Rudolf Rocker - Peter Kropotkin

Ein paar kurze Zeilen in der Presse brachten uns die erschütternde Nachricht von Kropotkins Tod, nachdem eine ähnliche Notiz, die schon vor einigen Wochen in zahlreichen Blättern erschienen war, sich als verfrüht herausstellte. Eine Lungenentzündung, die den achtundsiebzigjährigen Greis heimsuchte, war bereits glücklich überstanden, so dass die Ärzte erklärten, dass jede Gefahr vorüber sei. Da trat ein Rückschlag ein und machte dem Leben Kropotkins in der Nacht vom 8. Februar ein jähes Ende. Mit Kropotkin ist eine der repräsentativsten und markantesten Persönlichkeiten unserer Zeit dahingegangen, die in seltener Weise alle Eigenschaften eines hervorragenden und ernsten Forschers auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft und eines von tiefster Menschenliebe beseelten Idealisten in sich vereinigte. Den höchsten Kreisen der russischen Aristokratie entstammend, brachte er freudigen Herzens alle Vorrechte seines Standes zum Opfer, um für die Befreiung des Volkes zu kämpfen. Seine unterirdische Tätigkeit unter den Arbeitern Petersburgs, seine Leiden in den düstern Kasematten der Peter-Pauls-Festung, seine waghalsige Flucht aus dem Spitale der russischen Zwingburg, seine dreijährige Gefangenschaft in Frankreich und seine unermüdliche Tätigkeit für die Sache der Elenden und Unterdrückten, der er bis zum letzten Augenblicke seines Lebens treu geblieben ist, sind heute auch in Deutschland hinreichend bekannt.

Für den zeitgenössischen Sozialismus bedeutet der Tod Kropotkins einen Verlust, der überhaupt nicht auszugleichen ist, da keiner der heutigen sozialistischen Denker seinen Platz einnehmen könnte. Fragt man nach dem Wesenskern von Kropotkins Lehre, so findet man den Schlüssel zu seinen Ideen in seinem großartigen Werke "Die gegenseitige Hilfe - ein Faktor der Entwicklung". Diese grandiose Philosophie der menschlichen Solidarität, die das tiefste Innere unserer Seele mit unwiderstehlicher Macht ergreift, ist nicht das Ergebnis der spekulativen Betrachtungen eines weltfremden Gelehrten, sondern ein neuer lichtvoller Ausblick auf die Abspielung der sozialen Lebenserscheinungen an der Hand konkreter wissenschaftlicher Forschungen und Untersuchungen. Sie ist nicht nur eine glänzende Widerlegung der einseitigen und beschränkten Auslegungen von Darwins These über den Kampf ums Dasein, die den Vertretern des sogenannten "sozialen Darwinismus" mit Huxley an der Spitze die Möglichkeit gab, den düstern Weissagungen Malthus' vom "Tische des Lebens, der nicht für alle gedeckt ist", neuen Glanz zu verleihen und sie angeblich auf einer "wissenschaftlichen Grundlage " zu fundieren - nein, dieses Werk entwickelt auch die Grundzüge einer ganz neuen Betrachtung über den Ursprung der ethischen Empfindungen, die sich auf die wissenschaftliche Beobachtung der Natur stützt. Kropotkin zeigte uns, wie die Betätigung der gegenseitigen Hilfe in der Tier- und Menschenwelt nicht nur die Existenzmöglichkeit der Gattung erleichtert, sondern auch den einzelnen Individuen bessere Aussichten im Kampfe gegen feindliche Kräfte und Verhältnisse gibt, durch die Entwicklung ihrer Intelligenz und ihrer moralischen Empfindungen, welche beide im menschlichen Zusammenleben begründet sind. Der Mensch war nicht der Erfinder der Gesellschaft, die Gesellschaft und der Instinkt der Soziabilität oder Solidarität wurde ihm schon von jenen Gattungen als Erbschaft übermittelt, von denen er abstammt und die seiner Menschwerdung vorausgingen. Dieser Geist der Sozialbilität, der den breiten Massen schon zum Instinkt geworden ist, befruchtet die Initiative und die schöpferischen Tätigkeiten der Völker.

