Jacques Mesnil - Theoretische und praktische Fragen der antimilitaristischen Propaganda (1907)

Vorbemerkungen

Wir erachten es für notwendig, den nachstehenden Ausführungen unseres Genossen einige kritische Worte vorauszusenden. Nun, nachdem Jahre über den 1. Kongress der "Internationalen antimilitaristischen Assoziation" dahingerollt sind, ist die Zeit gekommen, ein definitives Urteil über die von ihm geleistete Arbeit zu fällen; heute können wir dies tun mit Ruhe, und wir glauben, die Erfahrung hat gelehrt, dass Mesnils scharfe, kritische Worte berechtigt sind. Es ist unbestreitbar, dass jener Kongress etwas Sektiererhaftes an sich hatte, indem er es nicht versuchte, sämtliche Richtungen, die sich in ihm vertreten fanden, harmonisch auf eine einzige, gemeinschaftliche, sehr wohl mögliche Aktion zu vereinigen, sondern die theoretischen Anschauungen — und zudem meistens jene der Taktik, nicht des Prinzips — eine Richtung über jene der anderen stellte. Darin müssen und können wir von den Regierungen lernen, auch von manchen bürgerlichen Friedensbewegungen, die natürlich weder prinzipiell noch taktisch etwas Gemeinsames mit uns haben; doch darin dürfen sie wohl vorbildlich sein, dass sie ihr möglichstes Versuchen und es auch meistenteils durchsetzen, die verschiedensten Elemente in den Dienst der allgemeinen Idee zu stellen. Dies ist notwendig, für die Anarchisten die Hauptsache, da sie ja doch ganz genau wissen, dass jede echte antimilitaristische Aktion ihrem Wesen gemäss die Bahn frei macht für einzig und allein den Anarchismus, dass alles dies Tendenzen sind, die sich mehr oder minder scharf gegen die Grundlage des Staates kehren.

In einem sind wir gänzlich anderer Meinung als Mesnil, wohl auch als die meisten übrigen Antimilitaristen; wir meinen die Frage der Desertion, die der Verfasser im letzten Abschnitt seines Aufsatzes behandelt und welche Darstellung die ganze Naivität jener offenbart, welche die Desertion als eine Taktik des Antimilitarismus empfehlen. Man verstehe uns wohl: Wir stehen der Desertion vollständig neutral gegenüber und erklären sie als eine rein persönliche Zweckmässigkeitsangelegenheit. Sie ist nicht und kann niemals werden die Taktik oder auch nur eines der taktischen Mittel des Antimilitarismus. Die einzige logische Taktik des Antimilitarismus ist die persönliche Verweigerung des Dienstes in ihren mannigfachen Variationen.

Wir wissen doch wohl, dass die Desertion alljährlich von Tausenden junger Leute ausgeübt wird mit Wissen und Einwilligung ihrer Angehörigen, dass dies keinerlei Eindruck auf die verschiedenen Staaten macht, und — was das Wichtigste — dass die Deserteure keineswegs Gegner des Militarismus als solchem, Gegner bestehender Gewaltsinstitutionen sind, sondern einfach und allein sich den Unbequemlichkeiten des militärischen Dienstes nicht auszusetzen wünschen. Eine jede Taktik eines idealen Zieles muss die persönliche Opferleistung eines Individuums einschliessen, mag diese Opferung nun gross oder klein sein; im Falle der Desertion führt diese Taktik zu einem unmittelbaren materiellen Vorteil, und jedes ideale Prinzip schwindet dabei vollständig aus den Augen. Keine Verweigerung der Dersertion wollen wir hiermit ausdrücken; bloss konstatieren, dass sie, wie wir glauben, keine Taktik des Antimilitarismus ist, sondern persönliche Zweckmässigkeitssache.

