125 Jahre ist es nun her, dass in Chicago die Anarchisten August Spieß, Georg Engel, Adolph Fischer und Albert Parsons einem grausamen Justizmord zum Opfer fielen - Louis Lingg verübte im Gefängnis Selbstmord. Hunderttausende säumten beim Begräbnis der Gewerkschafter die Straßen der Stadt, in der es zu dieser Zeit zu heftigen Streiks und Auseinandersetzungen gekommen war. Noch heute erinnert der 1. Mai an die Ereignisse vom 4. Mai 1886 auf dem Haymarket von Chicago und die darauf folgenden Justizmorde.

Der 11. November im Lichte der Geschichte

„Ich habe Ihre Zeit in Anspruch genommen, um Ihnen alles, alles zu sagen, nichts verschweigend und verbergend; meinen Gedanken und meinem Herzen Luft machend, die reine Wahrheit. Ich bin dieses Verbrechens nicht schuldig. Ich hatte mit der Heumarkt-Tragödie nichts zu tun, ich wußte nichts davon. Ich bin nicht verantwortlich dafür. Ich lege den Fall in Euer Ehren Hände." (Schlußpassus aus Albert Parsons Verteidigungsrede vor Gericht.)


Der 11. November 1887 ist der Tag des Abschlusses einer historischen Epoche im sozialen Befreiungskampf des amerikanischen Proletariats. Nach ihm beginnt eine ganz neue Periode, die uns im vorliegenden Zusammenhang aber wenig bekümmert; im nachfolgenden sind die durchaus objektiv gesammelten Tatsachen jener Vergangenheit, die den 11. November schufen und ihn uns heilig machen als Sterbetag unvergeßlicher Vorkämpfer des Volkes.

Wenden wir uns dem Hintergrunde jener bewegten Periode zu. Das Jahr 1886 bildete den Kulminationspunkt einer schon längst geplanten, teilweise auch kräftigst realisierten Agitation zugunsten des Achtstundentages; eine Forderung, die in Amerika heutzutage fast vollständig verwirklicht und nicht zuletzt den nachfolgenden Ereignissen ihre Verwirklichung zu danken hat. Gleichwie das Proletariat stets heldenmütig, groß im Entsagen gewesen, wie es anno 1848 monatelang hungerte, wie es die Kommune zum Falle brachte durch seine naive Sorglosigkeit und prüde Ehrlichkeit, wie es stets für das Große sich opferte, war es auch zufrieden mit einer so einfachen Reform, mit einem solch unscheinbaren Zugeständnis wie jenes des Achtstundentages. Und nicht einmal dies.

Schon im Jahre 1878 war der achtstündige Arbeitstag vom Kongreß der Vereinigten Staaten in begrenzter Form angenommen worden. Jedoch das Gesetz blieb ein toter Buchstabe, wie jedes andere Gesetz es ist, welches unter den bestehenden Lohn- und Produktionsverhältnissen zugunsten der Arbeiterklasse erlassen wird, wenn es die kapitalistische Klasse zu Falle bringen will. Aus diesem Grunde bildeten sich in ganz Amerika Ligas und Vereine, welche eine Agitation entfalteten, die keinen anderen Zweck besaß, als dem Achtstundentag-Gesetz Anerkennung zu verschaffen.

Doch es ist das großartigste Moment in der modernen Arbeiterbewegung, daß sie wie kein anderes organisches Gebilde es so klar und deutlich aufweist, vom Flusse der Entwicklung mitgerissen wird. Unscheinbare Ereignisse; oftmals von der produktiven Arbeitssphäre weit entfernt, nehmen riesenhafte Dimensionen an und reißen die arbeitende Welt in ihren Wirbel mit. Und einmal in der Mitte, zeigt sich der Titan Arbeit stets als vollreif. Dann werden alle Kraftelemente in ihm belebt und angewendet, überall ist Leben, eine reiche Ideenassoziation bricht sich Bahn, Ideale heherster und schönster Art ringen sich mit Rapidität durch. Das arbeitende Volk wird sich seines Könnens bewußt, es strebt weiter, immer größer werden die Kreise seiner Tätigkeit, immer radikaler sein Vorgehen.

