John Holloway - Aufhören, den Kapitalismus zu machen [1]

I

In Mary Shelleys berühmter Geschichte erschafft Dr. Frankenstein ein Geschöpf und das Geschöpf erlangt dann eine unabhängige Existenz, eine dauerhafte Existenz in der es von der kreativen Tätigkeit Dr. Frankensteins nicht länger abhängig ist. In einer anderen Geschichte, einer Geschichte von Jorge Luis Borges, „Las Ruinas Circulares“ [2], erschafft ein Mensch einen anderen Menschen, jedoch nicht in einem Labor, sondern träumend. Der erschaffene Mensch hat alle Erscheinungsformen eines normalen Menschen mit einer unabhängigen, dauerhaften Existenz, aber in Wirklichkeit wird er nur durch die ständige kreative Tätigkeit des ersten Menschen, das Träumen, am Leben erhalten. Seine Existenz ist keine Illusion, aber seine Fortdauer [3] ist es: von einem zum nächsten Moment hängt seine Existenz von der kreativen Tätigkeit des Träumers ab.

Die Frankenstein-Geschichte wird häufig als Metapher für den Kapitalismus benutzt. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die von uns nicht kontrolliert wird und die droht, uns zu zerstören: wir können nur überleben, wenn wir diese Gesellschaft zerstören. Aber wir sollten uns die Gesellschaft vielleicht eher in den Begriffen der von Borges verfassten Geschichte vorstellen: wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die vollständig außerhalb unserer Kontrolle zu sein scheint, die jedoch in Wirklichkeit von unserer Handlung der ständigen Wiedererschaffung abhängt. Das Problem besteht nicht darin, die Gesellschaft zu zerstören, sondern darin aufzuhören, sie zu erschaffen. Der Kapitalismus existiert nicht deswegen heute, weil wir ihn vor zweihundert oder einhundert Jahren erschaffen haben, sondern weil wir ihn heute erschaffen haben. Wenn wir ihn morgen nicht erschaffen, wird er nicht existieren.

Jeden Tag erschaffen wir eine Welt der Gräuel, des Elends und der Gewalt und des Unrechts. Wir sind aktiv daran beteiligt, die Herrschaft die uns unterdrückt, zu errichten, die Obszönität die uns abstößt, zu erschaffen. Wir produzieren Mehrwert, wir achten das Geld, ungerechtfertigte Befehlsgewalt akzeptieren wir und setzen sie durch, wir leben nach der Uhr, wir verschließen unsere Augen vor den Hungernden. Wir machen den Kapitalismus. Und jetzt müssen wir aufhören, ihn zu machen.

Was heißt es, sich die Revolution nicht als Zerstörung des Kapitalismus vorzustellen, sondern als Beendigung der Erschaffung des Kapitalismus?

Wir lösen das Problem der Revolution nicht, indem wir die Frage verändern, dies bedeutet nicht, dass wir wissen, wie sie zu machen ist, aber vielleicht kann es uns dazu bringen, die Kategorien revolutionären Denkens zu überdenken. Vielleicht erschließt es uns eine neue Grammatik, eine andere Logik revolutionären Denkens, ein anderes Denken über revolutionäre Politik. Vielleicht eröffnet es eine neue Hoffnung. Diese Frage möchte ich untersuchen.

II

Die Vorstellung, dass Revolution die Zerstörung des Kapitalismus bedeutet, beruht auf einem Konzept der Dauer, das heißt, dass der Kapitalismus jetzt ist und weiterhin sein wird, bis wir ihn zerstören. Das Problem besteht darin, dass Revolutionäre die Grundlage für ihren eigenen Ruf nach der Revolution untergraben, wenn sie von der Dauerhaftigkeit des Kapitalismus ausgehen.

Jedes Herrschaftssystem basiert auf Dauerhaftigkeit, auf der Annahme, dass etwas nur weil es in einem Moment existiert, im nächsten Moment weiter existieren wird. Der Herr geht davon aus, dass er morgen weiter herrschen wird, weil er gestern geherrscht hat. Die Sklavin träumt von einem anderen Morgen, aber sie verortet es häufig jenseits des Todes, im Himmel. Sie geht in diesem Fall davon aus, dass es nichts gibt, das sie tun kann, um die Situation zu ändern. Die Macht des Tuns ist dem, was ist untergeordnet.

