Peter Kropotkin - Grundprinzipien des Sozialistischen Anarchismus

Unsere Haupttätigkeit bestand jedoch in der Ausgestaltung des anarchistischen Sozialismus nach der praktischen und theoretischen Seite hin, und in dieser Beziehung hat der Bund (die Jura-Föderation. A.V.B.) zweifellos etwas Dauerndes geschaffen.

Wir bemerkten bei den gesitteten Völkern den Keim zu einer neuen Gesellschaftsform, der die alte weichen mußte. Diese neue Gesellschaft besteht aus einander gleichgestellten Mitgliedern, die nicht mehr gezwungen sind, Hand und Kopf an andere zu verkaufen und von diesen in beliebiger, planloser Weise ausnützen zu lassen; sie können vielmehr ihre Kenntnisse und Fähigkeiten zielbewußt der Produktion zuwenden im Rahmen eines Organismus, der vermöge seines Aufbaues alle auf die Gewinnung des größtmöglichen Gesamtbetrages der allgemeinen Wohlfahrt gerichteten Bestrebungen zusammenfaßt und dabei für die individuelle Initiative vollen Spielraum läßt. Dieser Organismus zergliedert sich in eine Vielheit von Assoziationen, die sich zu allen gemeinsame Arbeit erfordernden Zwecken zusammenschließen: zu Gewerbebünden zum Zwecke der Produktion jeder Art, der landwirtschaftlichen, industriellen, rein geistigen oder künstlerischen; zu Konsumgemeinden, die für Wohnungen, für Beleuchtung und Heizung, für Nahrungsmittel, sanitäre Einrichtungen usw. Sorge tragen; zu Vereinigungen dieser Kommunen wie der Gewerbeorganisationen untereinander. Endlich bilden sich noch weitere, auf ein ganzes Land oder auf mehrere Länder sich erstreckende Gruppen, deren Mitglieder in gemeinsamer Arbeit die Befriedigung wirtschaftlicher, geistiger, künstlerischer und sittlicher Anforderungen, soweit sie über ein bestimmtes Gebiet hinausgreifen, erstreben. Alle diese Gruppen wirken in freier gegenseitiger Vereinbarung zusammen, ganz wie jetzt die Eisenbahngesellschaften oder die Postverwaltungen der verschiedenen Länder zusammenarbeiten, ohne daß eine Zentralbehörde für Eisenbahnen oder Posten bestände, und obwohl jene rein egoistische Zwecke verfolgen und diese zu verschiedenen, oft einander Feindlichen Staaten gehören, oder wie die Meteorologen; die Alpenvereine, die englischen Lebensrettungsstationen, die Radfahrer, die Lehrer usw. miteinander zu gemeinnützigen, zu rein geistigen Zwecken oder auch nur des Vergnügens halber einander die Hände reichen. Es besteht volle Freiheit zur Entwicklung neuer Formen in der Produktion, Erfindung und Organisation, die individuelle Initiative findet Anregung und Unterstützung, während der Neigung zur Gleichförmigkeit und Vereinheitlichung entgegengearbeitet wird.

Überdies kristallisiert sich diese Gesellschaft nicht in bestimmten, unveränderlichen Formen, sondern ist als lebensvoller, sich ausgestaltender Organismus beständig im Flusse. Nach einer Regierung besteht kein Bedürfnis, weil man durch freie Vereinbarung und Verbindung alle Aufgaben erfüllt, für die heute die Regierungen unentbehrlich zu sein glauben, und weil einerseits die Ursachen zu Konflikten naturgemäß seltener werden und man diese andererseits, soweit sie doch vorkommen, schiedsgerichtlich beilegen kann.

Keiner von uns suchte die Bedeutung und Tiefe der Änderung, die wir anstrebten, geringer als sie war, darzustellen. Wir erkannten, daß die laufenden Ansichten über die Notwendigkeit des Privateigentums an Land, Bergwerken, Fabriken, Wohnhäusern und so fort als Mittel zur Sicherung des industriellen Fortschritts wie des Lohnsystems, als Mittel zum Antrieb zur Arbeit, nicht so bald den höheren Vorstellungen von sozialisiertem Eigentum und sozialisierter Produktion Raum geben würden. Wir wußten, daß es einer rastlosen Propaganda, und fortgesetzter Kämpfe, individuellen wie gemeinsamen Ansturmes gegen die jetzt vorherrschenden Formen des Eigentums, daß es individueller Aufopferung bedürfe und daß es hier und da zu Revolutionen und Gegenrevolutionen kommen würde, bis die heutigen Anschauungen über das Privateigentum sich änderten. Es war uns auch klar, daß die jetzigen Ideen von der Notwendigkeit der Autorität, in denen wir alle aufgewachsen sind, nicht sofort und völlig von der gesitteten Welt über Bord geworfen werden würden und könnten. Offenbar mußte eine jahrelange Propaganda und eine lange fortgesetzte Reihe von Kämpfen gegen die Autorität sowie eine vollständige Revision der jetzt von der geschichtlichen Erfahrung abgeleiteten Lehren vorhergehen, ehe die Menschen der Erkenntnis fähig waren, daß sie fälschlicherweise ihren Herrschern und ihren Gesetzen zuschrieben, was in Wahrheit ein Ergebnis ihrer eigenen sozialen Gefühle und Gewohnheiten war. Das alles war uns bekannt. Aber wir wußten auch, daß wir von der vorwärtsdrängenden Flut des Fortschrittes der Menschheit getragen wurden, wenn wir nach jenen beiden Richtungen eine Änderung anstrebten.

