Pierre-Joseph Proudhon - Sozialismus gegen Politik (Oktober 1948)

Gegen das Ende des Mittelalters erschien ein Buch, ein seltsames Buch, das lateinisch geschrieben war und den Titel trug: De auferibilitate papae, das heißt: Untersuchung, ob es den Christen möglich sei, den Papst abzuschaffen.

In dieser gewissenhaften, unparteiischen, gelehrten, in der Logik und der Anführung von Autoritäten sehr starken Schrift untersuchte der Verfasser, der sich auf den Standpunkt gewisser Sektierer stellte, was aus der römischen Kirche, dem ganzen Katholizismus und demnach der Religion selbst werden müßte, wenn man, wie es Johann Huß und die andern wollten, das Papsttum unterdrückte.

Und er bewies und kam zu dem Schluß: Wenn die Autorität des Papstes erschüttert wird, muß die römische Kirche, deren Oberhaupt der Papst ist, sofort ihren Vorrang vor den anderen Kirchen verlieren: Der Katholizismus, dem dann der sichtbare Mittelpunkt und die Einheit fehlt, wäre nur noch ein Sammelpunkt unter einander unabhängiger Kirchen, die an Autorität und Richtermacht einander gleich stünden; Keine dieser Kirchen könnte mehr von den andern gerichtet, getadelt oder verurteilt werden, und der Glaube verlöre alsdann seinen Charakter der Allgemeinheit und verwandelte sich aus einer notwendigen und allumfassenden Sache in eine individuelle und lokale;

Der christliche Glaube wäre vermöge der unaufhörlichen Bewegung und der nicht zu hemmenden Neugier des Menschengeistes, wenn er keine Leitung und kein traditionelles Schema mehr hätte, dem Wechsel, der Unbeständigkeit, den Neuerungen preisgegeben und drängte folglich einer unaufhaltsamen Auflösung entgegen; Da das Band der Kirche zerrisse und die Geister ohne Führung wären, würde das christliche Dogma die ganze Kette der Ketzereien durchlaufen und schließlich in allmählichem Abstieg in den Deismus münden; Der Deismus müßte mit Notwendigkeit zum Pantheismus führen; Der Pantheismus wäre nur eine Etappe auf dem Weg zum Atheismus. Der Atheismus müßte sich in den Skeptizismus auflösen, und dieser schließlich in den Nihilismus, in die Verneinung Gottes, des Menschen und der Welt!

Nach der Schlußfolgerung dieses Theologen also hing von der Anerkennung des Papstes die Existenz nicht nur des Katholizismus, auch nicht nur des christlichen Glaubens, sondern der natürlichen Religion, der Vernunft und der Philosophie ab. Zwischen dem Glauben an die Unfehlbarkeit des Papstes also und dem absoluten, dem verrücktesten Skeptizismus gab es keinen mittleren Ort, an dem die Vernunft sich aufhalten konnte; es galt, zwischen dem einen und dem andern zu wählen, wenn man sich nicht der geistigen Frivolität überlassen, das heißt nur ein trauriger Witzbold und unehrlicher Sophist sein wollte. Und seltsam: die Ereignisse haben der Prophezeihung dieses Theologen Recht gegeben. Überall, wo sich der Geist gegen den Papst aufgelehnt hat, hat sich der katholische und christliche Glaube allmählich in reinen Deismus aufgelöst; und da der Deismus, wie alle Meinungen der goldenen Mittelstraße des Spießbürgertums, nur eine Heuchelei ist, tauchte die übergroße Mehrheit in allen Völkern plötzlich in die Gleichgültigkeit und Frivolität unter. Es gibt in Wahrheit keinen einzigen Geistlichen der Augsburger Konfession, der die Gottheit Christi anerkennt: und es hat keinen einzigen gegeben, der den Mut gehabt hätte, sich als Skeptiker zu erklären.

Und genau so steht es bei den Katholiken. Man redet von Religion, man ruft Jesus Christus an, man betet zu Gott, man baut auf den Ewigen, man hofft auf das höchste Wesen. Heuchelei! Heuchelei! Wir glauben an nichts mehr; wir beten nichts an als unsere Laune und Willkür; wir haben so wenig Glauben wie wir glaubwürdig sind.

Und was in Europa vom Papst, das gilt in Asien vom großen Lama, vom Muphti, von jedem Priestertum und jeder Religion. Überall, wo man die sichtbare Autorität unterdrückt, vernichtet man den Glauben; und wenn der Glaube vernichtet ist, langt man entweder beim Nichts an oder man kommt zur Willkür und Frivolität.

