Otto Rühle - Der Autoritäre Mensch und die Revolution (Oktober 1925)
Die AAUE hat an die Spitze ihrer programmatischen Willensbekundung die Forderung gestellt: Selbstbewußtseinsentwicklung des Proletariats.
Selbstbewußtsein heißt selbständiges, eigenes, proletarisches Bewußtsein. Heißt Vollwertigkeitsgefühl als Persönlichkeit im Rahmen des Klassenkampfes und Klassenbewußtseins. Wobei Klassenbewußtsein nicht nur Erkenntnis der Klassenlage, bestenfalls Bereitschaft zu gemeinsamer Abwehr der dem Proletariat drohenden Gefahren bedeutet, sondern vielmehr Erkenntnis der historischen Sendung des Proletariats, die sich in seiner revolutionären Rolle darstellt, und aktive Anteilnahme an der Durchführung dieser Rolle.
Die AAUE hat erkannt, daß die Selbstbewußtseinsentwicklung des Proletariats zu beginnen hat mit dem Abbau des autoritären Prinzips.
In Konsequenz dieser Erkenntnis hat sie sich eine Organisationsform geschaffen, die, indem sie das Rätesystem zum Vorbild nimmt, den autoritären Zentralismus durch Verschmelzung mit dem Föderalismus in eine höhere organisatorische Synthese aufgehen läßt und damit das autoritäre Prinzip überwindet.
Weiter verzichtet sie auf das politische Mittel des Parlaments, das sich als scheindemokrätische Hilfsmaschinerie des autoritären Klassenwillens der Bourgeoisie kennzeichnet und betätigt.
Endlich lehnt sie die auf Reformismus und Opportunismus eingestellte Lohnkampfpolitik der Gewerkschaften ab, die in der stillschweigenden Anerkennung der gegebenen Besitz- und Machtordnung ihre grundsätzliche Verankerung hat.
Die AAUE hat den ernsthaften Willen zu anti-(oder besser: un-)autoritärer Orientierung. Gleichwohl ist zu untersuchen: ob sie darin bisher weit genug vorgedrungen ist — ob nicht die 'Verhältnisse heute ein energischeres Vordringen gebieten — ob sie im Abbau der Autorität bisher alle Möglichkeiten genügend ausgenützt hat, die ihr die Entwicklung an die Hand gibt — und welche neue Möglichkeiten einer intensiven Nutzbarmachung erschlossen zu werden verdienen.
Gerade weil die AAU ernsthaften und guten Willens ist beim Abbau der Autorität, erscheint eine solche Erörterung und Untersuchung unbedingt geboten.
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Das Proletariat steht augenblicklich in einer sehr schwierigen Situation. Die Revolution ist in Blut und Verrat erstickt. Die Bourgeoisie wälzt alle Lasten ihres verlorenen Krieges auf die Massen ab. Die Organisationen des Proletariats sind zermürbt, korrumpiert, kampfunfähig. Enttäuschung, Entmutigung, Indifferentismus und Resignation beherrschen die Stimmung der Arbeiterschaft. Noch nie war die Depression und Kampfunlust im Proletariat so groß wie heute.
Solche Zeiten zwingen in hohem Maße zur Nachprüfung des Erlebten, zur Ermittelung der gemachten Fehler, zur Erforschung der Ursachen des Mißerfolgs. In solchen Zeiten ist das Bedürfnis nach Neuorientierung größer als sonst. Aber solche Zeiten sind auch Perioden kräftigen Entwicklungsfortschritts, weil die menschliche Natur, je mehr sie durch feindliche Gewalten, gefährdet ist, um so erfindungsreicher und kühner zu neuen Mitteln greift, um ihre Existenz zu verteidigen und zu sichern. Aus der größten Not wurde immer der stärkste Antrieb zur Befreiung von dieser Not geboren. Wendepunkte im Ablauf der Geschichte, die Völker plötzlich vor den Abgrund stellten, wurden sehr oft zu Wendepunkten höchster Kulturleistung und Kultursteigerung. Im Grunde ist ja alle Kultur nur das Ergebnis des gesellschaftlichen Bemühens, die in vielfältiger Form den Menschen bedrohende und bedrängende Lebensnot zu bannen und der menschlichen Rasse zu erfolgreichem Fortbestande freie Bahn zu schaffen.