Bei näherer Bekanntschaft mit den Arbeitern und den mit ihnen fühlenden Vertretern der gebildeteren Klassen erkannte ich bald, daß ihnen ihre persönliche Freiheit noch höher stand als ihr persönliches Wohlergehen. Vor fünfzig Jahren hätten sie ihre persönliche Freiheit gegen das Versprechen materieller Wohlfahrt unbedenklich an jeden Herrscher, selbst an einen Cäsar, verkauft, aber das war jetzt anders. Ich sah, daß der blinde Glaube an erwählte Führer, sollten sie auch den Reihen der besten Arbeiterführer entnommen sein, unter den romanischen Arbeitern immer mehr dahinschwand. „Zuerst müssen wir wissen, was uns not tut, und dann können wir es am besten selbst ausführen“ - Dieser Gedanke war nach meiner Erfahrung stark unter ihnen verbreitet - viel mehr, als man gewöhnlich glaubt. Der in die Satzungen der Internationalen Assoziation aufgenommene Satz: „Die Befreiung der Arbeiter muß durch die Arbeiter selbst erfolgen“ - hatte allgemeinen Anklang gefunden und in den Geistern Wurzel gefaßt, und die traurige Erfahrung der Pariser Kommune hatte diese Ansicht nur verstärkt.

Beim Ausbruch des Aufstandes waren zahlreiche Vertreter der Mittelklassen willens, in sozialer Richtung einen neuen Ansatz zu machen oder ihn wenigstens zu dulden. „Als mein Bruder und ich unser kleines Zimmer verließen und auf die Straße traten“, erzählte mir einmal Elysee Reclus, „richteten Leute aus den wohlhabenderen Klassen von allen Seiten die Frage an uns: „Sagt uns, was nun zu tun ist! Wir sind zu einem Versuch in neuer Richtung bereite aber wir wußten ihnen noch keine Vorschläge zu machen.“

Noch niemals waren in einer Regierung alle fortschrittlichen Parteien so gleichmäßig vertreten gewesen, wie in dem am 2.5. März 1871 erwählten Ausschuß der Kommune. Alle Schattierungen von Revolutionären, Blanquisten, Jakobiner, Internationale, fanden sich darin im rechten Verhältnis. Aber weil die Arbeiter selbst keine klaren sozialen Reformideen besaßen, die sie ihren Vertretern hätten einflößen können, so tat die Regierung der Kommune in dieser Richtung nichts. Schon die Tatsache, daß die Erwählten ohne Fühlung mit der großen Masse im Stadthause eingeschlossen waren, verurteilte sie zur Unfruchtbarkeit. Die Kommune hat es klarer als je bewiesen, daß gerade davon der Erfolg des Sozialismus abhing, daß die Gedanken der Herrschaftslosigkeit, der Selbständigkeit, der freien Initiative des einzelnen - in einem Wort: des Anarchismus - zugleich mit den Lehren vom gemeinsamen Eigentum und von sozialisierter Produktion verkündet wurden.

Wir verkannten nicht, daß wir bei der dem einzelnen gewährten vollen Freiheit des Gedankenausdrucks wie des Handelns bis zu einem gewissen Grade auf eine Übertreibung unserer Grundsätze gefaßt sein mußten. Schon bei der nihilistischen Bewegung hatte ich das in Rußland gesehen. Aber wir hegten das Vertrauen - und die Erfahrung hat uns darin recht gegeben -, das soziale Leben selbst würde im Verein mit einer freien, ungeschminkten Kritik der Meinungen und Handlungen das wirksamste Mittel zur Abschleifung der unvermeidlichen Übertreibungen sein. Wir handelten also gemäß dem alten Worte, daß Freiheit noch das beste Heilmittel für die gelegentlichen Auswüchse der Freiheit bleibe. Es trägt der Mensch in sich als noch nicht genügend gewürdigtes Erbteil aus der Vergangenheit einen Kern sozialer Gewohnheiten und Anstauungen, der nicht auf äußeren Zwangsmitteln beruht, sondern über sie erhaben ist. Auf ihn gründet sich aller Fortschritt der Menschheit, und solange die Menschen nicht körperlich und geistig entarten, wird er nicht zugrundegehen trotz allem Übermaß der Kritik und gelegentlichen tätlichen Übergriffen. In diesen Ansichten befestigte ich mich immer mehr, je besser ich Menschen und Dinge kennenlernte.

Es war uns zugleich klar, daß eine solche Änderung nicht durch die Entwürfe eines genialen Mannes erwirkt, daß sie nicht von einem einzelnen gewissermaßen in fertigem Zustande entdeckt werden konnte, sondern daß sie das Ergebnis der konstruktiven Arbeit der Massen sein müßte, geradeso wie die im frühen Mittelalter herrschenden Formen des Gerichtsverfahrens, der Dorfgemeinde, der Gilde und des Stadtwesens oder die Grundlagen des internationalen Rechtes vom Volke selbst allmählich ausgearbeitet worden sind.

Aus: Peter Kropotkin - Die Freie Vereinbarung. Ein anarchistisches Organisationsprinzip. Broschüre des Packpapier - Verlags. Der Textauszug ergänzt dort einen ausführlicheren Text zu dieser Thematik.

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