Jens Herrmann - Gemeinschaft & Kooperation als verbindende Vision

Teil 4 der Artikelserie Politische Gemeinschaften aus der Zeitschrift "Rabe Ralf"

Teil 4 verbindet eine Zusammenfassung der wichtigsten Inhalte aus den bisherigen Darstellungen der TheoretikerInnen bzw. Theoriezirkel (Gustav Landauer, Bielefelder ÖkofeministInnen, Robert Kurz/KRISIS-Gruppe, P.M.) mit einem kurzen Vergleich.

Nach den in den bisherigen Teilen vorgestellten Befreiungsvisionen ergibt sich kein einheitliches Bild oder Szenario des Übergangs in eine neue Gesellschaft. Jedoch wurde ein Puzzle oder vielmehr ein Flickenteppich unterschiedlicher Theorieelemente dargestellt, die sich zu großen Teilen ergänzen, teilweise aber auch ausschließen. Folgende acht Elemente einer Befreiungsvision lassen sich in allen Entwürfen mehr oder weniger stark ausgeprägt erkennen:

1. Direkte menschliche Kooperation

Alle Entwürfe enthalten Elemente der direkten Kooperation von Menschen. Bei Gustav Landauer (Teil 1) ist es der Bund der Ausstiegswilligen, der sich durch Kooperation vom Kapitalismus absondern soll. Die unmittelbare Umgebung des Menschen, die Nachbarschaft, wird Handlungsort für kooperatives, helfendes und unterstützendes Zusammenleben. Die ÖkofeminstInnen wie auch Robert Kurz und der KRISIS-Kreis (Teil 2) betonen diesen Aspekt und heben kooperative Formen des Konsums, wie Food Coops oder Konsumgenossenschaften, hervor. Und in P.M.´s bolo' bolo (Teil 3) soll die ganze Gesellschaft auf freiwilliger Kooperation beruhen. Er weist auf die zentrale Rolle einer globalen und die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten einbeziehenden Kooperation hin.

2. Gemeinschaft und gegenseitige Hilfe

Als wichtigstes Instrument zum Erreichen von mehr Kooperation wird von allen vorgestellten AutorInnen mehr Gemeinschaftlichkeit gesehen. Für Landauer ist es die sozialistische Siedlung, in der es zu einer Gemeinschaft und zu Gemeinschaftsgeist zwischen den Menschen kommen soll. Das Kapital soll durch verbindenden Geist ersetzt werden. Sein Entwurf ähnelt sehr stark P.M.s bolo' bolo, wo ebenfalls solch eine Siedlung, ein Dorf, Grundlage der Gemeinschaft sein soll. Innerhalb des "bolo" kann es dann nochmals unterschiedliche Formen des Gemeinschaftslebens geben - von der Kommune bis zum einzelnen Leben in Privathaushalten. Auch die Ökofeministinnen sehen Gemeinschaftsleben, wie es teilweise in der SSM Köln, der Kommune Niederkaufungen oder anderen Gemeinschaften praktiziert wird, als kooperative, antikapitalistische Lebensweise an. Die schärfsten Differenzen ergeben sich hier zwischen der Theorie von Kurz, nach der es nicht um Autarkie der Gemeinschaften gehen kann, sondern um Autonomie, und P.M., dem genau an dieser Autarkie - was die Subsistenz angeht - gelegen ist.

3. Kommunalisierung und Regionalisierung der Existenzgrundlagen Boden und Produktionsmittel

Auch dieses Element findet sich bei allen AutorInnen wieder. Landauer verweist insbesondere auf die Neuaufteilung des Bodens, dessen Besitz - weil er Existenzgrundlage sei - allen zustünde. Auch die Produktionsmittel müßten in diesem Sinne kommunalisiert werden. Den Ökofeministinnen geht es ebenso um die Rückeroberung des Bodens und damit der Subsistenz. Sie wollen Subsistenz-Nischen erhalten und ausbauen, in denen die Menschen lernen können, die "Einhegungen" des Kapitalismus zu überwinden. Besonders am Erhalt der kleinbäuerlichen Landwirtschaft als Element regionaler Selbstversorgung ist ihnen gelegen. Robert Kurz legt den Schwerpunkt mehr auf die Kommunalisierung der Produktionsmittel und meint damit keinesfalls nur den Pflug und die Handwerksmanufaktur, sondern durchaus auch die moderne High-Tech-Industrie - selbstverständlich angepaßt an die öko-sozialen Bedürfnisse der Menschen.