Da es jedoch der Vernunft in gleicher Weise widerstrebt, sich in den absoluten Zweifel zu stürzen oder die Unfehlbarkeit des Papstes anzuerkennen, und da auf der andern Seite Erfahrung und Logik millionenmale gezeigt haben, daß es zwischen diesen Extremen keinen möglichen Aufenthalt, keinen anständigen Ort gibt, da hier eine ausgemachte Wahrheit, das erste Dogma jeder Philosophie vorliegt, — da dem so ist, mußte man außerhalb dieser verhängnisvollen Linie einen festen Punkt suchen, wo die Vernunft sich niederlassen könnte.

Folgendes hat man gefunden. Man hat entdeckt, daß dieses logische Verhängnis, das die Vernunft unweigerlich durch den Aberglauben zur Knechtschaft oder durch den Zweifel zum Selbstmord führte, seine Ursache in einer gewissen Krankheit oder Halluzination des Denkens hat, die in der Philosophensprache unter dem Namen Onto1ogie bekannt ist. Die Ontologie! Da hatte man, was die Verzweiflung der armen Christen und ebenso der Freidenker ausmachte, den Alpdruck der Vernunft und der Völker.

Man wird fragen: was ist das, die Ontologie? Die Ontologie ist eine Annahme, die zu bestreiten bis dahin keinem Menschen in den Sinn gekommen wäre, so selbstverständlich scheint sie! Diese Annahme besteht darin, daß die substantielle Verschiedenheit der Materie und des Geistes behauptet wird. ... Beruhigt euch, ich bin nicht geneigt, euch in die Abgründe der Metaphysik zu schleppen: für eine politische Flugschrift habe ich schon zu viel gesagt.*)

Ich wiederhole nur, und ich rufe die Erfahrung der vier letzten Jahrhunderte und die Frivolität des unsern zu Zeugen dafür an: für jeden, der an die Ontologie glaubt, für jeden, der die Wirklichkeit entweder der Materie oder des Geistes oder dieser beiden Naturen zusammen, aber in Trennung von einander, annimmt, gibt es keine Wahl: er ist entweder der Diener des Papstes oder ein Zweifler, für den es keinerlei Wahrheit gibt.

Für die hingegen, die die Autorität der Ontologie nicht anerkennen, die nämlich Materie und Geist nicht mehr als wirkliche Substanzen, sondern als die beiden unumgänglichen Seiten des Seins ansehen, für die, sage ich, ist die Befreiung eine völlige. Sie haben nichts mehr zu fürchten, von der Verderblichkeit des Papstes so wenig wie von den Verführungen Mephistos. Ihre Dialektik ist auf festen Boden gegründet und arbeitet, ohne zu wanken, an dem Bau des menschlichen Wissens, am Verständnis der Religion und des Fortschritts weiter.

Auf einem andern Gebiet, auf dem, das uns heute angeht, geht etwas ganz und gar Entsprechendes vor sich. Seit vierzehn Jahrhunderten stellt sich Frankreich die Frage de auferibilitate regis: ist es möglich, den König abzuschaffen? Und bis zum heutigen Tage hat es die Frage nicht lösen können.

Die geheime Neigung des Landes, die Unbeugsamkeit des Volkscharakters treibt die Geister immer der Demokratie zu; die Tatsachen und die Theorie führen sie stets wieder zum Despotismus, zur Autorität eines einzigen.

Für jeden, der sehen will, ist es klar, daß es zwischen der monarchischen Willkür und der allgemeinen Anarchie,**) zwei Extremen, die in gleicher Weise unerträglich sind, keinen Zwischenraum gibt: die es geglaubt haben, sind mit dem Ekelnamen Doktrinäre belegt worden; sie haben schon einmal die Republik, und drei oder vier Mal die Monarchie zu Grunde gerichtet.

Einerseits also hören wir nicht auf, das Königtum zu zertrümmern; auf der andern Seite erregt uns die Anarchie, die letzte Form der Demokratie, Schaudern. Die Monarchie ist in Frankreich unmöglich; jegliches Zwischending ist unmöglich; wir können nicht leben und nicht sterben, und wie um unsern untilgbaren Widerspruch zu bekräftigen, ist unser Wahlspruch zugleich "Freiheit und Ordnung"!