Diese Unterordnung des Tuns unter das Sein ist eine Unterordnung des Subjekts unter das Objekt. Dauerhaftigkeit ist also ein Charakteristikum einer Gesellschaft in der das Subjekt dem Objekt untergeordnet ist, eine Gesellschaft, in der davon ausgegangen wird, dass aktive Subjektivität unfähig ist, objektive Realität zu verändern. Objektive Realität oder die-Gesellschaft-wie-sie-ist steht über und gegen uns: das Subjekt wird vom Objekt getrennt und ihm untergeordnet. Und Verben (die aktive Form des Sprechens) werden von den Substantiven (welche die Bewegung negieren) getrennt und ihnen untergeordnet.

Im Kapitalismus erlangt die Trennung von Subjekt und Objekt, und damit die Dauerhaftigkeit, eine eigentümliche Starrheit. Diese liegt in der materiellen Trennung von Subjekt und Objekt im Produktionsprozess begründet. Die Ware, die wir produzieren steht gegen und über uns als etwas Äußerliches, als Objekt, welches jede Beziehung mit der Arbeit des Subjektes, von dem es produziert wurde, negiert. Es erlangt eine scheinbar vollständig getrennte Existenz von der Arbeit, die es hergestellt hat. Die Trennung zwischen Subjekt und Objekt, Tun und Getanem, Verb und Substantiv ist von grundlegender Bedeutung für die Weise, in der wir Subjekte uns im Kapitalismus zueinander verhalten, so grundlegend, dass sie jeden Aspekt unserer gesellschaftlichen Existenz durchdringt. In jedem Aspekt unserer Leben kommt es zu einer Trennung des Subjektes vom Objekt, des Tuns vom Sein, zu einer Unterordnung des Subjektes unter das Objekt, des Tuns unter das Sein. Die Dauer herrscht. Dies wird eindeutig durch die Uhrzeit ausgedrückt, in der eine Minute genau so lang ist wie die nächste und die nächste und die nächste, und die einzig vorstellbare Revolution die ist, die sich um sich selbst dreht und dreht. [4]

Um uns die Veränderung der Gesellschaft vorzustellen, müssen wir die Zentralität des menschlichen Tuns wiedererlangen, wir müssen das begrabene Subjekt retten. Anders ausgedrückt, müssen wir kritisieren – wobei wir unter Kritik entstehungsgeschichtliche Kritik [5] verstehen, Kritik ad hominem, den Versuch, Phänomene in Begriffen des Tuns, welches sie erzeugt, zu verstehen. Die Marxsche Arbeitswerttheorie ist solch eine Kritik: in ihrem Kern besagt die Arbeitswerttheorie: „Die Ware negiert unser Tun, aber wir haben es gemacht.“ Dadurch wird das Subjekt (unser Tun) wieder in den Mittelpunkt gerückt. Das Objekt behauptet vom Subjekt unabhängig zu sein, aber in Wirklichkeit hängt es vom Subjekt ab. Sein hängt vom Tun ab. Dies ist es, was die Möglichkeit eröffnet, dass wir die Welt verändern können.

Jede (in diesem Sinne verstandene) Kritik ist ein Angriff auf die Dauerhaftigkeit. Sobald die Subjektivität wieder in den Mittelpunkt der Gesellschaft gerückt wird, ist die Dauerhaftigkeit gebrochen. Es kann nicht länger davon ausgegangen werden, dass eine Minute genauso wie die nächste ist. Es kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass morgen genauso wie heute sein wird, weil wir es anders machen können. Kritik eröffnet eine Welt des Staunens. Wenn Marx am Anfang des Kapitals sagt, dass die Ware sich außerhalb von uns befindet, uns fremd ist, aber das Geheimnis ist, dass wir sie gemacht haben (Arbeitswerttheorie), dann reagieren wir sowohl entsetzt als auch hoffnungsvoll. Wir sind erstaunt darüber, dass wir unser Leben damit zubringen, Objekte herzustellen, die unsere Existenz negieren, die uns fremd sind und uns beherrschen, aber gleichzeitig sehen wir Hoffnung, weil die Existenz dieser Objekte vollständig von uns abhängig ist: unser Tun steht im Mittelpunkt von Allem, unser Tun ist die verborgene Sonne, um die sich alles dreht.