Der fortwährende Kampf zwischen Autorität und Freiheit, zwischen Staatssklaverei und freier Vereinigung, zwischen brutaler Gewalt und gegenseitiger Verständigung, der sich in allen Zeiten der Geschichte abspielte, ist nicht mehr wie eine Kundgebung zweier verschiedener Tendenzen in der Gesellschaft, die sich stets feindlich gegenüber stehen. Die erste Tendenz, welche die brutale Form des Kampfes ums Dasein vorstellt, ist ihrem Wesen nach antisozial und erstrebt stets die Unterwerfung und Ausbeutung der breiten Massen zugunsten privilegierter Minoritäten. Sie tritt stets auf in irgendeiner Form der Autorität und war immer ein Hindernis für jede kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung. Die zweite Tendenz entspringt den sozialen Instinkten der Massen; sie entwickelt ihren Betätigungstrieb und ihre schöpferische Initiative und legt in Tausenden von Einrichtungen Zeugnis ab für ihre kulturfördernden Kräfte.

Das Streben nach persönlicher Freiheit und wirtschaftlicher Sicherheit lebte immer in den Massen, obwohl sein Ausdruck oft dunkel und unklar blieb. Es findet heute seinen Ausdruck in dem politischen Radikalismus einerseits, der die Einflusssphäre des Staates möglichst eng beschränken will, und andererseits in den Bestrebungen des modernen Sozialismus, der die Formen des Besitzes einer Änderung unterziehen will. Die Anarchie ist die letzte Schlussfolgerung des politischen Radikalismus, indem sie den Staat im ganzen ausschaltet und dieses Ziel als die Quintessenz aller politischen Freiheit begreift. Der Kommunismus ist die äußerste Konsequenz des Sozialismus, indem er jedes Eigentumsmonopol ausmerzt, jede Form des Lohnsystems verwirft. Die Vereinigung von Kommunismus und Anarchie bildet den Inhalt des ganzen freiheitlichen Sozialismus, dessen hervorragendster Vertreter Kropotkin gewesen ist.

Die ersten Denker des Sozialismus während der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts waren förmlich hypnotisiert von der gewaltigen Entwicklung der Industrie und dem technischen Fortschritt auf allen Gebieten der industriellen Produktion. Daher kam es denn, dass sie der Industrie ihre Hauptaufmerksamkeit zuwandten und die Landwirtschaft sehr vernachlässigt haben. Ging doch ein Teil der russischen Marxisten später so weit, jede sozialistische Propaganda unter den Bauern prinzipiell zu verwerfen, da dieselben ihrer Meinung nach für den Sozialismus nicht empfänglich seien, solange sie nicht der Industrie zugeführt würden. Auch die Lehren der klassischen Nationalökonomie, die in der Arbeitsteilung und in der Zentralisation der Industrie eiserne Bestandteile der industriellen Entwicklung im allgemeinen erblickten und dieselben wie ein unfehlbares Dogma verteidigen, trugen viel dazu bei zu dieser einseitigen Bevorzugung der Industrie durch die sozialistischen Denker.