Zudem ist Mesnil vollständig im Unrecht, wenn er von den angeblichen idealen Folgen dieser Desertation spricht. Ganz abgesehen davon, dass die Solidarität des Proletariats sich nur auf seine kämpfenden Brüder zu erstrecken hat, nimmer aber erstrecken kann auf alle Fälle der Desertion, aus obigem geht auch klar genug hervor, weshalb ein Deserteur gar nicht das moralische Anrecht besitzt, an eine Bewegung zu appellieren, um materielle Unterstützung, für deren Ideenwelt er durch seine Flucht nicht das Geringste leistete — ist es eine Täuschung, von solchen Desertionen eine "tiefere Gemeinschaft zwischen den Völkern" usw. zu erwarten. Wäre dem so, da bedürfte es doch nicht der Desertion, dazu genügte die Auswanderung in einem beliebigen Alter.

Wir können nicht umhin auf das direkte Gegenteil von dem hinzuweisen, was Mesnil behauptet. Wir kennen die Flüchtlingskolonien in den zwei bis drei Ländern, wo ein gesichertes Asyl besteht — "gesichert" eigentlich nirgends! —, und ebenso wie wir allen Genossen abraten, auszuwandern, um in der Fremde "ihr Glück zu finden", müssen wir konstatieren, dass die meisten der Flüchtlinge im Auslande zu den beklagenswertesten, entwurzelten Existenzen werden, die jeden Zusammenhang mit den idealen Bestrebungen ihrer Vergangenheit einbüssen. Manch einen kann man sehen, manchem begegnen, der vor Jahren im sogenannten Vaterlande zu den echten Elementen des Freiheitskampfes gehörte, im Auslande jedoch sich der seichtesten Vereinsmeierei hingibt oder geistig total versumpft und jeden Sinn, jedes Interesse an dem Idealismus seiner einstigen Idee verlor. Eine Ausführung darüber, wieso dies kommt, wäre zu weitläufig und ist auch bei dieser Gelegenheit unnötig, es genügt zu konstatieren, dass es so ist. Der Antimilitarismus ist lebendige, tatkräftige Aktion der Persönlichkeit. Darin besteht seine Taktik. Diese Aktion allein, gefolgt und begleitet von einer entsprechenden geistigen Ausdrucksform und -Fälligkeit ist seine individuelle Propaganda und Tat; in kollektiver Massenaktion ergibt sich seine Weltanschauung schon aus dem Wesen dieser Massenaktion selbst, dann tritt der präzise Ausdruck der Weltanschauung zurück, denn die Aktion ist positive Aktion und Geistesdemonstration in einem geworden!

P. R. (Pierre Ramus)

* * *

Innerhalb der letzten paar Jahre haben die Anarchisten der antimilitaristischen Bewegung eine grosse Verbreitung gegeben, besonders in Frankreich. Die Dreyfusaffäre bot ihnen die Gelegenheit dazu, und ihre Bedeutung ist dem Umstand zu verdanken, Mittel und Zweck gewesen zu sein. Sie war wohl sehr dazu geeignet, jenen die Augen über das wahre Wesen des Militarismus zu öffnen, die geistig nicht ganz abgestumpft waren. Ihr Ruf veranlasste jeden, sich mit diesem Problem zu beschäftigen. Und vor allen Dingen taten die Anarchisten gut damit, dass sie sich beteiligten. Sie nützten die Gelegenheit trefflich aus, während andere Parteien sich nur wenig darum bekümmerten.

Klarer als das helle Tageslicht der Tatsachen bewies die Dreyfusaffäre, dass die Armee eine atavistisch-reaktionäre Macht verkörpert, ein Gegensatz zu all jenen humanitären Prinzipien ist, welche die heutige Gesellschaft hassen. Ihr Bestehen ist ein Anarchronismus geworden. Die Armee ist der Staat; sie steht ausserhalb des gemeinen Rechtes, hat besondere Kriegsgerichte, eine besondere Moral. Das dominierende Prinzip der Armee ist der blinde Gehorsam. Was vom rein menschlichen Standpunkt unrecht, ist ihr gerade recht, das Wort eines Befehlshabers ist Evangeliumwort, wenn es den Ausdruck eines Befehles eines Vorgesetzten an den Untergebenen bildet. Veraltete Gebräuche, längst abgetane Vorurteile betrachtet der Militarismus als Verhaltungsmassregeln, denen zu entziehen ihm verboten ist, Lüge, Betrug und Fälschungen wurden im Dreyfusfalle löbliche Taten, wenn sie für die eine oder andere gute Sache auf Befehl ausgeführt worden waren: für das Vaterland, die Fahne, Ehre der letzteren usw.