Das Objekt, welches das Subjekt beherrscht, hängt vom Subjekt ab, das es erschafft. Das Kapital, welches uns beherrscht, hängt von unserer Arbeit ab, die es erschafft. Der Herr, der den Sklaven beherrscht, hängt von dem Sklaven ab. Es gibt ein Verhältnis von Herrschaft und Abhängigkeit, in dem die Bewegung der Herrschaft eine ständige Flucht von der Abhängigkeit ist, ein ständiger Kampf des Herrn der Abhängigkeit von seinem Sklaven zu entfliehen – selbstverständlich kann er diesen Kampf unmöglich gewinnen, denn gewänne er, würde er aufhören Herr zu sein. Aber an diesem Verhältnis von Herrschaft und Abhängigkeit interessiert uns nicht so sehr das Moment der Herrschaft (das traditionelle Gelände des linken Diskurses), sondern das Moment der Abhängigkeit, denn hier ist die Hoffnung zu finden.

Alle gesellschaftlichen Phänomene existieren also, weil sie von Menschen gemacht wurden: das Geld oder der Staat sind genau so menschliche Produkte wie das Automobil. Aber mehr noch: alle gesellschaftlichen Phänomene existieren nur, weil sie gemacht wurden und ständig neu gemacht werden. Ein Auto existiert als Auto nur, weil wir es ständig neu erschaffen, indem wir es als Auto benutzen, ein Staat existiert als Staat nur, weil wir ihn ständig neu erschaffen, indem wir seine Befehlsgewalt und seine Formen akzeptieren. Das Geld existiert nur, weil wir es ständig in unseren Verhältnissen mit anderen reproduzieren. Wenn wir aufhörten das Geld in unseren gesellschaftlichen Beziehungen zu reproduzieren, dann würden das Geld und die Münzen weiterhin existieren, aber es wäre kein Geld mehr. Diese Phänomene sind nicht wie Frankensteins Geschöpf, sondern wie das von Borges’ Träumer erschaffene Geschöpf. Ihre Existenz hängt von uns ab, von einer Minute zur anderen.

Die Existenz des Kapitalismus ist keine Illusion. Die Trennung seiner Existenz von seiner Konstituierung, mit anderen Worten seine Dauerhaftigkeit, ist jedoch eine Illusion.

Die Dauerhaftigkeit ist aber selbstverständlich nicht nur imaginär: sie wird in der wirklichen gesellschaftlichen Trennung von Subjekt und Objekt im Arbeitsprozess hergestellt, so dass nur durch eine vollständige Transformation der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit (des Tuns) die Dauerhaftigkeit zerstört werden kann. Aber der Angriff auf die Dauerhaftigkeit ist für den Angriff auf die kapitalistische Arbeitsorganisation von zentraler Bedeutung.

Indem die Dauerhaftigkeit angegriffen wird, wird sie entmystifiziert, wird gezeigt, dass sie eine Illusion ist. Entmystifizierung bedeutet die Irrealität einer verzauberten Welt zu erschüttern und zu zeigen, dass die Welt sich wirklich um das menschliche Tun dreht. Es scheint jedoch genau andersherum zu sein. Wir haben immer in der „verzauberte[n], verkehrte[n] und auf den Kopf gestellte[n] Welt“ [6] des Kapitalismus, der Welt der Objekte, der Dauerhaftigkeit, der Uhrzeit gelebt. Infolgedessen fühlt sich die Welt, in welche die Kritik uns einführt, an wie eine Traumwelt, eine Wunderland-Welt, eine Welt unmöglicher Intensität, eine Welt in der alles unendlich zerbrechlich ist, da sie davon abhängig ist, ständig neu erschaffen zu werden. Der Kommunismus (als Bewegung, als Form des Tuns und des Denkens) ist wie Verliebtsein.

In dieser Wunderland-Welt, in diesem kommunistischen-sich-Bewegen, werden Substantive in Verben, in Tuns aufgelöst. Substantive fetischisieren das Produkt des Tuns, sie entreißen dem Tun das Resultat dieses Tuns und heben es auf in einer dauerhaften Existenz, die negiert, dass es davon abhängig ist, ständig neu erschaffen zu werden. Marx kritisierte den Wert um zu zeigen, dass sein Kern aus menschlicher Aktivität, Arbeit, besteht, aber seine kritische Methode der Wiedererlangung der Zentralität menschlichen Tuns kann auf alle Substantive ausgedehnt werden (aber in der Welt der Dauerhaftigkeit in der wir leben, mit ihrem Dauerhaftigkeits-Gerede, ist es schwer ohne Substantive zu schreiben – so dass kritisches Denken wirklich nach einem neuen Sprechen verlangt, was Vaneigem die Poesie der Revolution nennt).