Eine armselige Philosophie ist es, für die revolutionären Erschütterungen unseres unglücklichen Vaterlandes bald die Dummheit, bald die Bösartigkeit der Fürsten oder die Korruption der Minister haftbar zu machen oder die Heftigkeit der demokratischen Leidenschaft und die Uneinigkeit der Demagogen anzuklagen. Wer so verfährt, erklärt den Sachverhalt mit dem Sachverhalt, führt als Grund der Revolution die Revolution an. Die Tyrannei und Unehrlichkeit des Monarchen wird von der organischen Unmöglichkeit des Systems geschaffen; der Grund für die Anarchie der Demokraten, der Grund dafür, daß das französische Volk, das mit Leib und Seele republikanisch ist, jetzt eben fluchend und scheltend daran geht, einen Präsidenten der Republik zu wählen und die Wiedereinführung des Königtums zu beginnen, ist die nämliche Unmöglichkeit. Wird es möglich sein, daß wir diesem verhängnisvollen Entweder — Oder entrinnen, das für das Volk ein ganz anderes Interesse hat als der Streit zwischen Papisten und Protestanten?

Ich kenne deine Ungeduld, Freund Leser, und will dich nicht warten lassen. Der Grund für die leidige Lage, in der wir jetzt wieder sind, nachdem wir schon so oft in sie gekommen waren, ist eine gewisse Meinungskrankheit, die seit dem frühen Altertum bekannt ist und die Aristoteles, der große Philosoph, der große Historiker, der große Naturforscher, mit dem Namen Politik belegt hat.

Die Politik ist in den menschlichen Beziehungen, was die Ontologie in der Heilsfrage ist: sie ist eine Hypothese, die aus der Regierung eine Sache nicht der Vernunft, sondern der Geschicklichkeit, nicht der Wissenschaft, sondern des Gefühls macht (nenne man dies Gefühl doch, wie man will: Ehrgeiz, Hochmut, Aufopferung oder Patriotismus) und immer das Bestreben hat, im Staat zwei Personen und zwei Willen zu unterscheiden: den einen, der denkt, und den andern, der ausführt.

Wenn nun etwas in der Philosophie und der Geschichte bewiesen ist, so ist es das: wie auch die Teilung vorgenommen wird, welche Art Gleichgewicht man auch zwischen den Befugnissen herstellt: ob man nun die ganze Nation zur Gesetzgeberin und souveränen Gewalt macht, den König zum einfachen Beauftragten, der ihren Willen auszuführen hat; oder ob der Despot allein will und befiehlt, was dann die Bürger auszuführen haben; oder schließlich, ob die gesetzgebende Gewalt einer oder mehreren Vertreterversammlungen, die Exekutive aber einem Rat von Direktoren oder Ministern anvertraut wird: immer wird damit, daß überhaupt eine Scheidung da ist, Gegensatz, Widerspruch, Unmöglichkeit da sein, immer wird es zur Revolution und Katastrophe kommen.

Denken und Tun müssen in der Regierung wie im Menschen unteilbar eins sein: das ist der Ausgangspunkt der neuen Kritik. In Anwendung dieses Prinzips übt die Nationalversammlung, die die Nation vertritt***), alle Gewalten aus, die ausführende Gewalt ganz ebenso wie die gesetzgebende, und zwar nicht, indem sie Minister delegieren (wie es die Amendements Grévy und Flocon voraussetzten, wie es die meisten Demokraten noch voraussetzen), sondern von sich aus, indem sie die Arbeit unter ihre Ausschüsse teilen, von denen jeder seinen Minister und seine Beamten ernennt, unter der Zustimmung und Kontrolle der Versammlung.

Noch mehr: da alle Bürger gleich sind, da also alle an der Regierung und am Gesetz teilhaben sollen, ergibt sich, daß Regierung und Gesetz aus einer exakten und mathematischen Wissenschaft hergeleitet werden sollen, die nichts Persönliches, Gelegentliches, Zufälliges mehr an sich hat, sondern die in ihren Grundsätzen und Schlüssen absolut ist und die Zustimmung aller Bürger zur Voraussetzung hat; keine andere Art der Beteiligung an der Regierung und am Gesetz ist in einer Demokratie von 36 Millionen Menschen möglich...

Dies ist, was die neuen Reformatoren, die im allgemeinen unter dem Namen der Sozialisten bekannter sind, über die Politik gesagt haben.

Die Sozialisten sind den Politikern entgegensetzt, wie die Idealisten, die die Ontologie leugnen, den Materialisten und Skeptikern. Für die ersten ist die Politik der Reihe nach und ohne daß etwas dazwischen möglich wäre, Anarchie oder Willkür; wie die Ontologie für die Idealisten das Papsttum oder der absolute Zweifel ist. Die Politiker ihrerseits wollen nichts anderes als die Willkür: ohne sie wären sie in der Tat nichts, das ist klar.

