausdruck, dass sie zum dauernden Nachdenken über unsere Zeit und unser Verhalten in ihnen anregen, obwohl das Russland und selbst das Westeuropa der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts fern vergangen erscheint. K bleibt in seinen Schilderungen und in dem, was ihn und wie es ihn treibt, inmitten der "V-Effekte" (Verfremdungseffekt nach Bert Brecht) unser Zeitgenosse, könnte und sollte es jedenfalls bleiben, sofern wenigstens eine geringe anarchistische 'Musikalität' besteht.

d) Die Memoiren eines Revolutionärs in nur unter vielen Vorbehalten revolutionär zu nennender Zeit - Die Erinnerungen eines Anarchisten in einem Kontext, der das, was jedenfalls der kropotkinsche Anarchismus wollte und hoffte, zur Illusion ohne Zukunft zu degradieren scheint (und selbst an den Vorbehalt in der Formulierung "scheint" muss man in Sinne einer Hoffnung wider das Hoffen festhalten)

Kann man in Ks Memoiren verfolgen, wie sich ein Anarchist großfürstlich russischen Hintergrunds, aus den geistigen Strömungen und Brüchen des 19. Jahrhunderts verständlich, allmählich bildet und Anfang der 1870er Jahre 'fertig' vor uns steht, so führen die Erinnerungen nur eher am Rande in das ein, was man die anarchistische Wirklichkeitskonstruktion, was man das anarchistische Konzept ("Programm"), seine Begründung, seine Ziele und die mit ihm verbundenen Überlegungen, diese zu verwirklichen, nennen könnte. Hierbei versteht sich von vornherein, dass es das anarchistische Konzept nicht gibt, sondern historisch und gegenwärtig diverse, allerdings mit wichtigen gemeinsamen Merkmalen versehene Konzepte (und Praktiken). Um Ks spezifischen 'sozialen Anarchismus' genauer kennen zu lernen, muss man zu anderen Werken Ks greifen. Meines Erachtens lohnt vor allem K's "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt". Die von Gustav Landauer, einem Anarchisten eigenen Rangs, 1904 besorgte Deutsche Ausgabe - Gustav Landauer wurde als Vertreter der Münchener Räterepublik am 2. Mai 1919 ermordet - wurde im Trotzdem-Verlag 1989 von Henning Ritter neu herausgegeben und mit einem Nachwort versehen. Diese ist 1999 neu aufgelegt worden.

Indes, erneut und dringlicher gefragt: lohnt es die Memoiren als Hintergrund, Untermalung und Bestätigung von K's sozialem Anarchismus heute überhaupt noch zu lesen und zu erörtern? Eric Hobsbawm, ein sozialistischer Historiker von rarer Qualität, der im Umkreis der Studentenbewegung den Nachdruck anarchistischer Texte nicht nur, sondern eine neu belebte anarchistische Diskussion fast irritiert zur Kenntnis nahm, stellte vergangenheitsgerichtet schon fest: "Kurz gesagt, die Hauptanziehung des Anarchismus war emotionaler, nicht intellektueller Art." Und für die Gegenwart vor mehr als 30 Jahren notierte er, dass ihm die "Wiederbelebung" des Interesses am Anarchismus "ungerechtfertigt erscheint." Obwohl der Anarchismus "heutzutage wieder als politische Kraft anzusehen" sei, sei der "Wert", den die "anarchistische Tradition" besitze in Sachen "Ideologie, Theorie und Programme" geringfügig. Nicht vorzustellen sei, "ein theoretisches Modell eines freiheitlichen Anarchismus zu konstruieren, das mit moderner wissenschaftlicher Technologie vereinbar ist". "Es ist klar geworden", so resümiert er, "dass meiner Meinung nach der Anarchismus keinen bedeutenden Beitrag zur sozialistischen Theorie leisten kann, obwohl er ein nützliches kritisches Element darstellt.

