Die Beerdigung von Peter Kropotkin in Moskau, 13. Februar 1921

Einleitung (Rudolf Rocker)

Unter den zeitgenössischen Denkern, welche die sozialistische Bewegung der letzten vierzig Jahre geistig befruchtet haben, war Peter Kropotkin einer der wenigen, die uns zu einer tieferen Wertung der ganzen sozialistischen Ideenwelt geführt und unserer Erkenntnis in dieser Richtung ganz neue Perspektiven eröffnet haben. Seine grandiose Philosophie der Gegenseitigen Hilfe, die den Kern seiner ganzen Lehre bildet und die unser Innerstes mit unwiderstehlicher Gewalt ergreift, ist so recht eigentlich der Wesensinhalt der gesamten sozialistischen Weltanschauung. Und was dieser Auffassung des gesellschaftlichen Zusammenlebens ihre unvergängliche Bedeutung gibt, ist die Tatsache, daß sie nicht den spekulativen Betrachtungen eines weltfremden Gelehrten entsprungen ist, sondern als Ergebnis konkreter wissenschaftlicher Forschungen und eingehender geschichtlicher Untersuchungen gewertet werden muß.

Kropotkins lichtvoller Ausblick auf die Entwicklung der sozialen Lebenserscheinungen war eine glänzende Widerlegung der einseitigen und beschrankten Auslegung von Darwins These über den Kampf ums Dasein, die seit Jahrzehnten von dem hervorragendsten Vertreter der modernen Naturwissenschaft dahingehend aufgefaßt wurde, daß nicht nur zwischen den verschiedenen Arten, sondern auch innerhalb derselben Gattungen ein ununterbrochener Krieg stattfinde, in dessen Verlauf die ,,Starken“ sich behaupten und die „Schwachen“ zugrunde gehen müßten. Diese Auslegung gab besonders den Verfechtern des sogenannten sozialen Darwinismus, an deren Spitze der englische Gelehrte Huxley figurierte, die Möglichkeit, den düsteren Kundgebungen Malthus‘ vom „Tische des Lebens, der nicht für alle gedeckt ist“, neuen Glanz zu verleihen und sie auf einer angeblich wissenschaftlichen Grundlage neu zu fundieren. Und nun kam Kropotkin und zeigte uns an der Hand eines schier unerschöpflichen Materials, daß diese Auffassung der Natur nur eine groteske Karikatur der eigentlichen Erscheinungen des Lebens ist und daß neben dieser von vielen Anhängern Darwins mit besonderer Vorliebe betonten brutalen Form im Kampf ums Dasein noch eine andere Form existiert, die in dem gesellschaftlichen Zusammenschluß der schwächeren Arten und in ihrer praktischen Betätigung der gegenseitigen Hilfe untereinander ihren Ausdruck findet. Diese zweite Form im Kampf ums Dasein aber erweist sich sowohl für die Existenz des Einzelwesens als auch für das Bestehen der Gattung viel wirksamer als der brutale Ring der Starken gegen die Schwachen, was schon durch den auffallenden Rückgang jener Arten, die isoliert leben und ihre Existenz nur mit Hilfe ihrer rein physischen Ueberlegenheit fristen, deutlich genug bewiesen wird.

Am offenkundigsten zeigt sich dies in der Geschichte der menschlichen Entwicklung. In jeder besonderen Phase dieser Entwicklung begegnen wir vielen tausenden gesellschaftlichen Einrichtungen und Gewohnheiten, die ihren Ursprung dem Gefühle gegenseitiger Solidarität verdanken, das in der Gemeinschaftlichkeit der Interessen seine Wurzel findet. In den Stammesverbänden der Wilden und in den Markgenossenschaften der Barbaren, in den Künstler- und Handwerkergilden der freien Städte des Mittelalters und in unzähligen Organisationen und Einrichtungen unserer eigenen Zeit wirkt und schafft der Geist der gegenseitigen Hilfe und erweist sich überall als der gewaltigste Faktor jeder gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung. – Nicht der Mensch war der Erfinder der Gesellschaft; die Gesellschaft und der Instinkt der Soziabilität wurden ihm schon von jenen Gattungen als Erbschaft übermittelt, aus deren Schoße er geboren wurde und die seiner Menschwerdung vorausgingen. Und dieser Geist der Soziabilität, der den breiten Massen schon zum Instinkt geworden ist, befruchtete stets die Initiative und die schöpferische Tätigkeit der Völker.