Der Sozialismus ist bestrebt, die Gesellschaft mit Hilfe von positivem Wissen zu leiten; die Politik ist nichts als Zufallslaune.

Der Sozialismus sagt zum Beispiel: Solange der Lohn des Arbeiters seinem Produkt nicht gleich ist, wird der Arbeiter beraubt, und die Produktion muß, anstatt Reichtum zu schaffen, Elend erzeugen. Das ist erwiesen; es ist so sicher wie daß zwei mal zwei vier ist. Es gilt also, eine Formel für die industrielle Betätigung zu finden, die alle Freiheiten achtet, jeder Fähigkeit gerecht wird und dennoch die Möglichkeit schafft, die Arbeit und den Lohn ins Gleichgewicht zu bringen. — Möglich, sagt die Politik, aber es ist nicht gut, von diesen Dingen zu sprechen; man muß der revolutionären Tradition folgen. Beschäftigen wir uns damit, die Minister abzusägen und die Präfekten zu wechseln!

Der Sozialismus sagt: Die wahre und wirkliche Brüderschaft der Völker besteht im freien Austausch ihrer Ideen, in der Zirkulation ihrer Produkte und im rechten Gleichgewicht ihres Austausches. Solange ihr nicht auf einen Schlag und durch die nämliche Operation in der Weltwirtschaft die Zölle abgeschafft und die nationale Arbeit garantiert habt, werden die Völker, ihr könnt tun, was ihr wollt, getrennte Interessen haben und durch Schranken geschieden sein: sie werden Feinde sein. — Auch möglich, versetzt die Politik, aber auf deine Handelsbilanz verstehe ich mich nicht und scheere mich den Teufel darum. Fangen wir einmal an, die Verträge von 1815 zu zerreißen; kommen wir Italien und Polen zu Hilfe; schicken wir eine Garnison nach Ancona!...

Der Sozialismus sagt weiter: Es gilt, den Kredit zu zentralisieren, den Zinsfuß herabzusetzen, den direkten und gegenseitigen Tausch ins Werk zu setzen. Denn das Recht auf Arbeit ist nichts anderes als das Recht aufs Kapital; Das Recht aufs Kapital kann heute, wo alles Eigentum ist, von denen, die nichts besitzen, nicht anders ausgeübt werden, als durch den Kredit; Und der Kredit ist da, wo die Hypothek fehlt, nichts anderes als der Tausch.

Solange ihr nicht Mittel gefunden habt, den Wohlstand für alle durch die Leichtigkeit der Zirkulation, die Erweiterung des Marktes, die Unentgeltlichkeit des Austausches zu schaffen, wird das Volk im Elend sein, wird es schlecht ernährt, schlecht gekleidet, schlechtbehaust sein, wird es lasterhaft, unwissend, allem Siechtum des Leibes und der Seele verfallen sein. Das ist so sicher wie das Einmaleins; es steht fest wie eine algebraische Proportion.

Und was geht mich die Algebra an? ruft die Politik ohne Besinnen. Ich verstehe nichts von deinen X. Ich werde vierhundert Millionen Assignaten ausgeben; die letzten Inhaber, denen sie angeschmiert werden, werden freilich übel dran sein; was liegt daran? Ich werde den Reichen eine Milliarde nehmen; den Bürgern, die keine Armen sind, wird's freilich schlecht gehen; was liegt daran? Ich werde die Erbschaft abschaffen; die armen Leute, die reiche Verwandte haben, werden freilich jammern; was liegt daran? Ich werde die Luxusartikel besteuern; die Arbeiter der Luxusindustrie werden freilich ruiniert werden; was liegt daran? Ich werde Nationalwerkstätten errichten; die freie Industrie wird freilich den Schaden haben; aber was liegt daran? Die freie Industrie geht die Nation nichts an. Glaube mir, ich verstehe mich auf die politische Ökonomie! Heißt sie nicht nach mir? Bin ich nicht ihre Patin?...

Der Sozialismus fährt fort: Die Geschäfte eines Volkes müssen verwaltet werden wie die einer Aktiengesellschaft, nach den Regeln der ökonomischen und kaufmännischen Wissenschaft; sie müssen von Beauftragten besorgt werden, deren Befugnisse genau festgelegt sind, die direkt von der Versammlung der Aktionäre gewählt und jederzeit von einem Aufsichtsrat kontrolliert werden. Die Autorität muß einheitlich und muß unpersönlich sein; die Funktionen müssen getrennt, die Arbeit geteilt, die Ämter gleichberechtigt sein...