Heute stehen wir an einem solchem Wendepunkte. Sozialismus oder Untergang in Barbarei — so lautet die Schicksalsfrage für das deutsche Proletariat. Der überlieferte Mensch sieht seinen Untergang. Angstvoll schaut er sich nach Rettung um.
Wollen wir mit zugrunde gehen ? Wenn nicht, was haben wir zu tun?
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Der überlieferte Mensch ist der autoritäre Mensch.
Er ist das Ergebnis des ökonomisch auf Privateigentum und Privatwirtschaft beruhenden Zeitalters, das sich philosophisch als Zeitalter des Individualismus, ethisch als das des Egoismus charakterisiert.
Im autoritären Menschen ist das Sicherungsstreben früherer Zeitläufte zu Machtstreben geworden. Wer viel Macht hat, ist in der Ordnung der Klassengesellschaft besser gesichert als der, der keine Macht besitzt. Macht ist: Geld, Amtsgewalt, Wissen, Überlegenheitsgefühl. Ohnmacht ist: Armut, Verurteiltsein zu Arbeit, Untertanenpflicht, Unwissenheit, Minderwertigkeitsgefühl. In dieser Gesellschaft strebt jeder Mensch bewußt oder unbewußt irgendwie nach Macht, Geltung, Ansehen, Erfolg, Aufstieg zur Herrenklasse, tatsächlicher oder scheinbarer Überlegenheit über andere. Der wirtschaftliche Konkurrenzkampf findet sein getreues Abbild in der Welt der seelischen Beziehungen der Menschen untereinander. Nicht nur in der Bourgeoisie, sondern ebenso im Proletariat.
Der Meister beherrscht den Arbeiter; schon der Vorarbeiter fühlt sich über den gewöhnlichen Arbeitssklaven erhaben. Der Beamte beherrscht den zivilen Menschen, der Unteroffizier den Soldaten, der Mann die Frau, der Erwachsene das Kind. Der Arbeiterführer sonnt sich im Glanze der Herrschaft über die Parteimitglieder. Der Redner erlebt Hochgefühle in der geistigen Beherrschung der Versammlung. Der Literat übt Herrschaft aus durch die Macht seiner Gedanken und Ideen. Der Gescheite beherrscht den Dummen, der Kundige den Unkundigen. Überall wuchern Autoritäten, feiern autoritäre Gelüste ihre Triumphe. Selbst der Letzte und Erfolgloseste im Lebenskampf findet schließlich noch seinen Platz, um sein Geltungsgefühl zu befriedigen: als strenger Vater in der Familie, als gewiegter Spieler am Skattisch, als prämiierter Züchter im Kanarienverein, als antiautoritärer Ausnahmemensch im Klub der Edelanarchisten.
Die neuere Seelenkunde hat uns wertvolle Einblicke in das innere Leben des Menschen vermittelt. Sie zeigt, wie das gereizte Streben nach Geltung und Überlegenheit die Menschen seelisch distanziert und isoliert. Die Beziehungsfähigkeit geht verloren. Einer ist des andern Konkurrent, Rivale, Widersacher, Teufel. Wahre Freundschaft und Kameradschaft werden immer mehr zur Phrase. Es gibt keine Solidarität mehr. Je heftiger der gegenseitige Kampf, je erbitterter das Ringen um Überlegenheit, desto häufiger die Enttäuschung, desto verheerender die Wirkung des Mißerfolgs auf die menschliche Seele.
Das Bild der Zwietracht und Feindseligkeit, der Zerfleischung und Uneinigkeit, das heute die Arbeiterbewegung darbietet, ist das Ergebnis dieses immer verzweifelter geführten Ringkampfes um die persönliche Geltung.