4. Neuorganisation des Konsums

Der Konsum wird - wie bereits oben erwähnt - zu einem wichtigen Ansatzpunkt für die Befreiungsvisionen der AutorInnen. Erstaunlich ist, daß die Visionen, auch wenn zwei Weltkriege, das High-Tech-Zeitalter, viele andere historische Wendepunkte und mehr als 80 Jahre zwischen den TheoretikerInnen liegen, doch letztlich auf den gleichen Gedanken beruhen. Landauer, der selbst auf Proudhon zurückgriff, propagierte die Tauschbank als antikapitalistische Institution einer freien Gesellschaft. Mit ihr sollte es möglich sein, den Konsum und Austausch von Gütern so zu organisieren, daß Kapitalbildung und -akkumulation nicht möglich sind. Nach Landauer sei ein solches Zusammenschließen der Menschen in der Sache des Konsums und der Geldwirtschaft (durch gegenseitigen Kredit) auch schon vor der Gründung der Siedlung möglich. Der Krisis-Theoretiker Kurz hebt Konsumgenossenschaften - wie sie etwa von Landauer und anderen seiner Zeitgenossen propagiert und gegründet wurden - als eine notwendige Keimform für die neue Gesellschaft hervor und verweist darauf, daß sie eben nicht den Fehler machen dürften, am kapitalistischen Markt teilzunehmen - was für Landauer freilich schon damals eine klare Sache war. Auch die Subsitenztheoretikerinnen sehen in solchen regionalen, selbstorganisierten Konsumgemeinschaften eine Chance, sich unabhängiger vom kapitalistischen Markt zu machen und dabei mehr Freiheiten zu gewinnen. Sie verweisen besonders vehement darauf, daß auch das Kaufen und Konsumieren Politik sei und die Menschen sich hier durch ihr Kaufverhalten aktiv für eine andere Wirtschaftsweise einsetzen könnten. In P.M.s bolo' bolo basiert die Gesellschaft ohnehin auf einem Geflecht nicht-monetaristischer Tauschabkommen und der Freizügigkeit im Schenken zur Deckung des Konsums - Utopia!

5. Förderung der Subsistenz

Die Förderung der Subsistenz ist insbesondere den Ökofeministinnen ein zentrales Anliegen. Ihrer Meinung nach ist Subsistenzwirtschaft eine globale Strategie, sich vom kapitalistischen Markt und aus den Abhängigkeiten des herrschenden Systems zu befreien. Subsistenz fördere nicht nur wirtschaftlich-ökonomische Unabhängigkeit, sondern auch geistig-politische, da die Menschen erkennen würden, daß sie auf das System nicht angewiesen seien, und mehr Vertrauen in ihr eigenes Handeln und ihre eigene Kompetenz bekämen. Auch für P.M. ist die Subsistenz oder Selbstversorgung zentrales Mittel zur Überwindung der Arbeitsmaschine. Seiner Meinung nach ist dazu auch nicht sehr viel Energie notwendig, und er ist weit entfernt von der Vorstellung eines harten bäuerlichen Alltags, der sich von morgens früh bis zum späten Abend auf dem Acker abspielt. Landauer verweist darauf, daß die Kooperation mit den Bauern ein zentrales Element für den Aufbau der sozialistischen Siedlung sei, denn nur gemeinsam mit den Bauern könne die Siedlung errichtet und der Sozialismus erreicht werden. Leider tendiert er dabei gelegentlich zu hemmungsloser Glorifizierung des Bauernstandes.