Wenn Sozialisten Theorien über Gegenwart und Zukunft brauchen, werden sie immer noch anderswo danach Ausschau halten müssen: bei Marx und seinen Anhängern und wahrscheinlich auch bei den frühen utopischen Sozialisten, wie etwa Fourier. Um genauer zu sein: wenn Anarchisten einen wichtigen Beitrag zu leisten wünschen, werden sie weit ernsthafter nachdenken müssen, als viele es von ihnen neuerdings getan haben." Nur "ein ungewöhnliches Feingefühl (der Anarchisten, WDN) für die spontanen Elemente von Massenbewegungen" bleibe im Sinne aktiver Erinnerung festzuhalten (s. Hobsbawm: Was kann man noch vom Anarchismus lernen? in: Kursbuch 19, Kritik des Anarchismus, Dezember 1969, S.47-57).

Das war 1969. Die antiautoritären Betriebsamkeiten hatten ihren Höhepunkt schon überschritten, schossen jedoch vor allem im ausgefransten und ausfransenden Bildungs- und Wohnbereich zuweilen wie pilzartig aus dem autoritären (bundes-)deutschen und West-Berliner Boden. "Anarchie ist machbar, Frau Nachbar" signalisierte leuchtend weiß noch eine Wandparole der "Instandbesetzerbewegung" in West-Berlin, Ende der 70er Jahre, ein letzter Ausdruck der Studentenbewegung, die längst in K-Gruppen selbst versteinert und, herrschaftlich früh unterdrückt, reform-bürokratisch verlandet war. Diesen Kurs indizieren auch die "Kursbücher" dieser Jahre.

Und heute? Ob mit berechtigt unberechtigtem Skeptizismus Hobsbawms, mit mangelhafter anarchistischer Sehkraft, beispielsweise eines Wolfgang Harich, der sich gleichfalls im 69er Kursbuch Nr.19 unter dem Titel "Zur Kritik der revolutionären Ungeduld" lesenswert zu den systematischen Beschränktheiten anarchistischer Gesellschaftskritik äußert -, wer von diesen und anderen könnte Spurenelemente anarchistischer Lebenskraft heute entdecken? Freilich, auch die etablierten "Sozialismen" sind nahezu ohne Ausnahme nach dem Kollaps der Sowjet-Union von der Bildfläche verschwunden: Wirklichkeit wahrzunehmen und entsprechend "sozialistisch" zu gestalten.

Darum gilt die Feststellung Hobsbawms heute viel umfassender und ungleich radikaler als er es seinerzeit gemeint hat, kritisch 'nur' dem Anarchismus zugekehrt: "Bewundernswert, aber hoffnungslos. Es ist fast sicher, dass die monumentale Wirkungslosigkeit des Anarchismus die meisten Menschen meiner Generation - der Generation, die in den Jahren des spanischen Bürgerkrieges zur Reife gelangte - veranlasst hat, ihn abzulehnen."

Lehnten wir heute ob der monumentalen Wirkungslosigkeit nicht nur, sondern auch der schlimmen humanen Kosten, soweit es herrschenden Kommunismus und verwässerten Sozialdemokratismus angeht, alle qualitativen, in diesem Sinne fundamentalen Alternativen zum herrschenden Kapitalismus und zu kapitalistischer Herrschaft ab, dann bliebe uns nur noch proskynetisch - sprich: etablierte Herrschaft und Herrschende anhündelnd - das "Ende der Geschichte" nachzulallen. Wir könnten uns nur noch, reformsträuselgepunktelt und moralabstrakt wie gehabt, als Mitläufer und hilflos Ausgesetzte der schier unendlichen Geschichte sich weiter türmenden Wachstums, ausbeuterischer, Ungleichheit vermehrender Konkurrenz und der immer erneut "menschenrechtlich" gerechtfertigten Kriege mit vergebens erinnerten Opfern uns verhalten. Passivaktiv, die dies das Geschick der demokratisch dummen, schon im Wort selbstverräterischen Zivilgesellschaften und ihrer emphatischen Bücklinge ist.

Davon, warum und wie an K's Anarchismus trotz alledem, nein, mehr denn je erneuernd, verändernd festzuhalten ist, handeln einige wenige abschließende Erwägungen. (3)

Das anarchistische Versprechen kropotkinscher Art - Abgegoltenheiten, Unabgegoltenheiten

a) Es hilft nichts. Gegen herrschaftliche Voraussetzungen und Äußerungen gerichtet muss man, das tat K, am Grund ansetzen. An dem, was wir etwas kraft- und saftlos Menschen- und Gesellschaftsbild nennen. Die uralten und immergrünen, je und je neu im Lichte der Tradition und veränderter Verhältnisse zu beantwortenden Fragen: Was macht Menschen aus? Was benötigen sie?

