Heinz Hug - „... ein Guerillakampf mit anderen Mitteln“

„Ich glaube, daß die anarchistische Utopie die menschlichen kreativen Möglichkeiten und den Respekt vor dem Menschen am besten gewährleistet, besser als das kommunistische Modell, an dessen Gerechtigkeit ich früher geglaubt habe.“

Diesen Satz von einer Psychoanalytikerin zu hören, ist zumindestens ungewöhnlich, haben sich die PsychologInnen doch zu einem großen Teil gar nicht mit gesellschaftlichen Konzepten beschäftigt, und haben linke PsychologInnen es getan, so war es vor allem der Marxismus, der zur Erweiterung ihrer Wissenschaft beigezogen wurde.

Versuche, Bezugspunkte zwischen dem Anarchismus und der Psychologie herzustellen, oder genauer gesagt: zwischen dem Menschen- und Gesellschaftsbild der anarchistischen Theorie und anthropologischen Konzepten der verschiedenen psychologischen Schulen, gibt es bisher kaum. An einem der wenigen Versuche mitbeteiligt ist jene Frau, von welcher der eingangs zitierte Satz stammt: Goldy Parin-Matthey. Zusammen mit ihrem Mann, Paul Parin, und dem inzwischen verstorbenen Fritz Morgenthaler bildete sie sich zur Psychoanalytikerin aus; in Zürich arbeiteten die drei bis vor kurzem in einer psychoanalytischen Praxis. Gemeinsam unternahmen sie auch verschiedene Forschungsreisen nach Westafrika; diese bildeten die Grundlage zur Entwicklung der Ethnopsychoanalyse, einer Forschungsrichtung, welche in der Weiterentwicklung der Psychoanalyse heute ein große Rolle spielt.

Es sind vorerst lebensgeschichtliche Hintergründe, welche den Zusammenhang von Anarchismus und Psychoanalyse im Werk und der Tätigkeit von Goldy und Paul Parin begründen. Sie wurde 1911 in Graz geboren, 1937 ging sie nach Spanien. Er stammt aus Slowenien (geb. 1916) und studierte in Zürich Medizin. 1944 gingen beide zusammen nach Jugoslawien, um auf der Seite der Partisanen medizinische Zentren aufzubauen. In einem langen Interview, welches MitarbeiterInnen des alternativen Lokalsenders LORA im Jahre 1986 mit Goldy Parin-Matthey führten, berichtet sie von ihren Erfahrungen in Spanien sowie von ihren Überlegungen zum anarchistischen Gesellschaftsentwurf.

Anarchismus als historische Lebenserfahrung

Die damals fünfundzwanzigjährige Goldy Parin-Matthey lebte in Österreich, als in Spanien die von faschistischen Generälen befehligten Militärs dazu ansetzten, das demokratisch-republikanische Spanien zu zerschlagen. Was für sie diese Ereignisse bedeuteten und was sie dazu bewog, mit den Internationalen Brigaden nach Spanien zu gehen, schildert sie so: „Ich bin Schweizerin, in Österreich geboren und aufgewachsen und habe dort den Nationalsozialismus hautnah erlebt. Schon seit 1930 war Österreich durch das Anwachsen der Nationalsozialisten in Deutschland und im eigenen Land bedroht. Als 1933 Dollfuss als Bundeskanzler an die Regierung kam, das Parlament auflöste und den christlich-faschistischen Ständestaat ausrief, was man den Austro-Faschismus nennt, beschloß die Arbeiterschaft mit ihren bewaffneten republikanischen Schutzbundformationen, die nur der Sozialistischen Partei unterstellt waren, im Februar '34 den bewaffneten Sturz der Regierung. Am Vorabend des Aufstandes flüchteten die Bonzen, unter ihnen der Parteisekretär der Sozialisten, Otto Bauer, mit den Schlüsseln der Waffenarsenale des Schutzbundes in der Tasche nach Prag. Der Generalstreik wurde darum nur teilweise befolgt; der Aufstand der Schutzbündler wurde von der vereinigten Armee der Polizei und den bewaffneten christlichen Heimwehrmilizen nach langem Widerstand blutig niedergeschlagen. Es folgte die standrechtliche Liquidierung der Führer und Kämpfer. Die nächsten drei Jahre waren eine Zeit ständigen Anwachsens der Nazis in Österreich, Straßenschlachten der Arbeiter und Studenten mit Polizei und katholischer Heimwehr. Als '36 in Frankreich die Volksfront siegte und in Spanien die Republik ausgerufen wurde und sofort der Putsch der faschistischen Generäle einsetzte, wobei die anarchistischen Arbeitermilizen und Republikaner in Katalonien und in Zentralspanien den Putsch zum Stehen brachten, und ich von der Organisation der Internationalen Brigaden hörte, meldete ich mich sofort als Freiwillige. Ich war Röntgenassistentin und medizinische Laborantin - das konnten sie brauchen.“