So auch im Jahre 1886. Zuerst eine einfache, relativ gesprochen unbedeutende Bewegung, wurden in den Bannkreis der Agitation bald jene intelligentesten, fähigsten und radikalsten Elemente der Arbeiterbewegung gezogen, welche allein dazu berufen sind, einer solchen Massenbewegung vorzustehen. Im Nu fanden sich unsere Märtyrer in eine Agitation verwickelt, deren Inhalt sie mit neuem Gehalt, mit jenem des Generalstreiks, erfüllten.

Während sich nun alle wirtschaftlichen Kampfesgruppierungen auf einen Generalstreik vorbereiteten, welcher am 1. Mai beginnen sollte, um eben den Achtstundentag zu erzwingen, brach in der Ackerbau-Gerätschaftsfabrik von Mc Cormick zu Chicago ein Streik aus. Gleich der Wut der Elemente, die, einmal entfesselt, unbezähmbar scheint, steigerte sich die Leidenschaft zwischen den kämpfenden Teilen: Kapital und Arbeit!

Das Unternehmertum mit seiner flagranten Übertretung jedweden Rechts- und Gerechtigkeitsgefühles dachte auch hier mit Hilfe der schon so oft angewandten Gewalts- und Bezwingungsmittel leicht siegen zu können. Doch es sollte sich diesmal irren. In der Arbeiterschaft hatte eine große Erbitterung die Oberhand gewonnen und zur Zeit, als durch die obige Firma Streikbrecher herangezogen wurden, da ereigneten sich Plänkeleien, die sich in ihrem Umfange fortwährend steigerten. Die sogenannten Pinkertons (amerikanische Detektives und Söldner) und andere Schweißhunde des Kapitals schossen auf die Ausständigen wie auf räudige Hunde, Arbeiterblut floß in Strömen, und täglich mehr wuchsen die Empfindungen der Empörung, nach Luft und Ausdruck ringend. Wie ein Funke ins Pulverfaß schlug daher ein Zirkular, das zur Selbstverteidigung gegenüber den gedungenen Pinkertons aufforderte und von Spies in den Spalten der «Chicagoer Arbeiterzeitung» veröffentlicht wurde. In bezeichnenden Worten, mit revolutionärer, der amerikanischen, angeblichen Preßfreiheit angepaßten Logik und schneidenden Schärfe, die allen Schriften von Spies eigen ist, wurde in dem Aufruf die Situation gekennzeichnet und für den darauffolgenden Tag zum Besuch einer Versammlung auf dem Heumarkt, unter freiem Himmel, aufgefordert.

Am 4. Mai 1886 erfolgte die berühmte Heumarkt-Versammlung in Chicago, die so traurige Folgen haben sollte. Spies befand sich als erster auf dem Versammlungsplatze; er sandte um Parsons und sprach über die brutale Knüppelei und Schießerei der Polizei, wie sie den Arbeitern gegenüber geübt ward. Ihm folgte Parsons, der sich in seinen Ausführungen strikt an die Achtstundenfrage hielt. Gerade als Fielden, der nächste Redner, enden wollte, stürmten etwa 100 Blauröcke (1) einher und provozierten sowohl die Redner als auch die Versammlung dadurch, daß sie, entgegen der konstitutionell gewährleisteten Versammlungsfreiheit, die durchaus friedliche Zusammenkunft einiger hundert Menschen zur Auflösung bringen wollten. Schon gab Kapitän Ward trotz des gütlichen Einspruches Fieldens, daß dies doch eine friedliche Versammlung sei, das Kommando zum gewalttätigen Einschreiten und Angriff — da ertönte plötzlich eine furchtbare Detonation, etwas Entsetzliches hatte sich ereignet. Eine Bombe war geworfen worden —

Spies wurde von seinem hinter ihm stehenden Bruder von der Rednertribüne gezerrt, gerade als einer der Schergen des Staates ihn meuchlings erschießen wollte. Vor der Tribüne und auf dem weiten Platze tummelte sich ein unentwirrbarer Knäuel. Polizisten schossen blindlings aufeinander los, schwangen Knüppel, Verwundete stöhnten, Sterbende ächzten. Ein Polizist ward getötet, 60 andere wurden verwundet.