Diese simplen Fragen lassen sich aus doppelten Grund nie wesenshaft (und im Stile von "ist gleich...") beantworten, weil zwei grundlegende und zugleich Geschichte/Veränderungen gebende Eigenarten, an sich selber noch ohne genaue 'inhaltliche' Aussagekraft, zu beachten sind. Die Eigenart, dass menschliches Sein im Werden besteht. Also nie 'nur' "ist" ist, sondern immer werden, verändern besagt (schon darum wird jenseits aller ungelöst wissenschaftlich-technischen Probleme Klonen immer schlimmstenfalls eine Herrschaftsfarce). Die damit verbundene Eigenart, dass Menschen nur Menschen werden, indem sie "vergesellschaftet", im lateinwüchsigen Fachausdruck, "sozialisiert" werden. Der Beginn von Blochs "Prinzip Hoffnung" formuliert den Zusammenhang wundersam (Bloch erweist sich dann übrigens in Sachen Anarchismus als "realsozialistisch" blind, er erliegt, im 2.Band des "Prinzips" vor allem einem schein-ironisch apostrophierten Klischee): "Ich bin, aber ich habe mich nicht, darum werden wir erst" (Hervorhebung von WDN).

Also setzt K radikal anders an als Hobbes und (fast) die gesamte Moderne nicht zuletzt bis zu den "Neoliberalen" heute. Er verfährt, soweit wie möglich, nicht konstruktivistisch, sondern - historisch beobachtend - induktiv. Der "individualistischen Fiktion" des Th. Hobbes stellt er, durch die Geschichte der Menschen durchgehend belegbar, ebenso wie durch ihre Hilfebedürftigkeit vom 'Urschrei' an, das 'soziale Tier' gegenüber. An Stelle einer individualistischen Konkurrenz mit dauernder Vernichtungsdrohung und -angst, tritt, ohne Konkurrenz schlechterdings zu beseitigen, die durchgehend nötige gegenseitige Hilfe. "Überall, wohin wir gehen, finden wir dieselben geselligen Sitten, denselben Geist der Solidarität. Und wenn wir uns bemühen, in die Dunkelheit vergangener Zeiten einzudringen, finden wir dasselbe Stammesleben, dieselben, wenn auch primitiven, Vereinigungen von Menschen zu gegenseitigem Beistand. Daher hatte Darwin ganz recht, wenn er in den sozialen Eigenschaften des Menschen den Hauptfaktor für seine weitere Entwicklung sah" (6).

Die Bedeutung der qualitativ verschiedenen, verschieden begründeten und konstituierten Mensch- und Gesellschaftsbilder ist kaum zu überschätzen. Mehr denn anderswo ist übrigens hier auf erkenntnistheoretische und methodologische Reflexionen oder deren Mangel zu achten, ebenso auf (nicht in Frage gestellte) Voraussetzungen. Die Dominanz des liberal- neoliberalen Menschen- und Gesellschaftsbildes sorgt heute dafür, dass die Art der kapitalistischen Globalisierung inklusive der meisten allzu zarten Kritiker (a la Attac), prinzipiell ohne Alternative gelebt, gestritten und vorgestellt wird. Westwärts wird dieses a-soziale Menschen- und das entsprechend widersprüchliche, nur staatsherrschaftlich zusammenhaltbare Gesellschaftsbild seit Jahrhunderten sozialisierend (!) eingepaukt noch und noch. In allen möglichen gesellschaftlichen positiven und negativen Sanktionen ist es lebenslang von der Wiege bis zur Bahre präsent - von den konkurrierend ergatterten Examensnoten und ihrer Produktion der "feinen Unterschiede" bis hin zu den Chancen auf den Arbeits-, den Lohn-/Gehalts- und Wohlstandsmärkten bis hin zum expansiven shareholder-value. Die vergesellschaftend ungesellig und von abstrakten Zusammenhängen noch mehr abhängig machenden Wirkungen des letzteren stellen den bedeutsamsten Faktor der aktuellen Häutungen des Kapitalismus dar. Der etablierte Begriff der Menschenrechte gehorcht übrigens der liberal-, neoliberalen Logik. Darum lässt sich mit solchen "Menschenrechten" trefflich Krieg führen, können Milliarden von Menschen ausgebeutet werden und ist es zulässig, dass neben der Villenfülle Millionen und Abermillionen von Menschen selbst in den wohlstandstriefenden Gesellschaften obdachlos verrecken.