In Österreich hatte sich Goldy Parin-Matthey zwar keiner politischen Gruppe oder Partei angeschlossen, doch sie war an den geschilderten Ereignissen und am Kampf gegen den Faschismus stark beteiligt gewesen. Die zunehmende Faschisierung Mitteleuropas ließ jedoch diesen Kampf immer stärker als aussichtslos erscheinen; der Abwehrkampf des spanischen Volkes gegen die Franco-Truppen wurde für viele europäische Sozialisten zu jenem Ereignis, das die Auseinandersetzung zwischen der fortschrittlichen Bewegung und dem vorerst von den bürgerlichen Demokratien unterstützten Faschismus entscheiden sollte. Die Parallele zu heute ist evident: eine Resignation in den Industriestaaten in Bezug auf die Möglichkeit einer Veränderung zu menschlicheren Verhältnissen, gleichzeitig der Versuch, die von der Peripherie ausgehenden Veränderungen (insbesondere in Nicaragua, in der Dritten Welt insgesamt) zu unterstützen. Gerade in diesem Zusammenhang sind die Schilderungen von Goldy Parin-Matthey über ihren Weg nach Spanien aufschlußreich, vor allem die Beschreibungen der psychischen Auswirkungen ihres Unternehmens - nach Spanien zu gehen, war für sie eine Chance:

„In Österreich war gar nichts mehr zu machen. Und ich sah sofort: Das ist die Chance, vielleicht können wir dort noch die braunen Massen aufhalten. Es war ganz klar, in Österreich wußte man, daß der Krieg kommt, der 2. Weltkrieg. Also, ich hatte keine Angst, und es war außerordentlich spannend. Es war spannend, wie ich nach Spanien kam. In Österreich mußte alles klandestin geschehen. Es wurde von der Kommunistischen Jugend Wien organisiert, da bekam ich Ende März eine Fahrkarte nach Basel, und dort sollte ich mich in einem Lokal bei "dem Schwarzen" melden. Dann bin ich also nach Basel gegangen; "der Schwarze" hat mich dann weitergeleitet, mir eine Zugkarte erster Klasse Schnellzug in die Hand gedrückt, und so kam ich nach Paris. In Paris stiegen wir, die im Zug waren und die wir uns gegenseitig mißtrauisch beschauten, weil man ja nicht wußte, ob ein Spitzel dabei war, alle aus. Wir wurden mit Camions in das berühmte Hotel Esperance im 18. Bezirk, im Arbeiterbezirk, gebracht. Und das war nun außerordentlich eindrucksvoll: Den ganzen Tag kamen dort Freiwillige für Spanien von der ganzen Welt an. Das war so umwerfend. Die wurden dann weitergeschleust. Ich wurde aufgespart, weil es keinen Röntgenassistenten in Spanien gab, so war ich also wertvoll. Ich wurde dann mit einer Spezialtruppe nach Spanien geschleust, nach Südfrankreich zuerst, dann nach Sète, dann wieder nach Montpellier, mit dem Taxi, weil unten in Südfrankreich die croix feu waren, die damals jeden, der verdächtig war, nach Spanien zu gehen, sofort verhaften ließen.

Endlich war es so weit. In Sète lag ein Kutter an der Reling, und ich bin mit den sieben Genossen - der eine war der Fliegende, der das spanische Gold nach Frankreich gebracht hatte, und andere waren Militärexperten aus Kanada, und dann waren noch litauische Ärzte dabei - also mit denen sind wir dann nach einem Signal in den Bauch dieses Schiffes gesprungen, und dann hat das Schiff abgelegt. Dann war hoher Seegang, wir wurden alle furchtbar krank und waren überhaupt nicht heldenhaft, bis wir dann eben in Figueras an die Küste kamen. Dort wurden wir in die Kasematten der riesigen unterirdischen Festung gebracht. Und das war nun wiederum dieses unglaublich umwerfende Erlebnis, was ich wirklich jedem wünschen würde. Aus der ganzen Welt, selbst aus Japan, waren Freiwillige da, jeder mit seiner eigenen Geschichte und großen Strapazen und Gefahren, und kamen dort zusammen, alle, um gegen den Faschismus in Spanien zu kämpfen.