Was geschah nun? Wurde vor allem der Täter ermittelt? Wurde die Polizei ob ihres Vorgehens, das selbst der Polizeipräsident für verfehlt und falsch erklärte, gerügt? Nein, denn die amerikanischen Ordnungsphilister sahen ihre soziale «Ordnung» nur durch den Büttel geschützt, den Büttel, der durch Knüppel und Pistole die Achtung vor dem Gesetze erzwingen muß.

Und darum kümmerte man sich nicht um die Ermittelung des wirklichen Täters, um den es sich doch naturgemäß vor allen Dingen handeln mußte, sondern man verhaftete wild und unbezähmbar darauf los und vor allen diejenigen, die als Wortführer des kämpfenden Proletariats bekannt waren, ganz insbesondere die folgenden acht Personen: Spies, Parsons, Fielden — nur diese drei waren überhaupt in der Heumarktversammlung gewesen — Lingg, Fischer, Engel, Neebe, Schwab, einfach darum, weil sie vornehmlich als Anarchisten bekannt waren.

Und nun gelangen wir zu einer entsetzlichen Szene in der Aktaufführung vorliegender Tragödie. In diesem Augenblicke höchster Auflösung aller sozialen Bande der Menschlichkeit und des Zusammengehörigkeitsgefühls konnte sich der amerikanische Kapitalismus, dieser Mammonsgott der Ausbeutung, stolz auf den Thron der staatlichen Autorität schwingen und sich ganz offenkundig, ohne Scheu, ohne Maskierung die amerikanische Justiz wie eine feile Dirne willfährig machen. Es gebricht uns an Raum, das ganze Begnadigungserkenntnis und dessen nachfolgende Begründung durch Gouverneur Altgeld vollständig wiederzugeben, das dieser sechs Jahre später erließ, und wodurch er die auf Lebenszeit verurteilten Kämpfer Schwab, Neebe und Fielden der Freiheit zurückgab.

Tatsache ist, daß dieses sowohl für den Richter, wie für die Staatsanwaltschaft und die Geschworenen, als auch und insbesondere die Polizei und Geheimpolizei einfach vernichtend ist; nicht nur für den juristischen Verstand, der schon 1886 und 1887 in zahlreichen, oftmals mutvollen Erklärungen von Advokaten, Richtern, ja auch Staatsanwälten und Geschäftsleuten sehr warnend seine Stimme erhob gegenüber dem Gebahren und Vorgehen des Staates, der sich offenkundig mit den machthabenden Kapitalistenkreisen dazu verschworen hatte, die gefangenen Männer der Arbeit zu hängen, koste es, was es wolle, Recht oder Unrecht ganz nebensächlich. Altgeld war der erste, der auch in einer für den einfachen Durchschnittsmenschen klaren Sprache den Prozeß, der unseren gemordeten Vorkämpfern gemacht wurde, so beleuchtete, daß man deutlich erwiesen findet: Sämtliche Justizpersönlichkeiten handelten im unverantwortlich gemeinen, materiellen Selbstinteresse, als sie die Angeklagten zum Tode verurteilten. Und dabei ging man ganz öffentlich zu Werke: entblödete sich doch die Unternehmervereinigung der Citizens Alliance nicht, am Tage nach dem Urteilsspruch den Geschworenen ein — Geschenk im Betrage von 100.000 Dollars zu machen, dafür, daß sie Mitmenschen in durchaus justizmörderischer Weise dem Henker überantwortet hatten!

Und wo blieb der Täter? Trotz allem Suchen, trotz 18 monatlicher Untersuchung wurde er nicht entdeckt. Die verschiedenartigsten Mutmaßungen wurden aufgestellt. Eines aber wurde selbst von den Behörden als klar erwiesen angenommen, und der Richter Gary erklärte in einem sieben Jahre nach dem Prozeß veröffentlichten Artikel es ganz ungeniert, daß er es gewußt hatte, daß keiner der Angeklagten die Bombe geworfen oder irgend etwas mit derselben zu tun hatte! Auch die Anklage wegen Mord mußte fallen gelassen werden, wurde jedoch umgewandelt in eine Anklage auf Verschwörung zur Ermordung von Polizisten.