Der Kommunismus ist also nicht die höchste Stufe der Geschichte, sondern das Aufsprengen des historischen Kontinuums (Benjamin) [7], die Auflösung der Kontinuität der Substantive in die vollständige Zerbrechlichkeit des menschlichen Tuns. Eine selbstbestimmte Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der es offensichtlich ist, dass nur das existiert, was in jenem Moment getan wird, eine Welt der Verben. Die Vorstellung einer höchsten Stufe der Geschichte impliziert einen positiven Moment, einen Moment der Akkumulation von Kämpfen, einen Moment der Ausdehnung. Das Aufsprengen des historischen Kontinuums impliziert eine negative Bewegung, keine Akkumulation von Kämpfen sondern das Hervorbringen neuer Intensitäten, die mit den toten Identifikationen des Kapitalismus unvereinbar sind. Vielleicht sollten wir die Totalität, jenen Begriff, der das bruchstückhafte Wesen bürgerlichen Denkens kritisiert, nicht als Bewegung der Ausdehnung, sondern eher als Bewegung die die Totalisierung gesellschaftlicher Existenz in der Intensität jedes einzelnen Momentes anstrebt: die Suche nach einer absolut intensiven Jetztzeit [8], oder Nunc Stans in der die Zeit anhält und der Kapitalismus explodiert, oder vielleicht implodiert. Der Kommunismus wäre eine selbstbestimmende Gesellschaft, das heißt eine Gesellschaft ohne Dauerhaftigkeit, ohne Substantive: ein beängstigender, berauschender Gedanke.

III

Wir wollen einen Moment furchtbarer gesellschaftlicher Intensität, der das Kontinuum der Geschichte zertrümmert, einen Moment, der so intensiv ist, dass die Uhrzeit für immer zerbrochen wird. Solche Momente gibt es: Revolutionen sind so. Alles hält ein, soziale Beziehungen werden auf den Kopf gestellt wenn Menschen auf die Straße gehen und alles auf die einzige Handlung NEIN zu sagen, konzentriert ist.

Aber wir können nicht auf den Großen Revolutionären Moment warten. Wir können nicht fortfahren, den Kapitalismus zu produzieren, wir müssen das Kontinuum der Geschichte jetzt aufsprengen. Individuell und kollektiv, müssen wir uns jetzt dem Kapital zuwenden und sagen „Nun mach schon, jetzt geh, geh raus zur Tür, dreh dich bloß um, denn du bist nicht mehr willkommen. Wir werden überleben“ [9]. Geh weg, Kapital! ¡Que se vayan todos! [10] Alle Politiker und Kapitalisten. Ihr seid nicht mehr willkommen. Wir werden überleben.

Dem Kapital Auf Wiedersehen sagen, bedeutet eine Beziehung zu beenden, neu anzufangen, eine tabula rasa zu schaffen, die Welt neu zu schaffen. Das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, heißt das Kontinuum einer unterdrückerischen Beziehung im Alltag aufzusprengen. Während wir in der Beziehung sind, erscheint es unmöglich, undenkbar, dass wir jemals aus ihr ausbrechen könnten, aber es ist es nicht. Das Kapital schlägt uns, tötet täglich Tausende von uns, aber ¡ya basta! [11] Diejenigen, die eine Partei aufbauen wollen und die Staatsmacht übernehmen wollen, würden uns eher zu Eheberatern und Scheidungsgerichten schleppen, bevor sie die Beziehung abbrechen würden. Aber nein, wir können nicht warten. Es gibt keinen Zwischenschritt. Einfach Bye-bye, ciao.

Ist es wirklich so einfach? Nein, natürlich nicht. Aber vielleicht ist es nicht so unmöglich, wie wir für gewöhnlich denken.