b) Aus K's Menschen- und Gesellschaftsbild folgt die kompromisslose Staats- und Herrschaftskritik, wie der STAAT als Leviathan entsprechend bei Hobbes aus seinem Menschen-Naturzustandskonstrukt entspringt.

Die a-sozial konstruierten Einzelnen werden, um überleben und ihren individualisierten ökonomischen Interessen nachgehen zu können - dem, was der treffliche Ideengeschichtler C.B. MacPherson vor Jahrzehnten den "Besitzindividualismus" genannt hat - durch die staatliche Zwangsklammer vereinigt und erneut staatsgewaltig zum inneren Frieden bei bleibender Dauerangst nach innen und außen genötigt. Hierbei sorgt 'der' Staat dafür, der selbst in den formell liberaldemokratisch verfassten sein Gewaltmonopol außer- und übergesellschaftlich bewahrt, dass seine genetisch-konstitutive A-Sozialität auch funktional und in seinen Einrichtungen a-sozial bleibt. Oder anders ausgedrückt: alle Assoziationen, die einen Eigensinn besitzen oder erwerben könnten, werden, staatsbürokratisch so gleichgeschaltet, dass sie staatlicher Herrschaft entsprechen. Das gesamte Rechtssystem sorgt in verschiedener Eingriffstiefe dafür, dass keine Assoziation einen 'staatsgefährdenden' politischen Eigensinn erhalten könnte: nicht nur Straf- und Polizeirecht, der gesamte Bereich sogenannter Innerer und Äußerer Sicherheit, vielmehr auch die sozial-, bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Verrechtlichungen und Institutionen wirken in eine dissoziierende Richtung.

Entsprechend kritisch setzt K an. "Die Usurpation aller sozialen Funktionen durch den Staat musste die Entwicklung", so formuliert er resümierend, "eines ungezügelten, geistig beschränkten Individualismus begünstigen. Je mehr die Verpflichtungen gegen den Staat sich häuften (und umgekehrt, WDN), umso mehr wurden offenbar die Bürger ihrer Verpflichtungen gegeneinander entledigt" (S.211). Die "zermalmende Kraft des zentralisierten Staates" und "die Lehren von gegenseitigem Hass und erbarmungslosen Kampf, die mit den Abzeichen der Wissenschaft angetan von dienstfertigen Philosophen und Soziologen" kommen, haben, so nimmt K an, zwar das "Gefühl der Solidarität der Menschen" schwächen, sie haben es aber nicht "ausrotten" können (S. 265). Die Aufgabe liegt darin, ich bediene mich jetzt nicht Ks Sprache, durch grundlegend andere Produktionsformen, der nicht mehr 'ausdifferenziert' getrennt organisierten materiellen, politischen und kulturellen Produktion, die staatlich ebenso wie kapitalistisch aufgeherrschte "ungesellige Geselligkeit" zu überwinden. Damit die Freiheit verbürgende gegenseitige Hilfe autarker und autonomer, föderal organisierter Gruppen und ihr gleichen und freien Personen möglich werde.