Was man da so gemeinhin Ehre nannte, wird jedes rechtschaffene Herz als Gemeinheit und Verdorbenheit erkennen. Ein bunter Fetzen, das ist die Fahne; das Syndikat der Ausbeutung, das ist das Vaterland. Aber alles dies sind Wahrheiten, die man innerhalb der Armee nicht sagen darf; sie hat erst die Dreyfusaffäre enthüllt. Die Heuchelei, die fälschliche Aufrechterhaltung der Lügen, die absichtliche Beharrung bei der Ungerechtigkeit, Vergewaltigung jedweden bürgerlichen Gesetzes — all dies musste zugegeben, festgestellt werden, die ureigene Organisation des Staates wurde durchschaut. Allein man versuchte auch, alle diese Manifestationen abzuschwächen. Dem gutmütigen Volke wurde erklärt, der Berufssoldat müsse nicht notwendigerweise sein, wie oben geschildert; dass der Dreyfusfall bloss die Unvermeidlichkeit gründlicher Reformen bewiesen habe, die Armee selbst jedoch eine gute, notwendige Einrichtung sei, die den innern Frieden und die Freiheit garantiere. Eine solche Haltung der Herrschenden angesichts des vor ihnen sich öffnenden Abgrundes war begreiflich. Sie bedürfen der Armee, um ihre Interessen zu wahren. Ohne Militarismus wäre die Vorherrschaft des Kapitalismus längst abgelaufen. Nur insofern wird letzterer durch ersteren unangenehm berührt, als der Militarismus die Tendenz besitzt, eine durch sich selbst repräsentierte Macht zu sein, welche die Kommandierenden anscheinend für ihre eigenen Zwecke ausnützen können. Gerne fördert der bürgerliche und republikanische Staat die Entwicklung des militärischen Geistes, doch nur insofern, als diese nicht die Entwicklung seiner eigenen Unabhängigkeit erzeugt.

Die Anarchisten sind sozusagen die einzigen, welche die vollständige Wahrheit sagen können über Rolle und Charakter der Armee; denn sie stehen vollständig unabhängig da von allen kleinlichen Augenblicksrücksichten. Alle bürgerlichen Parteien, sogar die Parteien der Opposition, hegen die Hoffnung, die politische Macht zu erringen. Ihr gilt ihr ganzes Streben. Die politische Macht erringen, ist aber immer gleichbedeutend mit der Gewalt und dem Zwange. Darum sprechen die Sozialdemokraten im Parlament stets sehr doppelsinnig, wenn sie auf den Militarismus und seine Zukunft von ihrem Standpunkt aus zu sprechen kommen.*) Sie betonen ihre Liebe zum Vaterlande und vermeiden es, sich frank und frei Internationalisten zu nennen. Überdies ist es doch auch bekannt, dass sie die Armee ihrer resp. Nation nicht abschaffen, nur reformieren wollen.**) Sie wollen den Militärdienst entweder verkürzen oder verallgemeinern ; wollen ihn aber nicht abschaffen. Es gibt auch ehrliche Sozialisten, die das integrale Prinzip des Proletariates vertreten und nichts vom Parlamentarismus erwarten, die aber dennoch nicht immer die eminente Bedeutung der antimilitaristischen Propaganda verstehen, da sie zum grössten Teil von Theorien beherrscht sind, die alle sozialen Umwälzungen von primären nur ökonomischen Veränderungen ableiten.