Das Kapital existiert, weil wir es erschaffen. Es hängt vollständig von uns ab. Dies ist von entscheidender Bedeutung: wenn es keine Arbeit gibt, dann gibt es kein Kapital. Wir erschaffen das Kapital, und nur wenn wir unsere eigene Verantwortung wirklich annehmen, können wir unsere eigene Stärke begreifen. Nur wenn wir verstehen, dass wir das Kapital mit all seinen Gräueln erschaffen, können wir begreifen, dass wir die Macht haben aufzuhören es zu machen. Staatsorientierte (und hegemoniezentrierte und diskurszentrierte) Ansätze verlieren diese entscheidende Abhängigkeitsachse aus den Augen: sie wenden ihren Blick von der Achillesferse des Kapitalismus, von dem entscheidenden Punkt seiner Verletzlichkeit ab.

Wie machen wir das Kapital? Indem wir Mehrwert produzieren und auch indem wir die Bedingungen herstellen, auf denen die Mehrwertproduktion beruht. (Wir an den Universitäten zum Beispiel produzieren keinen Mehrwert, aber wir stellen die Bedingungen her, die für die Mehrwertproduktion nötig sind. Wir spielen eine aktive Rolle in der Fetischisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, in der Verwandlung von Verhältnissen zwischen Menschen in Verhältnisse zwischen Dingen.) Im Allgemeinen können wir sagen, dass wir den Kapitalismus herstellen, indem wir arbeiten, indem wir zulassen, dass unser Tun in entfremdete und entfremdende Arbeit verwandelt wird.

Ein weltweiter Massenstreik würde das Kapital zerstören, aber die Bedingungen existieren gegenwärtig nicht dafür. Es ist schwer zu sehen, wie jeder Mensch auf der Welt überzeugt werden könnte, sich gleichzeitig zu weigern, für das Kapital zu arbeiten.

Derzeit zumindest lässt sich die Revolution nur als eine Reihe von Spalten, Klüften, Löchern, Haarrissen vorstellen, die sich im gesellschaftlichen Gefüge verbreiten. Es gibt bereits Millionen solcher Löcher, Räume, in denen Menschen, ob individuell oder kollektiv, sagen, „NEIN, hier herrscht das Kapital nicht, hier werden wir unser Leben nicht nach dem Diktat des Kapitals richten“. Diese Löcher sind Ungehorsamkeiten, Aufsässigkeiten, Würden. In einigen Fällen (die EZLN in Chiapas, der MST in Brasilien, der Aufstand in Bolivien, die piqueteros und Nachbarschaftsversammlungen in Argentinien, und so weiter) sind diese Aufsässigkeiten, diese Löcher im Gefüge des Kapitals bereits sehr groß. Die einzige Weise, in der wir uns die Revolution vorstellen können, ist als Ausdehnung und Vervielfachung dieser Ungehorsamkeiten, dieser Haarrisse im kapitalistischen Kommando. Es gibt manche, die sagen, dass diese Ungehorsamkeiten, diese Risse im Weltkapitalismus nur wirkliche Bedeutung erlangen, wenn sie in Form von ungehorsamen und revolutionären Staaten institutionalisiert werden und dass die ganze Bewegung der Ungehorsamkeit auf dieses Ziel zusteuern muss. Aber es gibt keinen Grund, warum die Ungehorsamkeiten in Staatsform institutionalisiert werden sollten und viele Gründe, warum sie es nicht sollten.

Wie jedoch hören wir, ausgehend von diesen vielen Haarrissen, diesen vielfältigen Würden, auf, den Kapitalismus zu machen?

Indem wir uns weigern zu arbeiten: nicht nur indem wir im Bett bleiben, sondern indem wir uns weigern, unser Tun in Arbeit zu verwandeln, das heißt zu tun, was wir als bedeutsam, notwendig oder angenehm erachten, aber uns zu weigern, unter dem Kommando des Kapitals zu arbeiten.

Dies impliziert einen Kampf des Tuns gegen die Arbeit, des Inhalts gegen seine kapitalistische Form. Dabei wird davon ausgegangen, dass selbst im modernen Kapitalismus, in dem die Unterordnung des Tuns unter das Kapital in der Form von Arbeit eine sehr reale Unterordnung (oder Subsumtion) ist, es immer einen Rest von Würde, von der Insubordination des Inhalts gegen die Form gibt. Mensch zu sein heißt, für die Insubordination des Tuns gegen die Arbeit, für die Emanzipation des Tuns von der Arbeit zu kämpfen. Der schlechteste Architekt kämpft immer dagegen, in die beste Biene verwandelt zu werden. [12] Hierin liegt die Bedeutung der Würde.