Diese letztere Anklage des Staates konnte nun im Laufe des Prozesses gleichfalls in keiner Weise erwiesen werden. Dies, trotzdem der amerikanische Staat — alles laut Beweisen von Altgeld und anderen - nicht zurückschreckte, die Geschworenen auf ungesetzliche Art zu bestimmen, falsche Zeugen, Meineide, Drohung, Bestechung, Beeinflussung der öffentlichen Meinung aufmarschieren, ja, was noch das ärgste: die Zeugen der Angeklagten inhaftieren ließ, wenn sie ihren Willen, zu deren Gunsten auszusagen, bekundeten! Man bedenke: das Organ der Rechtsanwälte Chicagos konnte ohne einen einzigen Protest erklären, daß die «Verurteilung der angeklagten Anarchisten nur durch Ferkelstecherei herbeigeführt wurde!»

Wie kontrastierte das Verhalten der Angeklagten vor Gericht von dem ihrer Richter! Wutschäumend erklärte Staatsanwalt Grinell, daß es sich in diesem Prozesse gar nicht darum handle, die wirklichen Täter zu eruieren, oder sogar die Angeklagten der Verschwörung zu überführen; es handle sich darum, «der Anarchie das Haupt abzuschlagen»; dazu bediente er sich der vor dem Richterstuhl jeder männlichen Gesinnung verwerflichsten Mittel der Bestechung, die selbst im Gerichtssaal zugestanden ward, wie im Falle Waller. Im Gegensatz hierzu sehen wir unsere Kameraden Spies, der beruflich nacheinander Geometer, Polsterer, Buchhalter, Agent und Schriftsteller war, Parsons, ein Buchdrucker, Fischer gleichfalls, Enge1, ein Anstreicher, dann Besitzer eines kleinen Zigarren- und Spielwarenladens, Fielden, ein Weber, Taglöhner und Fuhrmann, Schwab, Buchbinder und später Schriftsteller, Lingg, ein Tischler, Neebe, ein Klempner — wir sehen diese schlichten Arbeitsmänner wie Heroen vor Gericht stehen. Ewig unvergänglich bleiben die Reden, die sie gehalten haben, als das Urteil gegen sie verkündet wurde, diese Hohelieder der erhabenen Gedankenwelt der Anarchie und die es am besten beweisen, daß in diesen Helden nicht etwa Verbrecher-, Brandstifter-, Mördernaturen staken, wie es der Staat darzustellen beliebte, sondern die Feuerglut einer unbezwingbaren Überzeugung, die standhielt vor allen Folterwerkzeugen der Justiz.

Aber gerade in diesen Umständen erblicken wir die tieferen Ursachen der Hartherzigkeit, der Erbarmungslosigkeit der höchsten amerikanischen Instanzen, die sich nicht dazu herbeiließen, das Todesurteil umzuändern, von dessen Unrechtmäßigkeit der damalige Gouverneur Oglesby schon damals überzeugt war, wie aus einigen seiner Äußerungen hervorgeht, die den Verurteilten entgegenkamen, wenn sie sich vor ihm demütigen würden. Er wußte, daß dies nie in dem Sinne, wie er es gewollt, geschehen würde; sämtliche höhere Instanzen erblickten in diesen herrlichen Geistern das Haupt der revolutionären Bewegung, die wie sie in lächerlicher Unwissenheit annahmen, mit diesen Männern stand und fiel. Hätten diese Männer die Bombe geworfen, sie würden sie nicht gefürchtet haben, denn was ist ein Attentäter gegenüber der riesigen Übermacht des Staates? Aber diese Männer waren gefährlicher, als es ein sogenannter Verbrecher ist, diese Männer durchschauten die Lüge der amerikanischen Freiheit — es war ihr Heldengeist, ihr Freiheitssinn, ihr herrlicher Charakter, den die Herrschenden der plutokratischen Republik fürchteten; und dieser Feigheit mußten fünf Menschenleben zum Opfer fallen.