Ein Ereignis stimulierte meine Wachsamkeit. Als wir - die tausend Freiwilligen aus den Kasernen von Figueras - in den Zug gesetzt wurden, wir Frauen und Männer der Interbrigaden, waren es gerade die heißen Mai-Tage 1937. Wir wurden in einen verschlossenen Zug gesetzt, mit verschlossenen Fenstern. So fuhren wir nach Barcelona. Wir sollten den Barrikaden-Kampf der Kommunisten zusammen mit den republikanischen Regierungstruppen gegen die anarchistischen Milizen der CNT und der trotzkistischen POUM nicht sehen. Man sagte, das seien Kämpfe der UGT, der Kommunistischen Vereinigten Arbeiterpartei, mit der Fünften Kolonne; die würden den Faschisten helfen. Warum wir das nicht sehen sollten, machte mich mißtrauisch und hellhörig.“

Über ihre Tätigkeit als Interbrigadistin in Spanien berichtet Goldy Parin-Matthey in ihrem Interview nur wenig: „In Albacete, einer kleinen Stadt in der Mancha (Zentralspanien), war die Basis der Internationalen Brigaden und der CSI, der Centrale Sanitaire Internationale. Nach langen klandestinen Schleichwegen kam ich Anfang Mai 1937 nach Albacete ins Röntgen, und alle waren happy, weil plötzlich gute Röntgenbilder entstanden. Anfang 1938 bekam ich den Auftrag, das zentrale Laboratorium der internationalen Brigaden aufzubauen. Als die Franco-Truppen im Herbst '38 den Vorstoß ans Mittelmeer bei Vinaroz schafften und das republikanische Spanien in zwei Hälften teilten, evakuierten wir von Albacete nach Vieh in Katalonien am Hang der Pyrenäen, ungefähr tausend Kranke und Verwundete (Typhusepidemien usw.). Als Franco-Truppen vor Barcelona standen, waren wir noch ungefähr 30 Frauen der CSI, die die Schwerstverwundeten in der Nähe der französischen Grenze an der Küste weiterbetreuten, diese evakuierten und schließlich selbst mit dem letzten Camion die französische Grenze erreichten. Hunderttausende der Spanier flohen mit uns. Im breiten Strom wälzte sich der Flüchtlingsstrom der Bevölkerung zur Grenze, hinter uns waren die kleinen Einmann-Tanks der Italiener, nicht mehr schiessend, nur diese riesigen Massen vor sich her treibend. Dann - allez hopp - in ein Frauenkonzentrationslager in St. Zacharie nördlich von Marseille mit hundert spanischen Frauen und Kindern. Ende April '39 kam ich in die Schweiz, die ich vorher nicht kannte.“

Welche Aspekte des anarchistischen Konzepts Goldy Parin-Matthey hervorhebt, hängt einerseits mit ihren Erfahrungen in Spanien und Jugoslawien, andererseits mit ihrer Tätigkeit als Psychoanalytikerin zusammen. Ihre Betonung der anarchistischen Utopie als Lebensnorm, in welcher der Mensch seine Möglichkeiten am weitgehendsten entfalten kann, erscheint mir besonders wichtig. Dazu sagte sie im Interview: „Die anarchistische Utopie fördert Selbstverantwortung und das eigene Denken, lehnt Anpasserei und Abhängigkeit ab. Sie ist horizontal organisiert und schafft Vernetzungen unter gleichberechtigten Individuen. Was davon gelebt wurde: In Katalonien wurde es oft als Wunder bezeichnet, wie sehr diese revolutionäre, totale Umwandlung der Besitzverhältnisse ungefähr ein dreiviertel Jahr funktioniert hat. Die industrielle Produktion, Dienstleistungen, Verkehr und Landwirtschaft haben selbstverwaltet erstaunlich gut zu funktionieren begonnen. Die Anarchisten haben mitten im Krieg sogenannte befreite Gebiete geschaffen, wo sie begannen, ihre Art des Zusammenlebens als libertäre Gesellschaft zu kreieren. So viel Erfindungsgeist, Kreativität und gegenseitige Unterstützung sollte sich als Beispiel durchsetzen und nicht mit Macht durchgesetzt werden. Die republikanische Regierung, die dann schon ganz von der KP beherrscht wurde, ließ den Anarchisten wohl zu wenig Zeit, um ihre libertäre Ordnung als Beispiel zur Überzeugung und Motivierung der Bürger wirken zu lassen.“