Der Kampf des Tuns gegen das Sein, das heißt der Kampf um die Emanzipation des Tuns, ist eine Alltagspraxis. Es ist normal für Menschen im-und-gegen-das-Kapital [13] zu arbeiten (oder zu tun), und trotz der kapitalistischen Organisationsform zu versuchen, das was sie machen, gut zu machen, für den Gebrauchswert und gegen den Wert zu kämpfen. Offensichtlich gibt es auch sehr viele Jobs, in denen es schwierig ist, irgendeinen Raum für eine Revolte des Tuns gegen die Arbeit zu sehen. In solchen Fällen kann der Kampf der-und-um-die [14] Würde nur als Kampf der totalen Negation (Sabotage und andere Formen der Arbeitsverweigerung) verstanden werden.

Aber es gibt zweifellos viele Beispiele, die darüber hinaus gehen, von Menschen, die Fabriken oder Schulen oder Kliniken besetzen und versuchen, sie auf einer anderen Grundlage zu organisieren, indem sie Bäckereien, Werkstätten oder Gärten für die Gemeinde erschaffen, freie Radios aufbauen und so weiter. Alle diese Projekte und Revolten sind begrenzt, unzureichend und widersprüchlich (wie sie es in einem kapitalistischen Kontext auch sein müssen), aber es ist schwer erkennbar wie wir ein emanzipiertes Tun anders erschaffen können als in Form dieser Zwischenräume, durch einen Prozess des Ineinanderverwebens verschiedener Formen des Kampfes des Tuns gegen die Arbeit, des Verknüpfens der verschiedenen Tuns in-und-gegen-und-jenseits [15] des Kapitals.

Die Emanzipation des Tuns bedeutet die Selbstbestimmung des Tuns. Dies impliziert irgendeine Form von Räteorganisation, eine Form in der Menschen zusammenkommen, um zu bestimmen, was zu tun ist und wie es zu tun ist. Die Tradition der Räte (oder der Sowjets) hat eine lange Geschichte in der kommunistsichen Bewegung und taucht in verschiedenen Formen in allen Rebellionen auf. Ihr zentraler Punkt besteht in dem Beharren auf der kollektiven Selbstbestimmung des Tuns. Dies bedeutet die Ablehnung der Herrschaft von außen, die Akzeptanz, dass die Menschen hier und jetzt, mit all ihren Problemen und Schwächen und Neurosen, mit allen durch jahrhundertelange Herrschaft eingeprägten Verhaltensweisen, ihr eigenes Handeln bestimmen sollen.

In diesen vielen Experimenten (gleich ob sie durch die Notwendigkeit zu überleben aufgezwungen sind oder nicht) ist das zentrale Thema nicht das Überleben, sondern die Emanzipation des Tuns, die Erschaffung eines Tuns, das nicht dem Profit unterliegt, sondern den Wünschen der Tuenden.

Jede Revolution, in deren Mittelpunkt nicht die Emanzipation des Tuns steht, ist zum Scheitern verurteilt (weil sie keine Revolution ist). Die Emanzipation des Tuns führt uns zu einer anderen Zeit, einer anderen Grammatik, einer anderen Lebensintensität. Die Emanzipation des Tuns ist die Bewegung der Anti-Fetischisierung, die Wiedererlangung der Kreativität. Nur so können die Haarrisse zu Anziehungspolen werden anstatt Ghettos zu sein, und nur wenn sie Anziehungspole werden, können sie expandieren und sich vervielfältigen. Die Revolutionen in Russland und Kuba waren anfangs für viele, die von einer anderen Form zu leben träumten, Anziehungspole: Die Tatsache, dass es nicht wirklich zu einer Emanzipation des Tuns in diesen Gesellschaften kam, führte dazu, dass sie nach und nach diese Anziehung verloren (obwohl im Falle Kubas die Unterstützung und Solidarität weiter bestehen). Und dasselbe gilt für viele alternative Projekte heute: wenn das einzige Ergebnis dieser Projekte ist, dass die Beteiligten arm und isoliert sind und sich langweilen, dann werden diese Projekte keine Anziehungspole sein. Wenn Rebellionen nicht attraktiv sind, dann werden sie sich nicht ausbreiten. Anders ausgedrückt, aufhören, den Kapitalismus zu machen, muss als realistisches Projekt gedacht werden, aber wenn der Realismus kein magischer Realismus [16] ist, dann hört er auf, realistisch zu sein.