In der wurzelgründigen STAATskritik, wie immer Staaten im einzelnen verfasst sein mögen, besteht mehr denn je das lebendige Erbe Ks und des Anarchismus. Der verschiedene Staatsbezug und entsprechend die unterschiedliche Staatskritik machte die Differenz ums Ganze zu den Parteien der 2. Internationale aus. Zu den Parteien in marxistisch-leninistischen Spuren ebenso wie zu den Parteien, die sich sozialdemokratisch nannten bis heute - so heute noch mehr denn nominell die Rede sein kann. Als könnten staatliche Formen, als könnten Einrichtungen der Gewaltmonopol-Bürokratie zeitweise gleichsam ausgeliehen werden, um gewaltsam die Voraussetzungen einer Gesellung schaffen, die dann mit dem anarchistischen Freiheitspathos für alle Menschen vereinbar wäre. Als vertilgte das staatsherrschaftliche Instrument nicht alle Verhaltenserfordernisse des versprochenen "Reichs der Freiheit". So sehr es Bakunin, später Kropotkin und anderen an einer ausreichenden Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsformation mangelte, so sehr traf und trifft ihre Kritik der staatlichen Herrschaftsform. Sie wussten - und insofern war ihre "Ungeduld" angezeigt und bleibt es allemal -, dass Gesellschaften nicht in qualitativ verschiedenen Stadien freier werden können. Zuerst werden die bestehenden (staatlichen) Herrschaftsmittel übernommen und die Bedingungen freier Gesellung herrschaftsgewaltig und stellvertretend für die gleichfalls gezwungenen 'Massen' geschaffen. Sind die Bedingungen in herrschaftlicher Stellvertreterpolitik, etwa durch die höheren Ränge der KPdSU und ihre Sicherheitsdienste gewaltgeschaffen, dann blüht plötzlich die humanistische Rose auf terroristischem Stengel (vgl. ob seiner verdichteten Argumentation nach wie vor lesenswert der junge Merleau-Ponty: Humanismus und Terror). Die Anarchisten wussten: nicht nur sind, wie nach der Oktoberrevolution, die aktuellen humanen Kosten zu hoch. Als dürfe man auf dem Altar der als sicher bevorstehend gewähnten Zukunft Menschen opfern. Vielmehr ist die Annahme schlecht abstrakt, dass zum einen zeitweilige Herrscher ihre Herrschaftsinstrumente aus der Hand geben und zum anderen herrschaftsunterworfene Menschen plötzlich freien Umgang miteinander praktizieren können. So sehr freilich das sowjetische Muster und seine marxistisch leninistischen Begründungen heute obsolet erscheinen, so sehr dauern die politisch staatlichen Täuschungen fort. Zum einen die Täuschung, als könne sich just 'der' Staat im Zeichen der Globalisierung von der kapitalistischen Ökonomie und ihren Determinanten lösen. Zum anderen die Täuschung, als könne mit den Instrumenten staatlichen Gewaltmonopols so etwas wie eine radikaldemokratische Politik innerhalb und außerhalb der so organisierten Gesellschaften betrieben werden.

Ist aber die anarchistische Einsicht triftig, dass es durchgehend, vom ersten Prozessschritt an, auf die Formen der Organisationen ankommt, die dem angestrebten Freiheitsziel entsprechen müssen - Herrschaft ist kein Durchlauferhitzer auf dem Weg zur Anarchie, zur Nichtherrschaft -, dann steht theoretischpraktisch die Organisationsfrage als die Gesellschaftsfrage dauernd im Mittelpunkt. Hier sind heute die riesigen Aufgaben gegeben. Wie können allein die enormen Quantitäten von Menschen und deren Erfordernisse so gefasst werden, dass nicht allein schon aus exzessiver Arbeitsteilung und Verwaltungserfordernissen herrschaftliche Ungleichheiten und Abhängigkeiten noch und noch entstehen?

c) Ks Verlangen notwendiger Änderungen geht weit über die Staatskritik, die Enteignung und Vereinzelung der Menschen durch stellvertretende Bürokratien hinaus.

Schon bei der m.E. fest zu haltenden, neu und neu zu übenden Staatskritik ist freilich nicht zu verkennen, dass Leute, die sie anarchistisch betreiben, in einer mehr als je aktuell und punktuell überwindlichen prinzipiellen Schwierigkeit stecken. Wolfgang Harich hat sie benannt.