Seit den Auseinandersetzungen zwischen Bakunin und Marx im Rahmen der Ersten Internationalen haben die gegenseitigen Abgrenzungsversuche zwischen dem Marxismus-Leninismus und dem Anarchismus sowohl auf der theoretischen Ebene als auch in der praktischen Politik nie aufgehört; sie nahmen oft einen sehr ineffizienten, bisweilen tödlichen Charakter an. Von einer besonderen Härte waren sie zur Zeit der Revolution und des Bürgerkriegs in Spanien, vielleicht lag der Grund dafür gerade darin, daß der Anarchismus damals zu seiner größten Bedeutung gelangte. Über die Hintergründe dieses Konflikts sagt Goldy Parin-Matthey: „Das Konzept einer vertikalen Organisation der KP mit Diktatur des Proletariats und Übernahme der Macht ist derart diametral entgegengesetzt zum Konzept des selbstverantwortlichen, freiwilligen Zusammenschlusses und der gegenseitigen Hilfe, einem Tauschhandel ohne entfremdetes Geld als Tauschwert, daß die beiden Modelle kaum einen Kompromiß zulassen. Für später war ja im kommunistischen Konzept ein vages Absterben des Staates enthalten; das ist eigentlich eine anarchistische Forderung, von der man aber jetzt nicht mehr redet. Die eine Seite muß die andere als chaotisch beziehungsweise machthungrig verwerfen. Ordnung im KP-Konzept heißt: Die wissende Avantgarde bildet die Macht-Elite, die für die stummen Massen denkt und sie führt. Auf diese Weise sind die Menschen besser regierbar. Borkenau berichtet in seinem Tagebuch „The Spanish Cockpit“ (dt. „Kampfplatz Spanien“, Klett-Cotta 1986; Anm. SF-Red.), von einem Gespräch mit einem bürgerlich-republikanischen Geschäftsmann in Barcelona 1936. Dieser sagt: „Die Kommunisten sind die besten Organisatoren, besser als die anderen Parteien. Sie sind die konservativsten. Sie sagen: Zuerst Krieg, dann eventuell Revolution - aber zuerst käme die bürgerliche, danach dann die proletarische Revolution.“

Die Infragestellung dieses anarchistischen Konzepts der Gleichzeitigkeit von Krieg und Revolution bildete einen der wichtigsten Streitpunkte zwischen der KP und den Anarchisten. Ein anderer bezog sich auf die „richtige“ Organisation des militärischen Kampfes: Miliz oder Volksarmee? Nach Goldy Parin-Matthey zeigte sich darin ein fundamentaler Widerspruch zwischen dem anarchistischen und dem kommunistischen Gesellschaftsentwurf: „Weshalb haben die Kommunisten 1937 begonnen, die unentschlossenen Bürger und Arbeiter zu bestechen, mit Geld und Rang, um sie ins republikanische Heer, das von der KP kontrolliert wurde, einzugliedern, z.B. das fünfte Regiment mit dem Kommunisten Lister als Befehlshaber. Die widerspenstigen anarchistischen Milizen, die nicht mitmachen wollten, wurden entwaffnet. Die Vorstellung, daß es Guerillatruppen womöglich hinter der Front unkontrollierbar vom zentralen Armeestab geben könnte, war ein Schreckgespenst.