Nur die Anarchisten fühlen es klar und deutlich, dass die Armee — die organisierte Gewalt — die einzige Stärke der kapitalistischen Gesellschaft ist. Auch empfinden sie die Notwendigkeit einer Kritik durch die Erkenntnis, dass sich ihnen in der Bekämpfung des Militarismus viele Menschen anschliessen werden, welche ihre gesellschaftlichen Ideen sonst nicht gerade teilen. Es ist unbestreitbar, dass seit dem Dreyfusfall eine ganze Reihe von Schriftstellern eine so radikale und absolute Kritik an dem Militarismus übten, wie man sonst gewöhnt war, sie nur von Anarchisten zu hören. Viele wurden durch ihre Logik viel weiter mitgerissen, als sie es anfangs für möglich gehalten hätten; hier bewährte sich eben, dass eine extreme Kritik irgendeiner bürgerlichen Einrichtung unaufhaltsam zur revolutionären Auffassung aller übrigen geleiten muss. Bergerets kritische Gedanken, die Anatole France verfasste, führen schnurgerade zum Anarchismus.

Seit den letzten Jahren hat sich der befruchtende Einfluss der antimilitaristischen Propaganda mit grösster Deutlichkeit offenbart. Seiner Dreyfusaffäre verdankt es Frankreich, dass es imstande ist, über seine nationalistischen Strömungen Siege zu feiern, sie, die von "Revanche" träumten, niederzuschlagen, und dass es den Weg der sozialen Reformen durch den Syndikalismus beschritten hat. Überall — selbst an den unangebrachtesten Stellen — zeigt sich in Frankreich dieser Fortschritt: Ist nicht das französische Parlament das vorwärtsstrebendste von ganz Europa? Wie ja auch der französische Sozialismus zu einem Stadium der Entwicklung kam, das höher ist als dasjenige anderer Länder. Selbst in der Armee entwickelte sich dieser Antimilitarismus, und nicht vereinzelt sind die Anzahl von Revolten unter den Soldaten, ja sogar unter den Offizieren.

Erinnerlich ist noch Leutnant Tisserand-Delange, der in öffentlicher Versammlung erklärte, dass er sich weigern würde, auf streikende Arbeiter schiessen zu lassen. Der antimilitaristische Prozess vom Dezember 1905 lief in Verurteilungen aus, die aber nicht aufrecht erhalten werden konnten und deren Folge ein gewaltiges Anwachsen der Propaganda war.

Das Plakat, welches den Vorwand für den Prozess bot, wurde aufs neue angeschlagen, diesmal bedeckt mit den Unterschriften von mehr als 2000 Personen, die man natürlich unmöglich anklagen konnte. Diese praktische und doch ideale Bewegung, deren Bahnbrecher Frankreich ist und deren Ausbreitung in den meisten anderen europäischen Ländern gleichen Schritt hält mit den abscheulichen Kriegen, welche geführt werden, den gefährlichen diplomatischen Zwistigkeiten, welche stattfinden, musste logischerweise den Gedanken an eine internationale Übereinkunft der Antimilitaristen aller Länder ins Leben rufen. Leider hat die "Internationale antimilitaristische Assoziation", welche am 25., 26. und 27. Juni 1904 in Amsterdam gegründet wurde, nicht jene Bedeutung erlangt, welche ihr angesichts der besonders günstigen Verhältnisse gebührt hätte. Ihre Rolle und ihr Einfluss sind bis heute mit wenigen Ausnahmen sehr gering gewesen, und in diesem Sinne, darf man sagen, hat das Unternehmen fast Schiffbruch gelitten. Die Ursachen für dieses Misslingen liegen, so scheint es, zunächst an den unzureichenden Mitteln aller Gründer und dann an ihrem Mangel an praktischem Geiste. Anstatt danach zu streben, den Anschluss aller Organisationen zu erzielen, die ehrlich und ohne Vorbehalt den Militarismus als Institution bekämpfen, ungeachtet ihrer besonderen moralischen und sozialen Überzeugungen, schlossen sie diejenigen aus, die nicht genau so dachten wie sie, sei es nun im Hinblick auf prinzipielle Gedanken oder praktische Arbeit.