Ich sage dir, antwortet die Politik, daß die politische Ökonomie die Dienerin der Politik ist; du aber, du schläferst das Volk ein, du bist gar kein Revolutionär. Ich sage: Verfassung, Verfassung, hörst du? das heißt Teilung der Gewalten, und du begegnest mir mit der Teilung der Ämter! ... Es handelt sich um die Regierung, und du sprichst vom Gleichgewicht! Wir halten an der Hierarchie, und du beschäftigst dich mit der Wirtschaft!

... Laß doch, du Träumer Sozialismus, die Welt gehen, wie sie geht, und kümmere dich um deine Sachen! Ah! ruft jetzt der Sozialismus, lügnerische Politik, heuchlerische Politik, ich kenne dich, ich weiß, was du begehrst! Du bist heute, was du vor sechzig Jahren warst; du willst die Geschichte immer wieder von neuem anfangen; unter dem Namen der Demokratie rufst du das Königtum. Schau her, erkennst du dich in diesem prophetischen Bild? Betrachte es!

Parallele Epochen der französischen Geschichte:

1789 - 1800

1848

Ludwig XVI., König

… Louis-Philipp, König

Mirabeau

Lamartine

Lafayette

Cavaignac

Robespierre

Ledru-Rollin

Barras

Thiers

Bonaparte, Kaiser

... Bonaparte, Kaiser****)


Ist es jetzt klar, daß du, wenn du für die Präsidentschaft stimmst, deine Stimme für die Monarchie abgibst? Ist es klar, daß dich Lamartine, Cavaignac und Ledru-Rollin, die sich's nicht einfallen lassen, geraden Weges zu Bonaparte führen? Ja oder nein, verfluchte Politik! Willst du die Sache des Volkes führen? Willst du Sozialistin sein? ...

Zwei Dinge haben jetzt schon die Zurückgebliebensten im Volke begriffen: erstens, daß die Präsidentschaft der Probierstein der Monarchie ist; das geben alle Demokraten zu; zweitens, daß man, wenn man eine Revolution bewerkstelligen will, Prinzipien haben muß. 1789 war die Revolution eine politische; sie hatte ihre politischen Prinzipien, die uns heute noch beherrschen. Im Jahre 1848 ist die Revolution eine wirtschaftliche und soziale; die politische Idee ist erschöpft; es gilt also, neue Prinzipien zu finden, Prinzipien, die in der Theorie absolut sind, die von der Gesellschaft jedoch nach Maßgabe ihrer Kräfte und ihrer Bedürfnisse ins Werk gesetzt werden.

Die Demokraten, die sich von ihrer politischen Laterne führen lassen, sind noch nicht so weit. Um die Prinzipien, von denen die neue Gesellschaft geleitet werden soll, kümmern sie sich wenig, oder vielmehr, sie leugnen sie. Sie erklären, sie seien vor allem Politiker, und wollen von der Politik leben. Allerdings, da das Volk nicht ganz und gar die selbe Stimmung hat, raunen sie einander zu, es wäre unpolitisch, den Sozialismus offen zurückzustoßen, und schnell geben sie ein Manifest heraus, — wenn man sie hört, das sozialistischste Manifest, das man sich denken kann.

Man lese nur:
Organisation der Arbeit durch den Staat;
Organisation der Banken durch den Staat;
Ausbeutung der Eisenbahnen durch den Staat;
Ausbeutung der Kanäle durch den Staat;
Ausbeutung der Bergwerke durch den Staat;
Ausbeutung des Versicherungswesens durch den Staat;
Kolonisation durch den Staat;
U.s.w. u.s.w. u.s.w. durch den Staat;
Nichts durch die Bürger, alles durch den Staat!

Umsonst ruft der Sozialismus ihnen zu, was sie wollen, sei reine Monarchie, vollendeter Despotismus; sie hören nicht. Der Staat ist an sich unproduktiv; er arbeitet nicht: tut nichts, man wird ihn zum Organisator machen.