"Genau wie in dem Modellfall seiner unbedingten, sich über Zeit und Umstände hinwegsetzenden Staatsverneinung hat der Anarchismus, so kann gesagt werden, in jedem Fall eine tiefverwurzelte Aversion dagegen, sich seinen Zielen auf Wegen und Umwegen zu nähern, die nicht selbst bereits die Erfüllung dessen bieten, was das Ziel verspricht. Immer setzt er voraus, dass die in der individuellen Freiheit gipfelnde Rangfolge der Werte, für die er - mit Recht - Partei ergreift, unmittelbar maßgebend zu sein habe für die Reihenfolge der Schritte, die zu seiner Verwirklichung unternommen werden müssen, weshalb er stets den zweiten, dritten, letzten Schritt vor dem fälligen ersten tun möchte." Harich schließt seinen einwändevollen Absatz mit einer alten Metapher: "Die Wahrheit ist: Er sägt an den Ästen, auf denen noch gar nicht gesessen werden kann, und glaubt dabei, die höchsten Wipfel zu erklimmen" (S.76). Will sagen: da die Anarchisten wie alle, die gesellschaftlich Anderes wollen, als die aktuellen Zustände zu erhalten, mitten in herrschaftsvollen Gesellschaften leben, können sie gar nicht umhin, mit herrschenden Bedingungen und Formen umzugehen. Es sei denn, sie beschränkten sich pseudospontan auf explosive, rasch verpuffende, alles nur nicht gegenseitige Hilfe bewährende Gewalt oder sie ergatterten im Hinblick auf die dominanten Vergesellschaftungsformen exterritoriale und ihrer Logik gegenüber exempte, ja immune Gebiete. Und selbst dann steckten noch die 'alten' gesellschaftlichen Formen habituell in ihnen. Die anarchistisches Handeln begründende richtige Erkenntnis vom strikten, nicht aufzulösenden und nicht zu verkehrenden Zusammenhang von Zielen und Mitteln ist also nicht und nie mühelos zu verwirklichen. Das Problem der immer erneut schmutzig werdenden Hände bleibt. So wie es inmitten von gesellschaftlichen Bedingungen, die auf gegenseitige Hilfe geeicht sind, Konflikte geben (können) muss und geben wird.

Bei der trotz der genannten Verlegenheiten (Aporien) triftigen Staats-, als Herrschaftsformen-Kritik bleiben K und andere soziale Anarchisten nicht stehen. Sie verlangen nicht nur eine Beseitigung der kapitalistischen Produktionsformen, sie setzen andere Lebensformen insgesamt. Auch hierin unterscheidet sich der Anarchismus von den sonstigen kommunistisch sozialistischen und noch stärker den sozialdemokratischen Varianten. In einer Zeit, die die immensen Kosten der kapitalistischen Furie des permanenten Wachstums eher begreifen lässt, wirken Überlegungen nicht von vornherein betulich, die freies Leben nicht erst in Zeiten des Überflusses von allem und jedem einschließlich der eigenen Arbeit vorsehen. Der Anarchismus Kropotkinscher Art beschränkt sich nicht auf eine Kapitalismus-Kritik als eine Kritik an einer klassenherrschaftlichen Produktionsform. Er geht darauf aus, die Lebensverhältnisse der Menschen in eher kleinen Gruppen insgesamt so zu produzieren und zu reproduzieren, dass individuelle und kollektive Autonomie und Autarkie zusammengehen.

Das, was K dazu aufgeschrieben hat, reicht in keiner Hinsicht aus. Weder in quantitativer, noch in qualitativer Hinsicht - von der anderen Situation Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nicht zu reden. Dennoch lohnt der auf Bewusstsein und Verhalten von Menschen insgesamt - im "ich" und dauernd im "wir" - ausgerichtete Ansatz aufgegriffen zu werden. Bekanntlich bestand eine der Hauptschwächen aller "realsozialistischen" Konzepte und ihrer Verwirklichungsstücke darin, dass sie sich vom privat verfassten Kapitalismus und seinem unschließbar gähnenden Hunger nach Mehrwert, im Ziel der "Überflussgesellschaft" und des dafür bedürftigen Wachstums viel zu wenig unterschieden.

d) Heiner Becker und Nicolaus Walter weisen in ihrer Einleitung zu den neu herausgegebenen Memoiren angemessen auf Widersprüche in Ks Konzeptionen und Verhaltensweisen hin. Jede Auseinandersetzung mit dem Anarchismus, die sich von seiner "monumentalen Wirkungslosigkeit" nicht abschrecken lässt - um Hobsbawms Kennzeichnung zu wiederholen -, jede Auseinandersetzung, die mit seiner Herrschaftskritik und seinem Versuch, Herrschaftslosigkeit zu organisieren sympathisiert, muss diese Widersprüche nüchtern zur Kenntnis nehmen, um sie, gewiss in neue Widersprüche fallend, möglichst zu überwinden. Einige dieser Widersprüche, zum Teil handelt es sich auch um Naivismen, die vor 100 Jahren und mehr verständlicher waren, als sie es heute wären, sollen knapp pointiert werden.