Der Kampf des Tuns gegen die Arbeit ist ein Kampf um einen anderen menschlichen Reichtum zu erschaffen: ein Reichtum, der von gesellschaftlichen Bedürfnissen und nicht von kapitalistischer Aneignung geprägt ist, ein Reichtum, der nicht vom Kapital angeeignet ist. Heutzutage produzieren Menschen jeden Tag einen enormen Reichtum, aber fast alles davon eignet sich das Kapital an, so dass die einzige Form in der wir Zugang zu diesem Reichtum haben können, die ist, sich zu verbiegen, sich dem Kommando des Kapitals zu beugen. Es ist leicht, sich zu weigern für das Kapital zu arbeiten, aber wie können wir überleben, ohne uns dem Kapital unterzuordnen?

Jeder Versuch einen Zugang zu den Reichtümern des menschlichen Tuns zu bekommen, stößt auf das „Eigentum“. Aber Eigentum ist kein Ding, sondern ein Verb, ein alltäglich wiederholter Prozess der Aneignung des Produktes unseres Tuns. Der Prozess der Aneignung (der ständig auf neue Gebiete des Tuns ausgeweitet wird) ist auf Gewalt gestützt, hängt aber großenteils von der Fetischisierung des Prozesses ab, von der Transformation des Verbes „aneignen“ in das Substantiv „Eigentum“. Der Widerstand gegen den Prozess der Aneignung ist Teil des Prozesses der Erschaffung eines anderen Tuns, eines Tuns, welches gleichzeitig sowohl entfetischisiert als auch eine andere Gesellschaftlichkeit erschafft.

IV

Es gibt viele Probleme und es gibt keine anwendbare Modelllösung. Es ist klar, dass wir jetzt aufhören müssen, den Kapitalismus zu machen, dass wir aufhören müssen, das uns umgebende Elend, die Unterdrückung und die Gewalt herzustellen. ¡Ya basta! ¡Que se vayan todos! Die Parolen der letzten Jahre machen deutlich, dass viele Menschen vom Kapitalismus die Nase voll haben.

Natürlich gibt es viele Probleme. Nachdem wir sagen, „Nun mach schon, jetzt geh, geh raus zur Tür“, gibt es immer noch viele Kräfte, die uns in dieses Verhältnis zurückziehen. Aber unser Denken darf sich nicht auf der Achse der Kontinuität bewegen, sondern muss der Diskontinuität, dem Bruch, der Ruptur folgen. Wir müssen jetzt aufhören, den Kapitalismus zu machen. Das Problem der TheoretikerInnen ist vielleicht, dass wir unsere Zeit damit verbringen, gordische Knoten aufzuknoten (oder gar zu knoten) während wir eigentlich von der Energie des 19./20. Dezember 2001, von dem Aufstand im Oktober 2003 in Bolivien, vom 1. Januar 1994 [17] ausgehen müssten. Nicht Herrschaft, sondern Bruch steht im Mittelpunkt unseres Denkens.

Bruch bedeutet nicht, dass der Kapitalismus verschwindet. Die Haarrisse bedeuten nicht, dass der Kapitalismus verschwindet. Aber anstatt sich die Revolution als ein Ereignis vorzustellen, das in der Zukunft stattfindet (wer weiß wann) und relativ kurz ist, scheint es besser zu sein, sie sich als einen bereits begonnenen Prozess zu verstehen, der einige Zeit brauchen wird, eben genau deswegen, weil die Revolution nicht von der Erschaffung einer alternativen Welt getrennt werden kann.

