Peter Kropotkin - Die Verteilung der Industrie über das Land

Warum sollten nicht die Baumwollstoffe, das Wolltuch und die Seidenwaren, die jetzt in den Dörfern mit der Hand gewebt werden, in den selben Dörfern mit der Maschine gewebt werden, ohne daß die Dorfbewohner darum aufhören, mit Feldarbeit in Verbindung zu bleiben? Warum sollten nicht hunderte von Hausindustrien, die jetzt gänzlich mit der Hand betrieben werden, zu den arbeitsparenden Maschinen übergehen, wie sie es bereits in den Stickereigewerben und vielen andern tun? Es gibt keinen Grund, warum nicht der kleine Motor viel allgemeiner als jetzt überall da verwendet werden könnte, wo es nicht not tut, eine Fabrik zu haben; und ebenso gibt es keinen Grund, warum nicht das Dorf seine kleine Fabrik überall da haben sollte, wo die Fabrikarbeit vorzuziehen ist, wie wir es jetzt schon manchmal in französischen Dörfern finden.

Noch mehr: es gibt keinen Grund, warum nicht die Fabrik, mit ihrer motorischen Kraft und ihrer Maschinerie, der Gemeinde gehören sollte, wie es schon hinsichtlich der Kraftanlage in den oben erwähnten Werkstellen und kleinen Fabriken in dem französischen Teil des Jura der Fall ist. Es ist offenbar, daß jetzt, unter dem kapitalistischen System, die Fabrik der Fluch des Dorfes ist, da sie es dahin bringt, daß die Kinder sich überarbeiten und die männlichen Einwohner verarmen; und es ist ganz natürlich, daß die arbeitende Bevölkerung sich ihr in jeder Weise entgegenstemmt, wenn es ihr gelungen ist, die altüberlieferten Organisationen ihrer Gewerbe zu erhalten (wie in Sheffield oder Solingen), oder wenn sie bisher noch nicht dem nackten Elend preisgegeben ist (wie im Jura). Aber unter einer rationelleren sozialen Organisation würde die Fabrik auf keine solchen Hindernisse stoßen: sie wäre ein Segen für das Dorf. Und es ist schon jetzt eine unverkennbare Tatsache, daß eine Bewegung in dieser Richtung in einigen Dorfgemeinden bereits im Gange ist.

Die moralischen und physischen Vorteile, die sich für den Menschen aus einer Teilung seiner Arbeit zwischen Acker und Werkstatt ergeben würden, liegen auf der Hand. Aber die Schwierigkeit liegt, so sagt man uns, in der notwendigen Zentralisation der modernen Industrien. In der Industrie wie in der Politik hat die Zentralisation so viele Verehrer! Aber auf beiden Gebieten bedarf das Ideal der Zentralisten dringend der Korrektur.

Wenn wir in der Tat den modernen Industrien auf den Grund gehen, dann finden wir bald heraus, daß für einige allerdings das Zusammenarbeiten von hunderten oder sogar tausenden auf demselben Fleck wirklich notwendig ist. Die großen Eisenwerke und Bergwerksunternehmen gehören entschieden zu dieser Kategorie; Ozeandampfer können nicht in dörflichen Fabriken gebaut werden. Aber sehr viele unserer großen Fabriken sind nichts anderes als Ansammlungen mehrerer verschiedener Industrien unter gemeinsamer Leitung; während viele andere bloße Ansammlungen von hunderten von Exemplaren derselben Maschine sind; so sind die meisten unserer riesenhaften Spinnereien und Webereien. Da die Fabrik ein streng privates Unternehmen ist, finden es ihre Eigentümer vorteilhaft, alle Zweige einer bestimmten Industrie unter ihrer eigenen Leitung zu haben; so häufen sie die Gewinne aus den verschiedenen Verwandlungen des Rohmaterials. Und wenn mehrere tausend mechanische Webstühle in einer Fabrik vereinigt sind, findet der Unternehmer seinen Vorteil dabei, da er dadurch imstande ist, den Markt zu beherrschen.

Aber vom technischen Standpunkt aus sind die Vorteile einer solchen Häufung unbedeutend und oft zweifelhaft. Selbst eine so zentralisierte Industrie wie die Baumwollbranche leidet nicht im geringsten darunter, daß der Produktionsprozeß einer bestimmten Warengattung in seinen verschiedenen Stadien unter mehrere getrennte Fabriken verteilt wird: wir sehen es in Manchester und seinen Nachbarstädten. Was das Kleingewerbe angeht, so hat man in einer noch größeren Unterteilung bei den Werkstätten in der Uhrenindustrie und sehr vielen andern keinen Nachteil finden können.