Auf diese Art erklärt auch Kropotkin den Ursprung und die Entwicklung der moralischen Empfindungen im Menschen. Weder der berühmte Kategorische Imperativ Kants, noch das hohle Wortgebimmel des großen Amoralisten Nietzsche, das über die innere Leere und Haltlosigkeit der famosen ,,Jenseits von Gut und Böse“-Theorie nicht hinwegzutäuschen vermag, konnten ihm in dieser Hinsicht bestimmte Fingerzeige geben. Auf dem Boden der konkreten wissenschaftlichen Forschung fußend, erblickte Kropotkin in den ethischen Empfindungen der Menschen das natürliche Ergebnis ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens und den Ausdruck des gegenseitigen Mitgefühls, das allmählich in den Sitten und Gewohnheiten der Menschen seinen Niederschlag fand. Diese Erbschaft aus uralten Zeiten in der Form sozialer Gefühle und Gebräuche bildet das kostbarste Gut des Menschen und die eigentliche Basis jeder fortschreitenden Entwicklung. In diesem Sinne ist der Sozialismus für Kropotkin keine luftige Utopie, sondern der höchste und vollendetste Ausdruck jenes Geistes der gegenseitigen Hilfe, der eine bestimmt ausgeprägte Tendenz der menschlichen Entwicklung bildet. Kropotkins Sozialismus erscheint uns als das Ergebnis der schöpferischen Fähigkeiten im Schoße des Volkes, der sich von unten nach oben entwickelt, wie eine Pflanze, die von der Wurzel anfängt, um allmählich zur Blüte und Frucht zu gelangen. Man kann ihn nicht willkürlich diktieren oder durch Regierungsdekrete künstlich ins Leben rufen. Jeder solcher Versuch trägt den Keim des Todes in sich, da er unwiderruflich zum Staatskapitalismus, zur schlimmsten Form jeglicher Ausbeutung, führen muß.

Der fortwährende Kampf zwischen Autorität und Freiheit, zwischen Staatssklaverei und freier Vereinigung, zwischen Regierung und Verwaltung, zwischen organisierter Gewalt und gegenseitiger Verständigung, der sich in allen Zeiten der Geschichte abspielte, ist nur eine Kundgebung zweier verschiedener Tendenzen in der Gesellschaft, die sich stets feindlich gegenüberstehen. Die erste Tendenz, welche die brutale Form des Kampfes ums Dasein in sich verkörpert, ist ihrem Wesen nach antisozial und erstrebt stets die Unterwerfung und Ausbeutung der breiten Massen zugunsten privilegierter Minderheiten. Sic tritt stets auf in irgendeiner Form der öffentlichen Macht und war immer ein Hindernis für jede gesellschaftliche Entwicklung. Die zweite Tendenz entspringt den gesellschaftlichen Instinkten der Massen; sie entwickelt ihren Betätigungstrieb und ihre schöpferische Initiative und legt in Tausenden von Einrichtungen Zeugnis ab für ihre kulturfördernden Kräfte.