Daß es bei der Frage „Miliz oder Volksarmee?“ um weit mehr ging als um die „richtige“ Organisationsform bzw. Strategie im spanischen Bürgerkrieg, macht Goldy Parin-Matthey deutlich, indem sie auf die weltkommunistischen Zusammenhänge verweist: „Wohin wäre Stalin mit seinen Säuberungen aller Genossen gekommen, die Eigeninitiative und eigenes Denken zeigten, wenn in Spanien die Anarchisten gesiegt, sozusagen hundert Blumen geblüht hätten? Ich habe den Konflikt insofern erlebt, als man die Milizen vor uns verteufelte. Aber die Internationalen Brigaden waren ebenfalls alle Freiwillige, und obwohl sie von Politkommissaren begleitet waren, herrschte bei uns der gleiche solidarische Elan wie bei den Milizen. Bezeichnenderweise wurden die Interbrigadisten, die in die Ostblockländer zurückgekehrt waren, 1948-49 fast alle umgebracht. Diese Genossen haben zuviel anarchistische Luft geatmet.“

Einer, der - aus ganz anderen Gründen - ebenfalls ein Opfer der stalinistischen Säuberungen wurde, war Trotzki. In bezug auf Spanien war er aus dem Lager der Kommunisten einer der schärfsten Kritiker der Anarchisten. Im Zusammenhang mit Fragen der feministischen Bewegung, deren Abdruck den Rahmen dieses Porträts sprengen würde, gibt Goldy Parin-Matthey eine äußerst lesenswerte Charakterisierung von Trotzkis Kritik: „In Trotzkis zweibändigem Werk über den Spanischen Bürgerkrieg (vgl. ISP-Verlag, Frankfurt; Anm. der SF-Red.) findet man deutlich eine sogenannte männliche Verachtung für die als weiblich diskriminierte Ablehnung der Macht durch die Anarchisten. Er schmäht sie: „Die verstehen nicht zu kämpfen; Revolutionen sind eben nur Männersache; Anarchisten sind Phrasendrescher, mutlos, murrend und flennend, haben nur Angst, sind durch und durch verweichlicht von der Routine friedlicher Zeiten“ etc. Dieses weibliche Pack kann er nicht verstehen. Er, anstelle der Anarchisten, die in Barcelona zu 90 Prozent herrschten, hätte natürlich die Macht durch hierarchische Organisationsformen befestigt und an sich gerissen. Er, der Organisator der Roten Armee, trifft auf ein fremdes, unheimliches Phänomen. Er muß es entwerten, am besten vernichten. Die Geschichte gibt ihm nicht recht. Der jugoslawische Befreiungskrieg hat die Lehren aus Spanien beherzigt, er war militärisch nach anarchistischen Prinzipien organisiert: Milizen, Guerilla, eigenverantwortliche Gruppen, sofortige revolutionäre Umwandlung in befreiten Gebieten.“

Die große Anziehungskraft, welche vom anarchistischen Konzept ausging, blieb den Führern der Kommunisten und Sozialdemokraten keineswegs verborgen; sie sahen darin eine Gefährdung ihrer Politik, die sie mit allen Mitteln zu bekämpfen suchten. Goldy Parin-Matthey faßt diese Anziehungskraft weiter, sie zeigt sich überall dort, wo sich in der menschlichen Gesellschaft „Ungezähmtheit“, „Widerständiges“ zeigt. Sie sagt: „Das emotionale Klima, das durch Solidarität und gegenseitige Hilfe so offen macht für Erfindungen und spontane und kreative Lösungen ist erschreckend und verführend für hierarchisch organisierte Massen wie für bürokratisch eingeengte Bürger. Das kleine Stückchen Ungezähmtheit, das in jedem Menschen steckt, drängt zu subversiven Ausbrüchen. Darum muß jede Regierung, die an der Macht ist, dieses Widerständige in den Regierten zu verhindern suchen. Wehret den Anfängen! Versucht jetzt nichts Neues! Jedes Regierungsgefüge, das an der Macht ist, Amerika wie Rußland, wie die sogenannten bürgerlichen Demokratien, fürchten Revolutionen wie eine giftige Ansteckung. Die absurde Bedrohung dieses Reagan-Amerika durch das kleine Nicaragua, das seine Revolution gemacht hat, ist bekannt. Da jedes Leben nach Veränderung drängt, geht von solch radikalen gesellschaftlichen Veränderungen ein Sog aus. Ja, davor hat Reagan solche Angst, daß er ständig noch zerstörerische Waffen anschaffen muß. Er kann sich nicht sicher fühlen. Ich habe vor kurzer Zeit von Yaak Karsunke in Berlin ein Gedicht bekommen, in dem er das Feeling in einer Demokratie heute beschreibt. Es gefällt mir so, daß ich es vorlese:

Aufruf in letzter Minute

glaubt der regierung! weil: sie ist die beste
- ihr selber habt sie schließlich seinerzeit gewählt -
was nützen euch jetzt zweifel & proteste?
so glaubt gefälligst, was sie euch erzählt!

sie ist korrupt? wißt ihr das erst seit heute?
(schon goethe schrieb doch: alles drängt nach gold)
& sie belügt euch? seid ihr wirklich sicher, leute
daß ihr die ungeschminkte Wahrheit wissen wollt?

was heißt hier: sie verharmlost die gefahren
verkleinert sie, verschleiert & vertuscht?
wärs anders, brächtet ihr euch um in scharen
so sehr ist alles längst schon auswegslos verpfuscht
item: glaubt der regierung. nichts sonst kanneuch frommen.
nach ihr: die Sintflut (sie wird vorher kommen)“

Anarchismus als sozio-kulturelle Überzeugung

Wie aus den bisherigen Zitaten deutlich geworden ist, bildet die Lebensgeschichte von Goldy Parin-Matthey keineswegs den alleinigen Bezugspunkt zum Anarchismus. Ihr anarchistisches Konzept findet seine Begründung in historischen Erfahrungen und Kenntnissen, in ihren sozio-kulturellen Überzeugungen und - wie sich noch zeigen wird - in den Erkenntnissen der Psychoanalyse. Der Anarchismus in Spanien und - danach - in Jugoslawien war für Goldy Parin-Matthey kein episodisches historisches Ereignis. Wie sie im Interview betont, ist sie bis heute Anarchistin geblieben:

„Als ich nach Spanien kam, wurde der Anarchismus gerade zerstört. Aber Ende 1937 habe ich im Norden von Albacete ein noch voll funktionierendes anarchistisches bäuerliches Kollektiv besucht. Ich war erstaunt, wie ähnlich es gegründet war auf Freiwilligkeit, Selbstverantwortung und solidarischem Zusammenschluß und gegenseitiger Unterstützung; genau das machte den Hauptcharakter der Internationalen Brigaden aus. Dort habe ich das Erleben und die Theorie des Anarchismus erst zusammengebracht.

Bei unserer freiwilligen Teilnahme am jugoslawischen Befreiungskrieg begegnete uns wieder der spezifisch befreiende und solidarische Charakter bei den kämpfenden und den verwundeten Menschen. Dort wurde das anarchistische Modell - gleichzeitig Krieg und Revolution - realisiert: Guerilla, Milizorganisation der Streitkräfte (jeder militärische Schritt wurde z.B. mit allen diskutiert), befreite Gebiete mit Zerstörung der alten Ordnung, Selbstverwaltungsstrukturen. Tito hat gegen die riesige Übermacht der italienischen und nationalsozialistischen Heeresmacht und ihrer weit überlegenen Bewaffnung den Krieg gewonnen. Die Erfahrungen nach dem Sieg über Hitler, als die Jugoslawen die Früchte ihrer so eigenständigen Revolution zu realisieren begannen, waren traurig. Wie wenn sie zu viel geblutet hätten und wenig Kraft zur Konsolidierung ihres eigenen im Krieg bewährten Modells gehabt hätten, schlichen sich Machttendenzen ein. Obwohl das Selbstverwaltungsmodell in Landwirtschaft und Industrie selbst in der Verfassung verankert ist, kann die Partei (Bund der Kommunisten) die Machtzügel nicht ganz aus der Hand geben. Das Experiment stagniert.“

Anarchistin ist Goldy Parin-Matthey auch als Psychoanalytikerin. Den Zusammenhang zwischen ihrem Engagement in Spanien und Jugoslawien und ihrer späteren Tätigkeit als Psychoanalytikerin beschreibt sie mit den folgenden Worten:

„Meinen Beruf als Psychoanalytikerin verstehe ich auch politisch und subversiv in diesem Sinn, daß Analysanden die verinnerlichten Machtstrukturen, die von der äußeren Welt durch die Sozialisation in ihr Inneres eingepflanzt sind, erkennen können. Sie lernen über ihre natürliche Widerspenstigkeit gegen allzu große Anpassung an die Verhältnisse ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zur Selbstwerdung unterscheiden. Denkende Menschen sind schlecht regierbar, und Peter-Paul Zahl sagt: „Das Gehirn ist das erotische Organ des Menschen“.