* * *

Das Todesurteil gelangte zur Vollstreckung. Tief ergreifend und jedes menschliche Fühlen gewaltig aufwühlend, sind die letzten Tage der verurteilten Kameraden, der fünf zum Tode Verurteilten gewesen. Sie gingen nicht vorüber, ohne daß sich ein Prolog der zu gewärtigenden Tragödie abspielte.

Am Morgen des 10. November zerschmetterte Lingg sich den Kopf mit einer Patrone, die er in den Mund nahm und an einer Kerze anzündete. Wie war diese Patrone in seine Zelle gelangt? Die Geschichte schweigt darüber; wir haben unsere Überlieferungen, Mutmaßungen, aber nichts Bestimmtes darüber. Auf diese Art entriß sich Lingg kurz vor der Hinrichtung dem schimpflichen Tod durch den Strang, den der Staat ihm zugedacht hatte. Und während der Unglückliche in furchtbaren Qualen sich wand, erklärte der Henker Matson kaltblütig den Ärzten: «Ihr könnt davon überzeugt sein, daß der Mann hängen wird, falls er morgen lebt und der Gouverneur keinen Aufschub bewilligt.»

Trübe und nebelig-dunkel brach der Morgen des 11. November an. Sämtliche zum Tode Verurteilten wiesen den «religiösen Trost» des Geistlichen zurück. Dieser bemerkte zu Spies am Tage vorher: «Ich werde die ganze Nacht für Sie beten», worauf Spies antwortete: «Beten Sie für andere, die es nötiger haben».

Und plötzlich durchbrausten die Gänge des Gefängnisses die Töne eines Heineschen Liedes, gesungen von Engel:

„Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
„Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch —
Wir weben, wir weben!"

Alle Todesgefährten von Engel standen an den vergitterten Gefängnistüren und lauschten. Engel selbst saß wie verzückt, seiner Umgebung entrückt, da, während er die ergreifenden Strophen sang. Und auf einmal stimmte auch Parsons sein Lieblingslied an, das schottische Volkslied von «Schön Annie Laurie».

„Schön sind Maxweltons Wälder, wenn der Tau liegt auf der Flur,
Dort war's, wo Annie Laune mir gab den Treueschwur,
Beim stillen Abendrot
Ihr Lebewohl mir bot
Und für schön Annie Laune ging ich willig in den
Tod..."

Seine Annie Laurie war der Gedanke menschlicher Befreiung, höchster Harmonie und idealen Glückes — für ihn ging er in den Tod.

Die Todesstunde rückt heran, es ist 11 1⁄2 Uhr vormittags am 11. November. Mit bleichem Angesicht kommt der Henker Matson samt Gehilfen zu den Zellen. Die Gefangenen erheben sich. Sie wissen, daß es nun zu Ende geht. Sie drücken einander die Hände, umarmen sich in brüderlicher, unvergänglicher Solidarität und folgen dem sie Führenden mit gelassenen Schritten.

Auf dem Richtplatz angelangt, umgeben von all den Neugierigen, wechseln sie noch einmal ein paar brüderliche Worte. Dann trat der Schließer Folz auf die vier unschuldig zum Tode Verurteilten zu, legte ihnen die Schlingen um den Hals und zog ihnen die Kappe über das Gesicht. Dumpfe Stille erfüllte den Raum. Plötzlich erscholl Spies helle Stimme: «Die Zeit wird kommen, da unser Schweigen mächtiger sein wird als unsere Reden!»

Als das Echo verklungen war, rief Engel: «Hoch die Anarchie!»

Dann folgte Fischer: «Dies ist der glücklichste Augenblick meines Lebens!»

Langsam und deutlich kam es aus Parsons Munde: «Wird mir gestattet sein, zu reden? O, Ihr Frauen und Männer des teuren Amerika —» Der Scharfrichter drehte sich um, als ob er ein Zeichen geben wollte; Parsons muß dies bemerkt haben, denn er rief: «Lassen Sie mich reden, Sheriff Matson. Lassen Sie die Stimme des dahingemordet Volkes gehört werden. —»

In diesem Augenblicke fiel die Klappe vier Körper hingen in minutenlanger Qual in der Luft; Unschuldige waren gemordet, man hatte die Menschheit ihres stolzesten Geblütes beraubt.