Cornelissen sagte sehr richtig : "Entweder ist die Assoziation ausschliesslich antimilitaristisch: dann muss sie alle antimilitaristischen Kräfte vereinigen; oder sie ist allgemein freiheitlich: dann kann sie ihre Arbeit nicht auf die antimilitaristische Taktik beschränken."

Diesen Sätzen gegenüber gibt es kein Entrinnen. Besonders unrichtig war die Haltung der intransigenten Revolutionäre zu den christlichen Anarchisten, den Tolstoianern, den Vertretern des passiven Widerstandes. Man kann nicht gut demjenigen den Namen eines aufrichtigen Antimilitaristen absprechen, der lieber bereit ist, ins Gefängnis zu gehen, als Waffen zu tragen. Es ist ein Irrtum Domela Nieuwenhuis, wenn er erklärt, sie hätten eine antirevolutionäre Resolution eingebracht. Die Resolution von E. Armand betreffend die Frage "Der Antimilitarismus und die persönliche Dienstverweigerung" lautet:

"Der antimilitaristische Kongress zu Amsterdam erkennt die bedeutende revolutionäre Kraft der militaristischen Dienstverweigerung, an, sei sie persönliche oder kollektive Aktion. Er erteilt dem Komitee der "L antim. A." den Auffrag, jeder solchen Bewegung individueller oder kollektiver Propaganda und Aktion in diesem Sinne (allgemeiner Kriegsdienstverweigerung etc., gleichviel welchen religiösen und moralischen Motiven sie entspringen möge) seine Unterstützung zu gewähren. Er entsendet seine Grüsse an Jan Terwey, Adrianus Ris, Taselaar, Graber, Tschaga, die gegenwärtig gefangen sind wegen Dienstverweigerung, und hofft, dass sie in allen anderen Ländern Nachahmung finden mögen, da die Vermehrung solcher Aktionen die Abschaffung des Militarismus zur Folge haben würde."

Ich las den Text einmal, ich las ihn abermals; und dennoch glückte es mir nicht, den Grund zu entdecken, der den Revolutionären Veranlassung gegeben hatte, die Resolution abzulehnen; besonders deshalb glückte es mir nicht, da wir doch keine Sektierer sind, für welche irgend eine Gegenrede schon eine Beleidigung bedeutet. Dennoch bin auch ich Gegner des Christentums in jeder Form, bin überzeugt von der Notwendigkeit der sozialen Revolution.

Stellen wir der obigen Resolution jene der Revolutionäre entgegen, welche der Kongress schliesslich annahm. Sie lautet: "Der Amsterdamer Kongress, als Gründer der 2. internationalem Vereinigung, beruft sich auf das revolutionäre Prinzip und verwirftauf das energischste die Lehrsätze der Resignation, welche dem christlichen Geiste entspringen. Es ist die Gewalt, welche er proklamiert, die Gewalt als Kind der Vernunft und der Revolte. Die letztere ist ihm aktiv, nicht passiv; ihre passive Form ist eine Negation der Tätigkeit, für welche wir vereinigt sind. Er weist entschieden amorphe Theorien christlicher Tendenzen zurück, welche eine unheilvolle Doppelsinnigkeit in die Assoziation hineintragen könnten."

Ist es möglich, diese grossspurige Demagogie weiter zu treiben? Diese lächerliche Übertreibung der Sprache, diese schwülstigen Redensarten finden ihre Entschuldigung in Perioden heftiger Erregung, inmitten einer Revolution. Doch in diesem Augenblicke, da gar kein Grund vorhanden, erscheinen sie geradezu als grotesk. — Man beachte wohl, dass diese Resolution nicht angenommen wurde gegen jene von Armand. Diese wurde zurückgezogen. Sie wurde angenommen gegen eine Resolution von Samson, die noch weniger geeignet war, von den Vertretern des aktiven Widerstandes verdaut zu werden und die nur vage Sympathie mit jenen ausdrückte, welche den Kriegsdienst verweigerten; auch anratend, sich zu enthalten der Empfehlung der Dienstverweigerung.