Auch in dieser Beziehung hat Kropotkin bahnbrechend gewirkt, indem er das Missverhältnis zwischen Industrie und Landwirtschaft zu heben suchte und einen normalen Ausgleich zwischen denselben erstrebte. Kropotkin verwarf die Theorie der Arbeitsteilung und bewies, dass dieselbe der Ertragfähigkeit der Produktion keineswegs günstig, sondern direkt hinderlich ist. Indem man vergaß dass die Produktion nur ein Mittel ist, das Leben angenehmer zu gestalten, aber keineswegs der Zweck des Lebens, gelangte man notwendigerweise zu der Auffassung, dass der Mensch für die Produktion und nicht die Produktion für den Menschen existiere. In diesem Sinne war die sogenannte Arbeitsteilung zwar eine sehr wichtige Voraussetzung für das kapitalistische Ausbeutungssystem, aber keinesfalls für den Sozialismus, der von einer direkt entgegengesetzten Auffassung ausging. Kropotkin predigte daher die Arbeitseinheit, die vielseitige und abwechselnde Beschäftigung des Menschen als die einzige Basis des Sozialismus Der Gelehrte Kropotkin berührt sich hier in wunderbarer Weise mit dem Künstler William Morris, beide erwarteten von der Arbeitseinheit eine Renaissance der menschlichen Rasse.

Aber Kropotkin zeigt uns auch an der Hand eines gewaltigen Materials konkrete Tatsachen, dass die Zentralisation der Industrien eine vorübergehende Erscheinungen unseres Wirtschaftslebens war und dass gerade die Verfeinerung unserer Technik und die fortschreitende Einstellung des produktiven Schaffens nach wissenschaftlichen Grundsätzen zu einer immer größeren Dezentralisation der Industrien führt. Das Streben nach industrieller Selbständigkeit, welches heute alle Völker erfasst hat, fördert diesen Prozeß der Dezentralisation in ungeahnter Weise und gibt somit der wirtschaftlichen Entwicklung unserer Zeit eine bestimmte Richtung, die sich immer klarer und deutlicher abhebt aus dem Wust von Nebensächlichkeiten und Erscheinungen sekundärer Natur.

Doch es genügt nicht, diese Dinge zu erkennen, es gilt auch Hand anzulegen, um den Lauf der Entwicklung zu beschleunigen und den Mächten der Vergangenheit entgegenzutreten. Die schöpferische und konstruktive Kraft der Massen hat zu allen Zeiten Institutionen und Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Verteidigung ihrer gemeinsamen Interessen ins Leben gerufen. Solche Institutionen existieren auch heute in den Gewerkschaften, den Kooperativorganisationen, den unzähligen Gruppen zur Förderung der freiheitlichen Propaganda, den freien Schulen usw. Dort ist der Platz für die Betätigung unserer Kräfte und die Entfaltung unserer revolutionären Ideen. Nicht in den Institutionen der alten Welt ist unser Platz; nicht durch unsere Betätigung in den verschiedenen Abteilungen des bestehenden Machtapparates fördern wir die Sache der Befreiung und der sozialen Revolution; im Gegenteil, hier sind die Sandbänke, an denen unsere Kräfte verebben, die Klippen, an denen unsere Ideale zerschellen. Nur im direkten Kampfe mit den Unterdrückern blüht uns das Heil.

Kropotkin selbst ist nie erlahmt in diesem Kampfe, und als die Revolution in Russland ausbrach, da zögerte er keinen Augenblick, in die alte Heimat zurückzukehren, obwohl er schon ein Greis von 74 Jahren war. Eine mächtige Persönlichkeit, wirkte er stets inspirierend und aufrüttelnd auf seine Umgebung. Diejenigen, welche das Glück hatten, sich seiner Freundschaft zu erfreuen, wissen am besten und empfinden am tiefsten, was die Welt in diesem Manne verloren hat. Er war ein Mensch aus einem Gusse, ein unermüdlicher Bejaher des Lebens, ein Herold der Freiheit und der sozialen Gleichheit. An uns, seinen trauernden Schülern, ist es nun, sein Werk fortzusetzen und der Freiheit eine Gasse zu brechen, auf daß das Wort zur Wahrheit werde: "Brot und Freiheit für alle Menschenkinder!"

Rudolf Rocker

Aus:
"Der Syndikalist" Nr. 7 - 1921

Originaltext: www.fau-bremen.de.vu


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