Hunderttausende folgten einige Tage später den Särgen der Geopferten. Die Liebe des Volkes bettete sie warm und gut — o daß sie doch früher gesprochen und sie gerettet hätte!

Aber die Zeit kam, und es dauerte kaum sechs Jahre, da ward ihr Schweigen im Grabe mächtiger, als ihre Reden es je hätten sein können. Wie ein ewiges Gericht donnerte es den Repräsentanten der herrschenden Macht entgegen, was Gouverneur Altgeld ihnen bot:

«Erstens: Die Geschworenen, welche den Fall beurteilen sollten, waren nicht rechtmäßig, sondern so ernannt worden, um unter allen Umständen zu verurteilen.
«Zweitens: Laut dem Gesetze des höchsten Gerichtshofes, wie es war und abermals seit dem Prozeß der Chicagoer Anarchisten festgelegt ward, waren die Geschworenen, laut ihren eigenen Aussagen, nicht kompetente Geschworene und der Prozeß war aus diesem Grunde kein legaler Prozeß.
«Drittens: daß die Angeklagten der Schuld an dem in der Anklage ihnen zur Last gelegten Verbrechen nicht überführt wurden.
«Viertens: Daß, was den Angeklagten Neebe anbetrifft, der Staatsanwalt selbst beim Schluß des Beweisverfahrens erklärte, daß er keinen Prozeß wider ihn habe, er aber dennoch alle diese Jahre im Gefängnis gehalten wurde.
«Fünftens: Daß der Vorsitzende Richter des Prozesses entweder so voreingenommen gegen die Angeklagten, oder so fest entschlossen war, den Applaus einer gewissen Klasse des Gemeinwesens zu ernten, daß er ihnen einen gerechten Prozeß nicht gewähren konnte noch gewährte...
«Sämtliche der Anklagen tragen einen persönlichen Charakterzug, was durch den Rekord des Verfahrens und die Akten vor mir erwiesen ist, die dahingehend lauten, daß der Prozeß kein gerechter war; doch ich will diese eine Seite des Falles nun nicht weiter besprechen, denn es ist durch den Justiztod der Angeklagten unnötig geworden. Ich bin jedoch überzeugt davon, daß es aus obigen dargebotenen Gründen meine Pflicht ist, im vorliegenden Fall zu handeln, und ich entbiete aus diesem Grunde Samuel Fielden, Oskar Neebe u. Michael Schwab eine absolute Amnestie an diesem 26. Juni 1893.

John P. Altgeld
Staatsgouverneur von Illinois.

Diese Auszüge aus dem Erkenntnis des höchsten Staatsbeamten, eines Mannes, dessen Gerechtigkeitsgefühl und Charaktergröße es ihm verboten, sich auch als Werkzeug des Klassenhasses der Machthaber gebrauchen zu lassen, sühnte auf diese Weise.

Damit schließt die Tragödie des 11. November 1887.

Diejenigen Märtyrer aber, die ihre Hauptakteure bilden und in grauser Wirklichkeit auf der Schlachtbank einer feigen, "republikanischen Justiz" dahingemordet wurden — sie sind nicht tot, sie sind unsterblich, denn der Geist der Anarchie, der nichts zu tun hat mit Blut und Mord und blutrünstigem Gemetzel, lebt in dem Leben und Sterben der gemordeten Chicagoer Anarchisten unvergänglich fort und bereitet vor den großen Zeitpunkt der Neuverjüngung für alle Menschen der großen, sieghaften Gerechtigkeit des Seins, die im Wohlstand für alle besteht.

Dieser Zeitpunkt ist ein heiliger. Der 11. November und die fünf Toten haben ihn geweiht, denn sie haben ihr Herzblut für die Erlösung der Menschheit aus den Banden der nachtschwarzen Not, Ausbeutung und des Jammers freudig dahingegeben!

Anmerkungen:
1.) Amerikanischer Ausdruck für Polizist

Aus: "Wohlstand für Alle", 1. Jahrgang, Nr. 22 (1908). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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