Kropotkins Sozialismus ist eine Art Synthese, in der sich die Sehnsucht nach persönlicher Freiheit und das Streben nach sozialer Gleichheit zusammenfinden. Der Sozialismus wird frei sein, oder er wird nicht sein. Zusammen mit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen muß auch die Herrschaft des Menschen über den Menschen verschwinden, zusammen mit dem Monopol des Besitzes auch das Monopol der Macht fallen. Nicht die Eroberung des Staates, sondern dessen Ueberwindung ist das große politische Ziel des Sozialismus. An Stelle des zentralen Machtapparates muß die freie Föderation selbständiger Gemeinden treten, an Stelle des gesetzlichen Zwanges die freie Vereinbarung und gegenseitige Verständigung. Kropotkin erblickt die Tendenzen einer Entwicklung in dieser Richtung in den tausenden und abertausenden von freien Vereinigungen auf allen Gebieten des sozialen Lebens, die ihre Existenz lediglich allgemein empfundenen Bedürfnissen und der freien Initiative der Menschen verdanken.

Aber Kropotkin erkennt sogar dieselben Entwicklungstendenzen auf dem Gebiete der Wirtschaft, und die Ideen, die er darüber in seinem Werke "Felder, Fabriken und Werkstätten“ niedergelegt hat, haben geradezu bahnbrechend gewirkt. Die meisten sozialistischen Denker in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts waren förmlich hypnotisiert von der gewaltigen Entwicklung der Industrie und den technischen Fortschritten auf allen Gebieten der industriellen Produktion. Es ist daher auch gar nicht verwunderlich, daß sie der Industrie ihre Hauptaufmerksamkeit zuwandten und die Landwirtschaft sehr stiefmütterlich behandelt haben. Auch die Väter der modernen Nationalökonomie waren wie geblendet von den Resultaten dieser neuen Formen der menschlichen Produktion und erblickten in ihnen die eisernen Grundlagen wirtschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten mit unbeschränkten Perspektiven. Und so stark war der Einfluß ihrer Lehren, daß eine große Zahl sozialistischer Denker sich von ihrem Geiste bannen ließ und in der modernen Arbeitsteilung und der industriellen Zentralisation die unvermeidlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung des Sozialismus erkennen wollten.

Kropotkin verwarf die Theorie der sogenannten Arbeitsteilung auf das entschiedenste und bewies, dass sie der Ertragsfähigkeit der Produktion keineswegs förderlich ist, sondern direkt hindernd im Wege steht. Indem man vergaß, daß die Produktion keineswegs der Zweck des Lebens, sondern nur ein Mittel ist, dasselbe angenehm zu gestalten, gelangte man notwendigerweise zu der Auffassung, daß der Mensch für die Produktion und nicht die Produktion für den Menschen existiere. In diesem Sinne war die Arbeitsteilung zwar eine sehr wichtige Voraussetzung für das kapitalistische Ausbeutungssystem, aber keinesfalls für den Sozialismus, der von einer direkt entgegengesetzten Auffassung ausgehen muß. Kropotkin predigte daher die Arbeitseinheit, die vielseitige und möglichst abwechselnde Beschäftigung des Menschen als die einzige Basis des Sozialismus. An der Hand eines gewaltigen Materials konkreter Tatsachen zeigt er uns, daß die Zentralisation der Industrien nur eine vorübergehende Erscheinung unseres Wirtschaftslebens gewesen ist, und daß gerade die Verfeinerung der Technik und die fortschreitende Einstellung des produktiven Schaffens nach wissenschaftlichen Grundsitzen zu einer immer größeren Dezentralisation der Industrie führt. Der Drang nach industrieller Selbständigkeit, der heute alle Völker erfasst hat, fördert diesen Prozeß in ungeahnter Weise und gibt somit der wirtschaftlichen Entwicklung unserer Zeit eine bestimmte Richtung, die sich immer deutlicher abhebt von Erscheinungen sekundärer Natur. Die Einheit der Arbeit fordert aber auch einen rationellen Ausgleich zwischen Industrie und Landwirtschaft, den Kropotkin in großen Zügen und an der Hand eines überreichen Materials entwickelt hat, um eine Lösung dieses schwersten aller Probleme praktisch anzubahnen. Dazu ist auch eine ganz neue Art unserer ganzen Erziehung nötig, die die künstlichen Schranken zwischen Kopf- und Handarbeit gänzlich beseitigt und die in der Vielseitigkeit des individuellen Wissens und Könnens ihr vornehmstes Ziel erblickt. Eine Erziehung tut uns not, die nicht ausschließlich spezialisiert und immer wieder spezialisiert, sondern die zu vereinen weiß, und die Brücke großer Synthesen schlagen kann. Nur auf diese Weise kann der Mensch vom Joche der Uniformität und der geistigen Schablonisierung erlöst und sein Persönlichkeitsgefühl wieder gestärkt und entwickelt werden. – Nicht Zentralisation, sondern Dezentralisation, nicht Arbeitsteilung, sondern Arbeitseinheit wird das Losungswort der Zukunft sein. In dieser Richtung führt der Weg zum Sozialismus.