Das Drolligste ist jedenfalls, dass die angenommene obige Resolution eigentlich gar keine Beantwortung der auf der Tagesordnung gestandenen Frage bildet! Man fragt den Kongress, was er über die Dienstverweigerung denke; und er antwortet damit, dass er die Lehrsätze der christlichen, antimilitaristischen Dienstverweigerung verwirft, die Gewalt als Prinzip annimmt!! Es ist ungereimt und wird noch ungereimter, wenn man bedenkt, dass die Dienstverweigerung von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet werden kann. Sie besteht z.B. nicht unbedingt in der Weigerung der Dienstpflichtigen, Waffen in die Hand zu nehmen, weil ihr Gewissen den Gebrauch von Waffen verbietet. Sie kann gelegentlich sein und in einer Gehorsamsverweigerung von einem bestimmten Augenblick an bestehen, wie etwa anlässlich von Streiks oder eines Krieges. Das Vorbild von zwei oder drei Personen kann dann ansteckend wirken und andere mit sich ziehen. Die Desertion ist auch eine Art von Dienstverweigerung.

Das Praktische, das der Kongress schuf, ist so klein, dass man es kaum beachten kann. Beschlossen wurde, auf eine Kriegserklärung von zwei bürgerlichen Staaten mit einem Generalstreik zu antworten. Aber diese Idee ist weit entfernt davon, neu zu sein.***) Ihre Verwirklichung kann schon durch eine ansehnliche Ausbreitung der Gewerkschaftsbewegung ermöglicht werden.

Sicherlich ist es in Erziehungsfragen sehr wichtig, den Kindern nicht mehr Säbel, Trompete und Trommel als Spielzeug zu geben, handelt es sich auch nur um das Trommelfell der Eltern. Aber es ist eine grosse Selbsttäuschung, von dieser Handlungsweise grosse Erfolge zu erwarten. Das Kind, welches in seiner Entwicklung diejenige der Gattung widerspiegelt, macht immer eine kriegslustige Periode durch, in der es sich aus Stöcken Waffen macht, selbst dann, wenn man sie ihm nicht gibt. Allerdings darf man diesem stets hervorbrechenden Verlangen der Kinder nicht in die Hände arbeiten, sondern versuchen, es zu beseitigen.

Der Kongress beschäftigte sich mit der Desertion insofern, als ein Teil des einlaufenden Geldes zur Unterstützung der Deserteure verwendet werden sollte, dass sich lokale Komitees bilden sollten, um den Deserteuren Arbeit zu verschaffen. Mich dünkt, diese Frage hätte verdient, einer besonderen Beachtung unterworfen zu werden. Meiner Ansicht gemäss sollte eine planmässige Einrichtung der Desertion eine der hauptsächlichsten antimilitaristischen Massregeln sein. Alljährlich sollten Männer von Land zu Land diejenigen jungen Leute herausfinden, welche willens sind, zu desertieren. Die lokalen Komitees sollten die Deserteure unterstützen. Auf diese Weise würden die Flüchtlinge auch mit den Ihrigen in Verbindung bleiben, sie über Sachlage und Gesinnung informieren können. Die Arbeiter könnten neue, drückende Lasten ersparen. Auf der anderen Seite würden viele Leute entkommen können und der traurigen Verpflichtung entgehen, verschiedene ihrer schönsten Jahre dem niederdrückendsten Kasernenleben auszusetzen; auf der anderen Seite böte dies eine prächtige Gelegenheit zur Ausbreitung des Internationalismus. Eine tiefere Gemeinschaft entstände zwischen den einzelnen Völkern, Sprachkenntnisse verbreiteten sich, und die zwischen einzelnen Völkerschaften leider noch bestehende Feindschaft — eine Feindschaft, welche die Bourgeoisie schürt und aufrecht zu erhalten trachtet
— würde allmählich verschwinden.