Nach dem jugoslawischen Partisanenkrieg habe ich mir gesagt: So, und jetzt werde ich Analytikerin, weil das für mich - und ich habe es immer so aufgefaßt - ein Guerillakampf mit anderen Mitteln ist: in den einzelnen Menschen die Widerspenstigkeit und das Aufständische freizukriegen, so daß sie wieder leben und zu ihren eigenen Sachen kommen.“

Am Ende des Interviews faßt Goldy Parin-Matthey ihr heutiges Selbstverständnis in die folgenden Worte: „Ich würde mit Bertolt Brecht sagen, daß ich eine unwürdige Greisin bin, die sich nicht würdig weise bescheidet. Ich bin sehr neugierig. Mein Engagement gehört den Spuren, Inseln, anarchistischen Elementen im Menschen und außerhalb, die immer wieder hier und dort auf der ganzen Welt auftauchen, Kraft gewinnen, auch wieder verschwinden, je nach den Machtverhältnissen, auf die sie treffen. Natürlich setze ich auf die Jungen, die Achtziger-Bewegung war etwas Prächtiges, mit einem Aufbrechen von kreativem Witz und Humor und schön böser Denunziation der Macht. Solche befreienden Grenzüberschreitungen kommen sicherlich immer wieder vor, solange unsere Welt besteht. Ich will es mit Bernhard Shaw sagen: „Der vernünftige Mensch paßt sich der Welt an, der unvernünftige Mensch besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt vom unvernünftigen Menschen ab.“

Anarchismus als psychoanalytische Denkfigur

In den langen Jahren ihrer psychoanalytischen Tätigkeit haben Goldy Parin-Matthey, Paul Parin und andere ihre Konzeption der Theorie und Praxis der Psychoanalyse ausgearbeitet und in vielen Publikationen dargestellt; auch darin werden Bezüge zum Anarchismus deutlich. Selbstverständlich kann es hier nicht um die Aufarbeitung des Zusammenhangs von Anarchismus und Züricher Psychoanalyse gehen - hier müssen einige unsystematische Hinweise genügen.

In seinem zu Beginn der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts entstandenen Fragment „Gott und der Staat“ spricht Bakunin von drei Grundprinzipien, welche die Bedingungen aller gemeinschaftlichen und persönlichen menschlichen Entwicklung bilden. Eine davon ist die gelegentlich im Bild des Luzifer veranschaulichte Empörung; gemeint ist eine instinkthafte Auflehnung gegen jegliche Einschränkung des Menschen, in erster Linie durch den Despotismus eines höchsten Herrschers (Gott), aber auch durch die vielfältige Repression der Gesellschaft und ihrer Institutionen, Empörung findet sich auch in bezug auf Grenzen, welche die Natur dem Menschen setzt. Auf diese Weise befindet sich der Mensch in einem stetigen Konflikt mit seiner Umgebung, der auch in einer durch die soziale Revolution veränderten Gesellschaft nicht einfach hinfällig wird. Liest man in den Schriften der Parins Ausführungen zur Triebhaftigkeit des Menschen, so wird man an jene Denkfiguren bei Bakunin erinnert. In Paul Parins Aufsatz „Die Verflüchtigung des Sexuellen“ (1985) ist einmal die Rede von den „ewig rebellierenden, subversiven, ihrer Natur nach ungebärdigen Triebansprüchen“ oder an anderer Stelle „vom subversiven Potential, von der lustbereitenden und die gesellschaftlichen Konventionen sprengenden Kraft der sexuellen Triebe“. Im Widerspenstigen, im Subversiven, in der chaotischen Seite der menschlichen Natur liegt viel Denk- und Gefühlsverwandtschaft zwischen dem Anarchismus und der Ausprägung der Psychoanalyse, um die es hier geht. In ihrer materialistischen Betrachtung allen seelischen Geschehens, in ihrem „dynamischen, offenen Modell“ - wie Paul Parin in einem anderen Aufsatz („Hexenjagd im Geistigen: Tendenzwende gegen die Psychoanalyse“, 1985) schreibt - trifft sich die Psychoanalyse durchaus mit der Bakuninschen Anthropologie ohne eine solche Parallelität überstrapazieren zu wollen, kann man noch einen Schritt weitergehen: Erst wenn sich der Instinkt der Empörung mit dem Denken, Bakunins zweitem Grundprinzip menschlicher Entwicklung, verbindet, wird Befreiung möglich. In Vergleich dazu kann die Tatsache gesetzt werden, daß die in der Psychoanalyse zentrale Befreiung der unterdrückten sexuellen Triebregungen ihrerseits viel mit Bewußtwerdungsprozessen zu tun hat.