Wir sehen, wohin wir gehen wollen. Es schimmert im Morgendunst wie eine Insel auf der anderen Seite des Meeres. Aber wir können nicht dorthin gelangen, indem wir Trittsteine verlegen und von einem Stein zum anderen springen, die Partei aufbauen, die Kontrolle über den Staat erlangen, Sozialreformen durchsetzen. Das wird nicht funktionieren, denn die Insel, die wir im Dunst schimmern sehen, befindet sich nicht im Meer, sondern im Himmel und die einzige Möglichkeit dorthin zu gelangen, ist zu fliegen. Es scheint unmöglich, bis wir merken, dass wir bereits fliegen.

e-mail: John johnholloway/ at /prodigy.net.mx

Fußnoten
[1] Dies ist die schriftliche Fassung eines Vortrages, gehalten im November 2003 im Museum für zeitgenössische Kunst in Barcelona (MACBA).
[2] Zuerst 1941 auf Spanisch erschienen, auf deutsch: „Die kreisförmigen Ruinen“, in: Borges, Jorge Luis (1992) Fiktionen, Erzählungen 1939-1944, übersetzt v. K.A. Horst, W. Luchting, G. Haefs, (Werke in 20 Bänden, Bd. 5), Fischer Taschenbuch Verlag, S. 46-52.
[3] J.H. führt hier erstmals den für diesen Text zentralen Begriff „duration“ ein, der je nach Kontext mit „Fortdauer“, „Dauer“, „Dauerhaftigkeit“ übersetzt wird.
[4] Unübersetzbares Wortspiel: „revolution“ bedeutet im Englischen auch Umdrehung. Gemeint ist also die „stillstehende Revolution“ des Uhrzeigers, der sich im Kreis dreht.
[5] Der Begriff „genetic criticism“ meint nicht nur die ideengeschichtliche Nachvollziehung des Auseinanderfallens von Subjekt und Objekt, sondern ein Verständnis der Genese dieses Prozesses als Entwicklung des Prozesses des Tuns, als menschliche Genese.
[6] Marx, Karl ([1894] 1983) Das Kapital, Bd. 3 (Berlin/DDR: Dietz), S. 838.
[7] Walter Benjamin spricht in seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ vom ‚Aufsprengen des historischen Kontinuums‘ (These XV), in: Benjamin, Walter ([1942] 1978) Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, (Frankfurt/M.: Suhrkamp), S. 701.
[8] Deutsch im Original. Von Benjamin in These XIV der Geschichtsthesen gegen die „homogene und leere Zeit“ gesetzter Begriff, s. Fn. 5.
[9] Übersetzung des Refrains des Liedes „I will survive“ von Gloria Gaynor.
[10] „Haut alle ab!“: Gegen Politiker und Wirtschaftsvertreter jeglicher Couleur gerichtete Parole des argentinischen Aufstandes vom 19./20.12.2001.
[11] Es reicht: Ruf des zapatistischen Aufstandes.
[12] „Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut“, in: Marx, Karl ([1890] 1984) Das Kapital, Bd. 1 (Berlin/DDR: Dietz), S. 193.
[13] Im Original: „in-and-against capital“. Mit solchen Formulierungen versucht J.H. das dialektische Verhältnis, in dem das menschliche Tun sich befindet, auszudrücken.
[14] Im Original: „of-and-for“. S. Fn. 8.
[15] Im Original: „in-and-against-and-beyond“. S. Fn. 8.
[16] „Magischer Realismus“ ist die vor allem mit dem Werk García Márquez’ verknüpfte Stilrichtung lateinamerikanischer Literatur, die wesentlich den „1. Boom“ der sechziger Jahre mit bestimmte. Sie geht u.a. zurück auf den künstlerischen Aufbruch im Anschluss an den Ersten (Surrealismus) und Zweiten Weltkrieg (Neorealismus). In diesem Kontext richtet sich das „magische“ gegen die „Realpolitik“ herkömmlicher sozialistischer/kommunistischer Bewegungen.
[17] Am 19./20. Dezember 2001 kam es in Argentinien zu einem Aufstand gegen die IWF-freundliche Regierungspolitik, der mehrere Regierungschefs kurz nacheinander hinwegfegte. Protagonisten waren vor allem Nachbarschaftsversammlungen und Erwerbslosenbewegungen. Im Oktober 2003 kam es in Bolivien zu einem bäuerlich-indigenen Aufstand gegen die neoliberale Politik der Regierung. Am 1.1.1994 kam es, zeitgleich zum Inkrafttreten des NAFTA-Freihandelsabkommens zwischen den USA und Mexiko, im mexikanischen Bundesstaat Chiapas zu einem bis heute andauernden Aufstand einer bäuerlich-indigenen Guerilla gegen die neoliberale Politik der mexikanischen Regierung.

Originaltext: http://www.grundrisse.net/grundrisse11/11john_holloway.htm


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