Eine solche Übereinkunft, die mit den Gewerkschaften gepflogen werden sollte, würde nicht allzu grosse Ausgaben verursachen, die eigentlich hohen Kosten würden die Auswanderungskosten sein. Und diese haben mit dem immer mehr um sich greifenden Verkehr die Tendenz, in ihren Tarifsätzen niederer zu werden. Dabei würde es der Bourgeoisie sehr grosse Mühe bereiten, diesen Schlag abzuwehren; es ist heutigen Tages unmöglich, die Arbeiter zu zwingen, im eigenen Lande zu arbeiten. Dies stünde im strikten Gegensatz zum Kapitalismus, laut welchem die Freizügigkeit nicht vernichtet wird und dem Arbeiter die Berufswahl frei steht.

Eine Einrichtung, dass alle, die ein Land bewohnen, in diesem Militärdienst tun müssen, ganz abgesehen davon, welcher Nationalität sie angehören, wäre gleichbedeutend mit der Durchlöcherung der Prinzipien des Bourgeoisregimes und seiner Vaterlandsbegriffe.****)

Anmerkungen:
*) Darum auch der Zorn über diejenigen in ihren Reihen, welche auch nur annähernd die Wahrheit über den Militarismus und die wahren Ziele des Antimilitarismus zu sagen wagen. Man vergleiche die Polemik eines österreichischen Sozialdemokraten, Karl Leuthner, in der "Neuen Gesellschaft", gegen das allerdings sehr saloppe und wenig gründliche, wenig einheitlich durchdachte Werk von Karl Liebknecht über "Militarismus und Antimilitarismus". Uns darf dabei am meisten der Umstand freuen, dass Leuthner auf Liebknecht mit ganz genau denselben naseweisen Dummheiten und demselben konservativen Kleingeiste eindringt, wie letzterer es gegenüber dem Anarchismus tut. (Anm. d. Red.)
**) Laut einem Bericht der Londoner "Tribüne" vom 24. April 1907 sagt der bekannte englische Sozialdemokrat J. Ramsay Macdonald, als parlamentarischer Vertreter der Arbeiterpartei, folgendes gegenüber den Ausführungen des englischen Kriegsministers Haldane, der dem House of Commons eine Vorlage behufs Verstärkung des stehenden Heeres präsentierte: "Wir sind nicht zugunsten einer Nation in Waffen. Es ist ein grossspuriger Ausdruck. Er sieht patriotisch aus. Man ist fast gezwungen, ihn mit einer Entschuldigung zurückzuweisen, denn so und so viele Leute meinen, dass man, ausser man ist für ihn, kein Patriot sein kann, kein vaterlandsliebender Mensch, dass man seine historische Vergangenheit nicht zu würdigen vermag. Ich leugne eine solche Beschuldigung. Sie ist falsch. Diejenigen von uns, welche es ablehnen, das Echo des Rufes "Eine Nation in Waffen" zu sein, tun dies, weil wir durch die Geschichte europäischer Staaten, durch das Studium zeitgenössischer Politik im In- und Auslande davon überzeugt sind, dass dieser Ruf: "Eine Welt in Waffen!" auch nicht das geringste Problem lösen wird, die Fahne unseres Vaterlandes so hoch und so reinzuerhalten, wie wir es wünschen" ... Wir glauben, dass ein Kommentar zu diesen Ausführungen — ist es wohl notwendig, Herrn Bebel anzuführen? — dasjenige nur abschwächen könnte, das klar aus ihm hervor - geht: der unendliche Kontrast zwischen einem wirklichen Antimilitarismus und dem Wunsche, den Militarismus in den Dienst seiner eigenen Partei zu stellen. (Anm. d. Red.)
***) 1868, auf dem Brüsseler Kongress der Internationalen Arbeiter-Assoziation, wurde sie in einer dem entsprechenden Resolution geäussert. (Vergl. in deutscher Sprache "Nach 40 Jahren" von Pierre Ramus.)
****) Wir haben unseren gegenteiligen Standpunkt zu diesen letzten Äusserungen des Genossen M. in Nr. 12 der "Fr. Gen." präzisiert. (Anm. d. Red.)

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 1. Jahrgang, Nr. 12, Juni 1907 und 2. Jahrgang, Nr. 1, Juli 1907. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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