Emma Goldman (1869-1940)

Als ebenso unerschrockene wie wortmächtige Anwältin libertärer Tendenzen war die aus Rußland stammende, aber früh nach Amerika gekommene Emma Goldman eine der eigenwilligsten und bekanntesten Persönlichkeiten der anarchistischen Bewegung. 1869 in Kowno als Tochter eines russisch-jüdischen Theaterdirektors geboren und vom siebenten bis zum dreizehnten Lebensjahr bei einer Großmutter im deutschen Königsberg aufgewachsen, zog sie 1882 mit ihren Eltern nach Petersburg. Dort verkehrte sie in den Kreisen der revolutionär gesinnten Intelligenz. Die Siebzehnjährige brach 1886 endgültig aus dem bildungsbürgerlichen Milieu des Elternhauses aus - sie folgte ihrer Schwester Helene in die USA. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich dort zunächst als einfache Arbeiterin in der Textilindustrie von New Haven und Rochester. Sie lernte so die Lebensverhältnisse des amerikanischen Proletariats aus eigener Erfahrung kennen.

Im Frühjahr 1886 hatte in den USA die große Kampagne für den Achtstundentag eingesetzt, zu deren aktivsten Kräften die Anarchisten gehörten. Das Zentrum dieser Agitation war Chicago, wo deutsche Einwanderer innerhalb der anarchistischen Bewegung eine führende Rolle spielten. Nach großen, aber unblutig verlaufenen Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen am 1. Mai ging die Polizei zwei Tage später gegen streikende Arbeiter vor. Daraufhin wurde von anarchistischer Seite, zum Teil in ungemein heftiger Sprache, zu einer großen Protestdemonstration aufgerufen. Als die Polizei am 4. Mai diese Demonstration trotz ihres friedlichen Verlaufs und obwohl sie sich bereits ihrem Ende näherte, aufzulösen versuchte, warf ein Unbekannter eine Bombe, die sieben Polizisten tödlich verwundete. Die Polizei schoß in die Menge und es kam zu blutigen Zusammenstößen, die zahlreiche Opfer forderten. Eine allgemeine Hysterie unter der Bevölkerung war die Folge des Bombenanschlags. [1] Zahlreiche bekannte Anarchisten wurden verhaftet und vier von ihnen - August Spies (der Herausgeber der deutschsprachigen anarchistischen „Arbeiter Zeitung“), George Engel, Adolph Fischer und Albert R. Parsons - am 11. November 1887 durch den Strang hingerichtet, obwohl ihnen das Gericht keinerlei direkte Verantwortung für das Attentat hatte nachweisen können.

Die Hinrichtungen erregten weit über die USA hinaus Aufsehen und Empörung. Unter ihrem Eindruck wurde die junge Emma Goldman zur militanten Anarchistin. In New York, wo sie seit 1889 lebte, lernte sie Johann Most, den Herausgeber der „Freiheit“, und ihren russischen Landsmann Alexander Berkman kennen, nach dessen Attentat auf Frick (s. o.) sie „untertauchen“ mußte. Im Oktober 1893 erhielt sie wegen „Anstiftung zum Aufruhr“ eine Gefängnisstrafe von einem Jahr. Sie wurde erneut inhaftiert, als sie für Leon Czolgocz eintrat, jenen aus Polen stammenden anarchistischen Einzelgänger, der 1901 in Buffalo den amerikanischen Präsidenten McKinley erschossen hatte. Von 1906 bis 1917 gab Emma Goldman die anarchistische Zeitschrift „Mother Earth“ heraus. Sie und Berkman wurden die beiden stärksten motorischen Kräfte des amerikanischen Anarchismus, der, seit Ende der 80er Jahre durch Desillusionierung und Verfolgung erheblich geschwächt, jetzt beinahe ausschließlich eine Sache osteuropäischer und italienischer Einwanderer, vor allem der Neueinwanderer in der untersten Schicht der Arbeiterschaft, war. Sie arbeiteten mit den anarchosyndikalistischen Organisationen in den USA zusammen, ohne sich vorbehaltlos mit ihnen zu identifizieren. Emma Goldman fürchtete, eine bürokratisierte syndikalistische Massenbewegung werde die individuelle revolutionäre Initiative lähmen und ganz allgemein freiheitsfeindlich wirken.

Doch nicht nur für die revolutionäre Selbstbefreiung der Arbeiterschaft kämpfte Emma Goldman mit der ihr eigenen Leidenschaft: nicht minder vehement trat sie in Reden, Vorträgen und Artikeln für die volle Gleichberechtigung der Frau, für eine freie Sexualmoral und die so verpönte Geburtenkontrolle ein. Sie ging für diese Postulate ebenso ins Gefängnis wie für ihren aktiven Antimilitarismus. Nach Ausbruch des Weltkrieges gründete sie mit Berkman die „No Conscription League“, die 1917 verboten wurde. Nach zweijähriger Haft mußte sie am 1. Dezember 1919 zusammen mit zahlreichen anderen aktiven Anarchisten russischer Herkunft die USA verlassen und nach Rußland zurückkehren.

Wie ihre anarchistischen Gesinnungsgenossen kam auch Emma Goldman voller Hoffnung in das neue, nachrevolutionäre Rußland. Doch sie sah sich einer Wirklichkeit konfrontiert, die einmal durch unbeschreibliche materielle Not und zum anderen durch die Rücksichtslosigkeit gekennzeichnet war, mit der die Bolschewiki ihren ideologisch-politischen Monopolanspruch gegen alle anderen sozialistischen Kräfte durchzusetzen und das ganze Land „gleichzuschalten“ suchten. Gewerkschaften, Genossenschaften und Sowjets waren bereits weitgehend zu Organen der bolschewistischen Partei „umfunktioniert“. Die Tscheka war (so schrieb Emma Goldman später) nicht einmal mehr ein „Staat im Staate“, sondern schon ein „Staat über dem Staat“. Rigider Zentralismus und wuchernde Bürokratisierung lähmten das gesellschaftliche Leben. Emma Goldman kam zu dem Schluß, daß das „bürokratische Monstrum“ des bolschewistischen Staates die Russische Revolution, „das größte Ereignis von Jahrhunderten“, erstickt hatte. Vergeblich protestierten sie und Berkman bei Lenin gegen die Verfolgung der Anarchisten, vergeblich bemühten sich beide, die Regierung von einem gewaltsamen Vorgehen gegen die aufständischen Arbeiter und Seeleute von Kronstadt abzuhalten.

Nachdem Emma Goldman Ende 1921 die Sowjetunion wieder verlassen hatte, erschien im folgenden Jahr in Berlin ihre Schrift „Die Ursachen des Niederganges der Russischen Revolution“, der bald darauf eine weitere Auseinandersetzung mit dem bolschewistischen Regime folgte. Nach ihrer „Desillusionierung in Russland“ lebte sie in England und später in Kanada, bis zuletzt eine unermüdliche und temperamentvolle Verfechterin nonkonformistischer Überzeugungen. Am 14. Mai 1940 ist sie in Toronto gestorben. In ihrer Autobiographie „Living My Life“ (New York 1931, zwei Bände) hat sie ihr bewegtes Leben farbig geschildert.

Fußnote:

[1] „Der Zwischenfall von Chicago war der Beginn des populären amerikanischen Vorurteils gegen jede Art von Anarchismus.“ (George Woodcock, Anarchism. A History of Libertarian ideas and Movements. Harmondsworth 1963, p. 438)

Aus:
Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970

Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s

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