Wir hören oft, eine Pferdekraft sei in einer kleinen Maschine so teuer, und in einer zehnmal so starken Maschine so viel billiger; das Pfund Baumwollgarn koste viel weniger, wenn die Fabrik die Zahl ihrer Spindeln verdoppele. Aber nach der Meinung der besten Autoritäten im Ingenierfach, wie z.B. des Professors Unwin, beseitigt die hydraulische und besonders die elektrische Kraftübertragung von einen Zentralstation aus den ersten Teil des Argumentes. Was den zweiten Teil angeht, so taugen Berechnungen dieser Art nur etwas für die Industrien, die das halbfertige Produkt für weitere Umwandlungen herstellen.

Was die zahllosen Warengattungen angeht, deren Wert hauptsächlich aus der Mitwirkung gelernter Arbeit stammt, so können sie am besten in kleineren Fabriken hergestellt werden, die ein paar Hundert oder auch nur ein paar Dutzend Arbeiter beschäftigen. Selbst unter den jetzigen Zuständen haben die Riesenfabriken große Unzuträglichkeiten im Gefolge, da sie ihre Maschinerie nicht schnell den stets wechselnden Anforderungen der Abnehmer entsprechend umwandeln können. Wie viele Zusammenbrüche großer Unternehmungen sind auf diese Ursache zurückzuführen!

Was die neuen Industriezweige angeht, die ich zu Anfang des vorigen Kapitels erwähnt habe, so müssen sie immer in kleinem Maßstab anfangen; und sie können in kleinen Städtchen ebensogut vorwärts kommen wie in der Großstadt, wenn die kleineren Gemeinwesen Einrichtungen haben, die den künstlerischen Geschmack und die Erfindungsgabe anregen. Der Fortschritt, der in letzter Zeit in der Spielwarenindustrie erreicht wurde, ferner die hohe Vollendung, zu der die Fabrikation physikalischer und optischer Instrumente, die Möbelindustrie, die Herstellung kleiner Luxusartikel, die Töpferei gelangte, sind hierher gehörige Beispiele. Kunst und Wissenschaft sind nicht länger das Monopol der Großstädte, und in ihrer Zerstreuung über das ganze Land werden weitere Fortschritte gemacht werden.

Die geographische Verteilung der Industrieen in einem bestimmten Lande hängt offenbar zu großem Teil von einem Zusammentreffen von Naturbedingungen ab; es ist offenbar, daß es Orte gibt, die für die Entwickelung bestimmter Industrien am besten geeignet sind. Die Ufer des Clyde und des Tyne sind sicher für Schiffsbauwerften hervorragend geeignet, und solche Werften müssen von einer Menge Werkstätten und Fabriken umgürtet werden. Die Industrien werden immer gewisse Vorteile darin finden, bis zu einer bestimmten Grenze den natürlichen Eigenschaften bestimmter Gegenden entsprechend sich zu gruppieren. Aber wir müssen zugeben, daß sie jetzt nicht diesen Eigenschaften gemäß gruppiert sind. Historische Ursachen — hauptsächlich Religionskriege und nationale Eifersucht — haben zu ihrem Wachsen und ihrer gegenwärtigen Verteilung viel beigetragen, und noch mehr Erwägungen, die sich auf die Leichtigkeit des Verkaufs und Exports beziehen; also Erwägungen, die eben dabei sind, ihren Wert mit der wachsenden Erleichterung des Transports zu verlieren, und die ihn noch mehr verlieren werden, wenn die Produzenten für sich selbst produzieren und nicht für weit entfernte Abnehmer. Warum soll in einer vernünftig organisierten Gesellschaft London ein großes Zentrum der Marmeladen- und Konservenfabrikation bleiben, warum soll es Schirme für fast das ganze Vereinigte Königreich herstellen?

Warum sollen die zahllosen Kleingewerbe Whitechapels bleiben, wo sie sind, anstatt sich über das ganze Land zu zerstreuen? Es liegt nicht der geringste Grund vor, warum die Mäntel, die die englischen Damen tragen, in Berlin und Whitechapel eher als in Devonshire oder Derbyshire genäht werden sollen. Warum soll Paris den Zucker für fast ganz Frankreich raffinieren? Warum soll die Hälfte der Schuhe und Stiefel, die in den Vereinigten Staaten getragen werden, in den 1500 Werkstätten von Massachusets hergestellt werden? Es gibt absolut nicht den geringsten Grund, warum diese und ähnliche Sinnlosigkeiten bestehen bleiben sollen. Die Industrien müssen sich über die ganze Welt verstreuen, und ihrer Zerstreuung unter alle zivilisierten Nationen wird eine weitere Zerstreuung innerhalb des Gebietes einer jeden Nation notwendig folgen.