Kropotkin zeigte uns die Keime dieses neuen Werdens. Er zeigte uns, wie bei dem heutigen Stande unserer technischen und wissenschaftlichen Entwicklung wir leicht imstande wären, jedem Mitgliede der Gesellschaft einen relativen Wohlstand zu garantieren. Und diese Erkenntnis führte ihn dazu, jede Abschätzung des individuellen Anteils am allgemeinen Arbeitsertrage zu verwerfen, da sie niemals gerecht sein kann, und das Lohnsystem in jeder Form abzulehnen. Anarchie und Kommunismus sind die beiden Grundpfeiler seines Sozialismus. Sein Mittel die soziale Revolution. Und weil er jede soziale Umwälzung nur aus den Tiefen des Volkes erwartet, deshalb maß er den wirtschaftlichen Verbänden, der modernen Arbeiterbewegung, eine so große Bedeutung bei, da er in ihnen die eigentlichen Träger eines neuen Werdens erblickte.

Was die allgemeine sozialistische Bewegung in Kropotkin verloren hat, läßt sich überhaupt nicht abschätzen. Der Verlust ist um so größer, als unter dem heutigen Geschlecht keiner ist, der seinen Platz auch nur einigermaßen auszufüllen imstande wäre. Gerade in unserer Zeit, wo eine alte Zivilisation ihrem Ende entgegeneilt, und wir bereits die ersten schwachen Anzeichen einer neuen sozialen Kultur zu erblicken vermögen, gerade heute, wo auf beiden Fronten der sozialistischen Welt die beiden Losungen: "Hie Staatskapitalismus! Hie freiheitlicher Sozialismus!“ starker denn je zuvor in unseren Ohren tönen, gerade heute wirkt der Name Kropotkins wie das Symbol einer Zeit, die da kommen wird, um uns vom Fluche der Knechtschaft und Ausbeutung zu erlösen und uns neue Horizonten des Lebens entgegenzuführen.

Rudolf Rocker

Bilder der Beerdigung

Peter Kropotkin auf dem Totenbett:

Peter Kropotkins Beerdigung


Der Sarg wird aus dem Haus getragen:

Peter Kropotkins Beerdigung


Trauerzug auf dem Weg zum Bahnhof:

Peter Kropotkins Beerdigung


Begräbniskommittee Moskauer Anarchisten - ganz vorne Alexander Berkman:

Peter Kropotkins Beerdigung


Die Eherengarde:

Peter Kropotkins Beerdigung


Ein freigelassener Anarchist beim Begräbnis:

Peter Kropotkins Beerdigung


Die Begräbnisprozession in den Strassen Moskaus:

Peter Kropotkins Beerdigung


Ein freigelassener Anarchist, Aaron Baron spricht am Grab:

Peter Kropotkins Beerdigung


Alexander Berkman, Emma Goldman, G. P. Maksimov und andere am Grab:

Peter Kropotkins Beerdigung


Die Russische Konföderation der Anarchosyndikalisten am Grab:

Peter Kropotkins Beerdigung


Ausländisches Büro zur Schaffung der russischen Anarcho-Syndikalistischen Konföderation: Album. Die Beerdigung von P. A. Kropotkin in Moskau, 13. Februar 1921, Berlin, Kater, 1922, S. 7-15.


Die Bilder wurden der Homepage des International Institute of Social History entnommen