  • Quer durch Ks "Memoiren" und seine anderen Schriften zieht sich wie ein nicht befragter Grund ein schier unendliches Vertrauen in "die Massen" oder auch das "Volk". Dieses konkret Allgemeine Ks als seine hauptsächliche Bezugskategorie, ein Kollektiv voll der freien Personen, Freie Personen als Kollektiv - K gerät nie in Gefahr die faschistische Parole zu formulieren: du bist nichts, dein Volk ist alles -, besitzt den nicht zu überschätzenden Vorteil, dass K nicht elitär und nicht stellvertreterpolitisch argumentiert. Nicht für, sondern mit und in der Mitten, lautet die Devise. Anschaulich gibt Emma Goldman in ihrer Kritik an der Oktoberrevolution Ks Auffassung in der ihren zutreffend wieder. Seinerzeit schon begann der terreur zu galoppieren, der dann den Humanismus fraß bzw. zur repressiven Phrase degradierte. Indes, das Vertrauen in das "Volk" oder die "Masse", dessen soziale Konstitution und Organisation nicht einmal befragt werden, droht zu einem volkstümelnden Optimismus zu verflachen, der Gefahren und Kritik aussparen lässt;
  • in besagter 'Volkstümelei', die die sonst nachdrücklich beschriebenen Herrschaftsspuren verkennen macht, die Erbuntertänigkeit beispielsweise in den Erbuntertanen, kommt Ks allgemeiner, all sein Tun und Lassen durchziehender evolutionärer Glaube zum Ausdruck. In diesem ist K, so scheint es, ein typisches Kind des 19. Jahrhunderts. Und wie dies bei Evolutionsgläubigen der Fall zu sein pflegt, wird "die" Wirklichkeit ihr gemäss zugerichtet. So wie die Marx'sche Geschichte als "Geschichte der Klassenkämpfe" schließlich sozialistisch revolutionär sich überschlägt und im Kommunismus manifestiert, so wird K die Geschichte zu einer in der sich geradezu naturgesetzlich eine Welt voll der Assoziationen gegenseitiger Hilfe durchsetzt;
  • sein Evolutionsglaube verführt K seinen Anarchismus zeitgemäß als einen "wissenschaftlichen" zu begründen. Henning Ritter arbeitet in seinem schon zitierten Nachwort zur "Gegenseitigen Hilfe" die entsprechenden Inkongruenzen, vertuschten Gegenanzeigen und Zurechtrückungen Ks korrekt heraus. Ritter öffnet freilich sein Kritikkonto ungleich allein für K. Der vermeintlich "wissenschaftliche" Charakter seiner anarchistischen Annahmen begründet, erneut Marx trotz allen Unterschieden analog, Ks revolutionäre Hoffnungen. Seine Revolution war, wie es ihm schien, natur-geschichtlich gegründet;
  • vor diesem Hintergrund von Annahmen verstehen sich Halbwidersprüche mit für K begrenzten Konsequenzen. So wird von K immer wieder die Frage der Gewalt zum Thema. Gewalt und gegenseitige Hilfe schließen sich erkenntlich aus. Auch wer, und sei es nur implizit, das Formargument ernst nimmt, kann anarchistisch positiv nicht der Gewalt sich zukehren. Für sie gilt analog, was zur staatlichen Herrschaft und ihrer Ablehnung gesagt wurde. Dennoch fehlt bei K eine eindeutige Äußerung. So versteht es sich auch, dass K 1917, anlässlich der Februarrevolution in Russland, für die Fortsetzung des Krieges eingetreten ist und die Kerenski-Regierung, gewiss ohne weitere Folgen, entsprechend beraten hat - zur Enttäuschung vieler Anarchisten. Zu recht, wie ich meine.