Der Staat ist bankrott: er wird Kredit geben. Die Arbeiten, die der Staat unternimmt, sind fünfzig Prozent teurer als sonst: man will dem Staat die schwierigsten Unternehmungen anvertrauen. Der Sozialismus sagt, man müsse es durch die wirtschaftliche Umgestaltung dahin bringen, daß das Volk die Freiheit, die Gleichheit, die Brüderlichkeit produziert, wie es durch die Arbeit den Reichtum produziert. Die Politik konfisziert die Freiheit, nimmt mit der einen Hand dem Eigentum, was sie mit der andern dem Proletariat gibt; und das nennt sie Sozialismus!

Wie ist es möglich, daß das aus Rand und Band gebrachte und demoralisierte Volk nicht schließlich unheilvolle Entschlüsse faßt?

Vergebens weist der Sozialismus, der vor allem den Frieden sucht, der nur durch die Überzeugung siegen will und sich nur an die Vernunft wendet, auf die unheilvollen Folgen der politischen Abstimmung über die Präsidentschaft hin, auf den Ansporn, der den Hoffnungen der Royalisten gegeben wird, auf die Staatsstreiche, auf den Bürgerkrieg!

Die Politik will nichts hören. Sie meint, die Agitation sei dem politischen Leben nötig; sie braucht Lärm, Kundgebungen, Bewegungen. Wenn sie keine Ministerposten findet, bekommt sie wenigstens Stoff zu Debatten: da findet sie ihre Rechnung und ist zufrieden. Die Politik ist nichts anderes als die Taktik der Willkür; sie lebt nur von der Teilung der Gewalten und vom Streit um die Macht.

Wehe! Wenn das Volk nicht gesunden Menschenverstand genug hat, die Intriguen zu zerreißen, wird die Politik erreichen, was sie begehrt.

Anmerkungen:
*) Für eine politische Flugschrift! Diese tiefen, auf den Grund bohrenden Betrachtungen Proudhons sind in der Tat einer Artikelserie entnommen, die Pr. in seinem Blatt "Le Peuple" gegen die Einführung der Präsidentschaft in die Verfassung der eben gegründeten französischen Republik veröffentlichte. Von Proudhon, diesem meisterhaften Pamphletisten, könnten die Journalisten lernen, wenn sie zu lernen vermöchten, wie Journalismus nicht Seichtigkeit und Frivolität heißt, wie man keine Frage des Tages erledigen kann, ohne auch die großen, die ewigen Dinge zu rühren. Derselbe Artikel, in dem — an der Stelle, an der wir jetzt eben halten — die Grundfrage alles Menschendenkens berührt wird, beginnt mit den flammenden Worten blühender Beredsamkeit: „Muse des Pamphlets, der revolutionären Streitschrift, setz deine phrygische Mütze auf und schwinge die Pike! Auf, laßt uns die Marseillaise singen! Her zu mir, Desmoulins, zu mir, Rouget de l'Jsle, zu mir Chénier, Paul-Louis Courrier, Beranger, Cormenin! Leiht mir eure Züge und eure Glut! ... Die Gegenrevolution naht sich, ich sehe sie, voll vom Weine des Zorns der Könige, auf einem Geldsack sitzen. Männer der Arbeiterviertel, zu den Waffen! Männer des Bergs, gürtet euch! ... Läutet Sturm! Entzündet die Fackeln, wie i n den Nächten des Februar! ... Der Schall der Trompete erfülle mein Herz mit heiliger Glut!
Ich höre die Rufe der Monarchisten, der Lakaien des Kapitals, der Ausbeuter des Proletariats; feiert, preiset, ihr Sklaven, den Einzug eures Herrn! Freude, Freude und Wonne, der Präsident soll ernannt werden! Freude und Wonne: Es lebe der König! ..." (Der Übersetzer)
**) Zum Überfluß sei darauf hingewiesen, daß Proudhon das Wort „Anarchie" hier und im folgenden durchaus im Sinn von Durcheinander, Auflösung anwendet. Es ist bemerkenswert, daß er das Wort in der von ihm selbst durchgesetzten edeln Bedeutung der Herrschaftslosigkeit nur selten, gelegentlich und immer mit besonderer Betonung des Trotzes gebraucht hat. (Der Übersetzer)
***) Natürlich ist hier nicht von einer idealen Forderung für irgend eine Zukunft die Rede, sondern von der aus der Februarrevolution hervorgegangen Nationalversammlung des Jahres 1848, der Proudhon als Mitglied angehörte. (Der Übersetzer)
****) Die berühmte Prophezeihung Proudhons, über drei Jahre vor dem Staatsstreich, und einige Monate vor der Wahl Napoleon Bonapartes zum Präsidenten der Republik. (Der Übersetzer)

Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 14, 15.7.1910 und Nr. 15, 1.8.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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