6. Entwicklung der neuen Gesellschaft aus der alten heraus

Aus der Kritik des Traditions-Marxismus und der Beschäftigung mit der Revolution ziehen die AutorInnen ebenfalls ähnliche Schlüsse: Die neue Gesellschaft kommt nicht durch eine Revolution oder einen Umsturz, sondern sie muß schon in der alten heranreifen. Nur so sei wirkliche Veränderung zu erreichen. Ihnen geht es nicht um die Auswechslung der Mächtigen, sondern um die Abschaffung der Macht, letztlich um die Abschaffung des Nationalstaates. Robert Kurz bezeichnet diese als Keimform oder Entkopplungsbewegung, P.M. schreibt ebenfalls von Keimformen als "Schattenwirklichkeit" in der alten Gesellschaft. Zentrales Element dieser Theorie ist die Subversion: die neue Gesellschaft aus der alten heraus entwickeln und diese damit Stück für Stück unterwandern, wodurch sie ihre Macht immer mehr verliere. Schon Landauer sah hierin die einzige Chance, die Gesellschaft wirklich zu verändern. Dabei vertrauen alle AutorInnen von Landauer bis hin zur Ökofeministin Maria Mies auf die Vorbildfunktion und die Überlegenheit ihrer eigenen Visionen. Die Hoffnung ist, daß die so entstehende Gegengesellschaft so attraktiv ist, daß immer mehr Menschen versuchen werden, sich aus dem herrschenden System zu lösen und ihr Leben kooperativ und kollektiv zu organisieren. Eine besondere Rolle kommt dabei immer dem Aufbau von lokalen Gemeinschaften zu. Doch gerade im Zeitalter des neoliberalen Globalisierungsschubs ist auch eine globale Vernetzung wichtig. In diesem Sinne wenden sich auch alle gegen eine Losung im Sinne von nur lokalem Handeln. Vielmehr bedürfe die Auflösung des weltweiten Kapitalismus auch globaler Strategien und Vernetzungen.

7. Selbstverwaltung und Basisdemokratie auf kommunaler Ebene

Unter dem Stichwort der Selbstverwaltung werden in den verschiedenen Visionen unterschiedliche Ausprägungen von direkten und lokalen Entscheidungsstrukturen durch alle Betroffenen nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung vorgeschlagen. P.M. und Robert Kurz schlagen die Organisationsform von Räten vor. Die ÖkofeminstInnen wiederum nennen es "Graswurzel-Demokratie" und meinen Ähnliches. Zentrales Element bleibt, daß die Menschen in Versammlungen zusammentreten und über die anstehenden Fragen gemeinsam beraten und entscheiden sollen. Zur Vernetzung mit anderen lokalen Gemeinschaften oder in speziellen Fragen wählen sie Delegierte aus, die jedoch nicht wie im Parlamentarismus als Repräsentanten auftreten, sondern nur mit einem imperativen Mandat ausgestattet sind, sich also in ihren Entscheidungen rückversichern müssen, und die auch jederzeit auswechselbar sind.

8. Ausrichtung der Produktion an den Bedürfnissen der Menschen

Die Bedürfnisse der Menschen sollen Maßstab für das Wirtschaften in der neuen Gesellschaft sein und nicht der Waren- und Konsumfetisch, wie er im Kapitalismus vorherrsche. Dabei gehen alle Theorien davon aus, daß der Konsum der gegenwärtigen Gesellschaft sich eben nicht vor allem an den Bedürfnissen der Menschen orientiere, sondern an denen des Profits und den Zwängen des kapitalistischen Systems. Zudem erfüllen viele Konsumwünsche kompensatorische Funktionen für Nachteile und Zwänge des Lebens im System. P.M. nennt dies "Deals", die die Menschen mit dem System machen, durch die sie sich aber immer mehr abhängig von diesem werden. Im Gegensatz dazu soll die Befreiungsvision die Deals überwinden helfen, indem die Nachteile der Deals deutlich gemacht werden und die Menschen ihre Situation erkennen. Für Robert Kurz ist der heutige Konsum gar lächerlich und irrelevant angesichts der Möglichkeiten der Menschen, ihr Leben anders zu organisieren. Ihm geht es darum, dies durch die Gegenbewegung und eine Anti-Politik (denn Politik sei letztlich die Einbindung in das herrschende System) offenzulegen. Ohne ein neues Bewußtsein sehen alle AutorInnen keine Chance für eine Befreiungsbewegung. Doch ein neues Bewußtsein entstehe eben nicht zufällig oder durch reine Aufklärung, sondern durch die Veränderung der realen Umwelt, durch das Aufzeigen von Alternativen in der bestehenden Gesellschaftsformation.

Die ganze Serie kann als Original-Diplomarbeit gegen 5 € und einen frankierten (0,77 €) und adressierten A4-Papp-Umschlag beim Autor bezogen werden: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Aus: DER RABE RALF - Die Berliner Umweltzeitung, c/o GRÜNE LIGA Berlin e.V., Prenzlauer Allee 230, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg www.grueneliga.de/berlin/raberalf

Originaltext: www.grueneliga.de/berlin/raberalf