In einer Unmenge privater Konflikte und Kämpfe wird ein Riesenmaß seelischer Energie vergeudet, die dem Klassenkampfe verloren geht. Mann und Frau, Eltern und Kinder, Nachbarn und Arbeitskollegen, Organisationsgenossen und Freunde stehen sich aller Augenblicke als erbitterte Feinde gegenüber. Auch die Ärmsten und Gedrücktesten finden keinen Weg zu lebendiger Kameradschaft; sie reißen sich die letzte Brotrinde, anstatt sie zu teilen, gegenseitig aus dem Halse und stoßen sich, anstatt sich die Hände zu reichen, wechselseitig ins Verderben.
Was heute am dringendsten nottut, ist der Abbau der Autorität im Menschen selbst, in seiner seelischen Verhaltungsweise, in der allgemeinen und alltäglichen „Betätigung des gesellschaftlichen Lebens.
Abbau der Autorität im Organisationsapparat ist wichtig. Abbau der Autorität in Theorie und Taktik des Klassenkampfes ist wichtiger. Am wichtigsten aber ist der Abbau der Autorität in der menschlichen Seele, weil ohne ihn ein Abbau der Autorität weder in Organisation, noch in Taktik und Theorie möglich ist.
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Marx gab dem Proletariat die gesellschaftswissenschaftliche Theorie, die wir als Marxismus bezeichnen.
Gesellschaftswissenschaft ist die Lehre von den menschlichen Beziehungen. Konsequent zu Ende gedacht, endet der Marxismus beim lebendigen Menschen, dem Träger und Vollstrecker der geschichtlichen Entwicklung. Hatte die feudale Welt gelehrt: die Idee ist Ausgang und Sinn der Entwicklung, hatte die bürgerliche Welt erklärt: Inhalt und Rhythmus der Entwicklung ergeben sich aus der Gesetzmäßigkeit der Natur, so sagte Marx für die proletarische Klasse: Repräsentant und Vollstrecker der geschichtlichen Entwicklung ist der vergesellschaftete Mensch. Feuerbach hat erklärt — so schrieb Marx in seinen Thesen — daß es die Verhältnisse seien, die den Menschen machen, aber Feuerbach hat vergessen, daß es der Mensch ist, der hinwiederum die Verhältnisse macht.
Im unausgesetzten Wechselspiel zwischen sachlichen Verhältnissen und lebendigen Menschen formt und gestaltet sich der Ablauf der Geschichte. Darum ist nicht nur wichtig, welche objektiven Bestandteile und Gegebenheiten der Mensch in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft für sein geschichtliches Erlebnis vorfindet, es kommt auch darauf an, was er aus diesen Gegebenheiten macht.
Dies aber ist abhängig von seiner tiefsten seelischen Einstellung.
Mit einer bürgerlichen Orientierung macht der Mensch, entsprechend seinen klassenmäßigen Sicherungsbedürfnissen, eine Rechtfertigung und Erhaltung der überlieferten Welt mit Privatinteressen, Individualismus, Egoismus, Machtstreben, Autorität.
Mit einer bewußten proletarisch-revolutionären Orientierung gewinnt er daraus, entsprechend seinem entgegengesetzt verlaufenden Sicherungsbedürfnis, die Dispositionen und Mittel zur inneren und äußeren Überwindung dieser Welt.
Es gibt keine Revolution, die nicht vorher durch Hirn, Bewußtsein und Seele des Menschen hindurchgegangen wäre.
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Der autoritäre Mensch ist nicht nur autoritär im politischen Kampf und in der Wirtschaft. Er bekundet seine autoritäre Haltung auf allen Lebensgebieten. So in der Ehe, im sexuellen Erlebnis, in der Kindererziehung, in seinen moralischen und religiösen Beziehungen, im Verhältnis zu Kunst, Natur, Umwelt usw. Wollen wir ihn treffen, ihn stellen, ihn entlarven und entwaffnen, so müssen wir ihn überall da aufsuchen, wo er zu finden ist.