Befreiung, Freiheit einerseits, Infragestellung von Macht, Institutionenkritik andererseits sind sowohl im Anarchismus als auch im psychoanalytischen Konzept Begriffe von zentraler Wichtigkeit.

In ihrem Aufsatz „Medicozentrismus“ (1983) schreiben Goldy Parin-Matthey und Paul Parin von einem „eminent menschlichen Anliegen, sich zu befreien“. Psychoanalytiker sein bedeutet für sie „Entdecker verborgener Triebkräfte und Anwalt unterdrückter Lebendigkeit sein; Ziel ihrer Tätigkeit ist nicht „Heilung“, nicht „Herstellung oder Wiederherstellung eines Zustandes, irgendeiner erwünschten Norm“. Befreiung im psychoanalytischen Sinne bedeutet eine Stärkung der autonomen Kräfte der Person, bedeutet eine größere Unabhängigkeit „von den sozialisierenden Faktoren, also von den Erziehungspersonen, von den Wünschen und Forderungen der großen Gestalten der Kindheit, sodann von sozialen Pressionen, unter denen ein Erwachsener lebt.“ Ziel der psychoanalytischen Utopie ist auch jenes nichthierarchische menschliche Zusammenleben, von dem Freud als „Brüdergemeinde“ gesprochen hat, welches - im Gegensatz zu straff organisierten politischen Gruppierungen - das stiftet, „was man Solidarität nennt, praktische Hilfsbereitschaft und freundschaftliches Anteilnehmen am persönlichen Schicksal“, wie Paul Parin in seinem Aufsatz „Die Angst der Mächtigen vor öffentlicher Trauer“ (1983) schreibt.

Es wäre verfehlt, behaupten zu wollen, Parins hätten ihr Konzept der Psychoanalyse aus dem Anarchismus abgeleitet. Es geht vielmehr darum, gerade auf jene „Spuren, Inseln, anarchistische Elemente“ hinzuweisen, von denen Goldy Parin-Matthey in ihrem Interview spricht. In einem Interview aus dem Jahre 1984 sagt Goldy Parin-Matthey: „Ich war immer eine moralische Anarchistin: Jeder ist allein für sich selbst verantwortlich. Das ist, glaube ich, das Wichtigste, was auch ein Analytiker in Ausbildung erwerben und erleben muß, daß er ganz allein verantwortlich ist.“ Und Paul Parin in einem Gespräch mit Aurel Schmidt (1979): „Ich pflege mich scherzhaft als einen „moralischen Anarchisten“ zu bezeichnen, nämlich als Anarchist in dem Sinn, daß der einzelne in möglichst kleinen Gruppen sein Anpassungs- und Veränderungspotential einbringen kann, wobei ich das Moralische ausdrücklich hinzufüge, denn man kann sich ja auch eine anarchistische Gesellschaft vorstellen, die die Zerstörung allen menschlichen Zusammenlebens zum Ziel hat.“

Literaturhinweis:
Alle erwähnten Aufsätze und Gespräche sind abgedruckt in: Paul Parin und Goldy Parin-Matthey: Subjekt im Widerspruch, Frankfurt: Syndikat 1986 Weitere
Publikationen:

  • Fritz Morgenthaler, Goldy Parin-Matthey und Paul Parin: Die Weisen denken zuviel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika, Zürich: Atlantis 1963; München: Kindler 1972
  • Diess.: Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika, Frankfurt: Suhrkamp 1971
  • Paul Parin: Der Widerspruch im Subjekt. Ethnopsychoanalytische Studien, Frankfurt: Syndikat 1983
  • Paul Parin: Zu viele Teufel im Land. Aufzeichnungen eines Afrikareisenden, Frankfurt: Syndikat 1985


Aus: „Schwarzer Faden“ Nr. 27, 1/88

Gescannt von anarchismus.at


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