Diese und andere Widersprüche und Naivismen wird man heute beachten und hinter sich lassen müssen, wenn man an anarchistischen Konzeptionen kindlich, denn alle Kinder sind 'geborene' Anarchisten, und erwachsen erfahren alles andere als kindisch festhalten will. Versteht man Menschenrechte nicht wie einen fixgestirnten Himmel über uns, sondern als konkret allgemeine Normen, an denen sich die Lebenssituationen der Menschen je spezifisch in allen Facetten ihres sozialen Kontextes auszurichten hat, dann folgt die anarchistische Orientierung geradezu von selbst. Dann kommt es heute mehr denn je und unnaiv darauf an, in Ks Geist geradezu extremistisch formbewusst, dauernd darüber nachzudenken, wie Gesellschaft heute frei und das heißt auch friedsam organisiert werden könne. Dann ist es erforderlich, der monomentalen Wirkungslosigkeit seither eingedenk, Schritt für Schritt das, was gesellschaftlich zu organisieren ist, zu praktizieren. Anarchismus ist immer zugleich eine Kopf- und eine Herzensgeburt. In diesem Sinne müssen Anarchisten heute, im Gegensatz zu einem Gutteil ihrer meist füglich missverstandenen Tradition, all ihre Vorstellungskraft zusammennehmen, um Gesellschaft, um sich selbst in herrschaftsvoller Gesellschaft, kapitalistisch und staatlich zugleich, assoziativ zu organisieren.

"Die Komplizität und die Verbundenheit, die die Revolte entdeckt, können nur in freiem Dialog leben", so Albert Camus im L'Homme révolté (7). Jede Doppeldeutigkeit, jedes Missverständnis führt den Tod herbei; nur die klare Sprache, das einfache Wort kann davor bewahren. (...) Auf der Bühne wie im Leben geht der Monolog dem Tod voraus. Jeder Revoltierende plädiert also, allein durch seine Erhebung im Angesicht des Unterdrückers, für das Leben, verpflichtet sich, gegen die Knechtschaft, die Lüge und den Terror zu kämpfen, und bekräftigt blitzartig, dass diese drei Plagen das Schweigen zwischen den Menschen herrschen lassen, einen vor dem anderen verdunkeln und sie hindern, sich im einzigen Wort zusammenzufinden, der sie vor dem Nihilismus retten könnte: der Komplizität der Menschen, die mit ihrem Schicksal ringen."

In diesem Sinne andauernd: Peter Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs, mitten im Leben heute.

Artikel von Wolf-Dieter Narr

Die Kropotkinschen Memoiren sind zweibändig 2002 beim UNRAST-Verlag in Münster neu erschienen (1).


Fußnoten:
(1) Die letzte, nicht mehr im Buchhandel befindliche Ausgabe ist 1969 bei Suhrkamp, übersetzt von Max Pannwitz mit einem Nachwort des Kropotkin-Biographen George Woodcock herausgekommen.
(2) Vgl. Max Nettlau: Der Anarchismus von Proudhon bis Kropotkin. Seine historische Entwicklung in den Jahren 1859-1880, hrsg. von Heiner Becker, Geschichte der Anarchie Bd. 2, Duisburg 1993
(3) Vgl. auch die zeitgenössischen Beobachtungen von Emma Goldman: Erinnerungen an Peter Kropotkin, in: Niedergang der russischen Revolution, Berlin 1987, S.71-84
(4) Für eine neuerliche Information, die ich, kein Spezialist, zur Kenntnis genommen habe, vgl. Robert Service: Russia. Experiment with a People, 2002
(5) Vgl. K.: Landwirtschaft, Industrie und Handwerk oder Die Vereinigung von Industrie und Landwirtschaft, von geistiger und körperlicher Arbeit, Berlin 1976
(6) Gegenseitige Hilfe 112, kritisch zur Art der durchgehenden Darwin-Korrespondenz s. Ritters Nachwort S.313 ff.
(7) Der Mensch in der Revolte, zit. nach der Rowohltausgabe 1991, S.229 f.

Aus: Graswurzelrevolution Nr. 280 Juni 2003

Überarbeitet nach: http://www.graswurzel.net/280/kropotkin.shtml


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