Für die bürgerliche Betrachtungsweise ist der Klassenkampf, entsprechend der dualistischen Zerspaltung des Menschen in Geist und Körper, vorwiegend Politik und Wirtschaft. Es hieße sich auf den Kampfboden der Bourgeoisie begeben, wollten wir diese Auffassung zu der unseren machen. Uns ist der Klassenkampf mehr. Uns sind alle Lebensgebiete taugliche Plätze für Auseinandersetzungen im Klassenkampfsinne, zu erschließende Territorien für revolutionäre Eroberung. Dies gerade unterscheidet uns vom Bürger und Sozialdemokraten, der seine politischen und wirtschaftlichen Interessenkämpfe ausficht, im übrigen aber den Menschen sein läßt, wie er ist.
Wir haben es mit dem ganzen Menschen zu tun. Wir wollen den Abbau der Autorität von innen und außen. Im ganzen Umfange der menschlichen Wesenheit. In der Totalität.
Wohlgemerkt: Es handelt sich hier nicht um eine in der Quantität sich erschöpfende Bildungsarbeit nach sozialdemokratischem Muster, nicht um die Auswalzung verschiedenartigster Wissensstoffe für die Bedürfnisse eines breiten Publikums nach Art der Volkshochschulkurse, die bestenfalls ein ebenso seichtes als anspruchsvolles Allerweltswissen vermitteln. Mit Recht würde man solche Bestrebungen als Verflachung des Klassenkampfes zurückweisen müssen. Andererseits handelt es sich aber auch nicht um ein utopistisches Experiment, das in unbegründeter Überschätzung der Bildungs- und Erziehungsarbeit meint, das Problem der sozialen Revolution lediglich vom Schulmeisterkatheder aus lösen zu können. Ein solcher Versuch müßte in die Irre führen und als ein völlig unmarxistischer Fehlschlag enden.
Was uns zu tun obliegt, ist etwas ganz anderes.
Die autoritäre Einstellung des Menschen ist keine Sache der Bildung oder des Wissens, sondern des Charakters. An den Charakter aber kommen wir nur heran durch ein methodisches Verfahren, das wir Erziehung nennen. Und die Erziehung braucht als wichtigste Hilfswissenschaft die Psychologie (Seelenkunde).
Ist der Abbau der Autorität dringendste revolutionäre Aufgabe, so ist die anti-(oder besser: un-)autoritäre Erziehung heute das bedeutsamste Mittel zur Lösung dieser Aufgabe. Und die Beschäftigung mit den grundstürzenden Resultaten der modernen Psychologie ist wertvollste Vorbereitung, im Grunde ebenso wichtig, wie die Beschäftigung mit der revolutionären Soziologie, dem Marxismus. Ja, Marxismus in Verbindung mit moderner Psychologie geben uns erst den Hebel in die Hand, mit dessen Hilfe wir den inneren und äußeren Menschen umschalten und umstellen können.
Nur so — auf keinem anderen Wege — kommen wir zu dem unautoritären Menschen der sozialen Revolution.
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Der Einwand, daß der sozialistische Mensch erst das Erziehungsprodukt der sozialistischen Epoche sein könne und daß es Zeit- und Kraftverschwendung sei, heute den Erziehungsaufgaben besondere Aufmerksamkeit und Pflege zu widmen, macht sich die Abweisung und Widerlegung zu leicht.
Gewiß wird der vollendete sozialistische Mensch erst den Gegebenheiten des sozialistischen Zeitalters entwachsen. Aber ihn gilt es heute gar nicht zu schaffen. Wir brauchen den proletarischen Menschen zur Durchführung der proletarischen Revolution. Und dieser proletarische Mensch ist heute genau so möglich, wie eine proletarische Klasse neben der bürgerlichen möglich ist.
In den Händen des bürgerlich eingestellten, autoritären Menschen wird die historische Sendung des Proletariats sich immer nur in Protesten, Revolten, Putschen auswirken und schließlich fruchtlos verpuffen.
Erst der bewußte proletarische Kämpfer, der in seiner ganzen Lebenshaltung unautoritäre Mensch wird der siegreiche Vollstrecker der sozialen Revolution sein.
Aus: Die Aktion, 15. Jg, Heft 19/20, Ende Oktober 1925, S. 555-559. Transkription u. HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.
Originaltext: http://www.marxists.org/deutsch/archiv/ruehle/1925/10/autoritaere.htm