Die Landwirtschaft braucht die Hilfe derer, die in den Städten wohnen, so notwendig, daß in jedem Sommer Tausende ihre Schlupfwinkel und Mietskasernen in den Städten verlassen und während der Erntezeit aufs Land gehen. Die Londoner Armen gehen zu Tausenden nach Kent und Sussex als Heumäher und Hopfenpflücker; es wird geschätzt, daß Kent allein 80000 männliche und weibliche Hilfskräfte zum Hopfenpflücken braucht; ganze Dörfer in Frankreich und ihre Hausindustrien werden im Sommer verlassen und die Bauern wandern nach den fruchtbaren Teilen des Landes; hunderttausende werden in jedem Sommer nach den Prärien Manitobas und Dakotas befördert; und in Rußland findet alljährlich eine Wanderung von mehreren Millionen Menschen statt, die aus dem Norden nach den südlichen Prärien reisen, um die Ernte einzubringen, und viele Fabrikanten in St.Petersburg schränken im Sommer ihre Produktion ein, weil die Arbeiter zur Bestellung der ihnen zugewiesenen Grundstücke in ihre Heimatsdörfer zurückkehren. Die  Landwirtschaff kann nicht ohne Extrakräfte im Sommer betrieben werden; aber noch mehr braucht sie vorübergehende Hilfskräfte für die Verbesserung des Bodens, für die Verzehnfachung seiner Ertragsfähigkeit. Der Dampfpflug, die Drainage und die Düngung würden den schweren Lehm im Nordwesten Londons zu einem viel reicheren Boden machen, als es der in den amerikanischen Prärien ist. Um fruchtbar zu werden, braucht dieser Boden nur einfache, ungelernte Menschenarbeit, wie sie erforderlich ist, um den Boden umzugraben, Drainagerohre anzulegen, Phosphorite zu pulverisieren und dergleichen; und diese Arbeit würde von den Fabrikarbeitern mit Freude getan werden, wenn sie in einer freien Gemeinschaft zum Nutzen der ganzen Gesellschaft richtig organisiert wäre. Der Boden verlangt diese Hilfe, und er hätte sie in einer richtigen Organi- [... Fehltext im Original] zu diesem Zweck im Sommer zu schließen. Ohne Zweifel würden es die jetzigen Fabrikbesitzer für ihren Ruin halten, wenn sie ihre Werke mehrere Monate im Jahr schließen müßten, weil von dem Kapital, das in einer Fabrik angelegt ist, erwartet wird, daß es jeden Tag und, wenn möglich, jede Stunde Geld heckt. Aber das ist der Gesichtspunkt des Kapitalisten, nicht der Gemeinschaft. Was die Arbeiter angeht, die die wirklichen Leiter der Industrien sein sollten, so werden sie es gesund finden, nicht dieselbe monotone Arbeit das ganze Jahr über zu verrichten; sie werden sie im Sommer gern verlassen, wenn sie nicht etwa Mittel und Wege finden, den Betrieb der Fabrik aufrecht zu erhalten, indem sie einander gruppenweise ablösen.

Die Verteilung der Industrien über das Land — sodaß die Fabrik mitten zwischen die Felder gestellt ist, daß die Landwirtschaft all die Vorteile genießt, die sie immer in der Verbindung mit der Industrie findet (siehe die Oststaaten Amerikas), und daß eine Vereinigung von Industriearbeit und Landarbeit hergestellt wird — das ist fraglos der erste Schritt, der getan wird, sowie eine Erneuerung unserer gegenwärtigen Zustände möglich ist. Man fängt jetzt schon an, ihn zu tun, wie wir auf den vorhergehenden Blättern sahen. Diesen Schritt legt die Notwendigkeit auf, für die Produzenten selbst zu produzieren: ihn legt die Notwendigkeit auf, daß jeder gesunde Mensch einen Teil seines Lebens mit Handarbeit in freier Luft verbringen soll; und er wird erst recht notwendig werden, wenn die großen sozialen Umwälzungen, die nun unvermeidlich geworden sind, den internationalen Handel unserer Zeit in Unordnung gebracht haben werden, sodaß jedes Volk gezwungen sein wird, zu seiner Erhaltung zu den eigenen Quellen zurückzukehren. Die Menschheit im Ganzen wie jedes einzelne Individuum werden bei dem Wandel gewinnen, und der Wandel wird eintreten.

Indessen schließt eine solche Umwandlung auch eine vollständige Änderung in unserem gegenwärtigen Erziehungssystem ein. Sie bedeutet eine Gesellschaft, die aus Männern und Frauen zusammengesetzt ist, von denen jeder und jede imstande ist, mit eigenen Händen wie mit eigenem Hirn zu arbeiten, und zwar in mehr als einer Richtung.

Anmerkung:
*) Wir geben hier ein Probestück aus Kropotkins Buch: "Landwirtschaft, Industrie und Handwerk" , das wir jedem unserer Leser dringend zur Anschaffung empfehlen. Es ist 275 Seiten stark und kostet gebunden für die Leser des "Sozialist" nur eine Mark.

Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 8, 15.4.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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