Feminismus in der Türkei

Der sozio-ökonomisch-politisch-kulturelle Gleichheitskampf der gesellschaftsbildenden Geschlechter begann im 19. Jahrhundert, zieht sich bis in die heutige feministische Bewegung und weiter ins Morgen hinein. Solange Staaten und Klassen weiterhin bestehen, werden Frauen gezwungen sein, doppelt zu kämpfen: einerseits für die Freiheit der Menschheit, andererseits für die Freiheit der Frauen.

Wie die Praxis gezeigt hat, reicht eine ökonomische Unabhängigkeit für die Freiheit der Frau nicht aus. So blieben etwa nach sozialistischen und kulturellen Revolutionen die Rollen von Frauen und Männern gleich wie im kapitalistischen System, obwohl beide Geschlechter Seite an Seite gemeinsam gekämpft hatten. Dies zeigt: ökonomische und soziale Revolutionen sind nicht ausreichend für die Befreiung der Frau. Die Feministinnen in der Türkei bewegen sich heute sowohl im politischen Kampf, als auch im Bewusstsein ihrer geschlechterspezifischen Situation der doppelten Ausbeutung. Die Geschichte und das Leben haben uns gezeigt, dass der Kampf der Frauen nicht verzögerbar ist. Der Kampf gehört nicht dem Morgen, sondern geht Hand in Hand mit der Gegenwart sowie der Verantwortung, nicht nur eine Frau, sondern ein Individuum zu sein.

Im öffentlichen Leben müssen Frauen noch mehr kämpfen als Männer, um dasselbe Recht, zu erhalten. Oft ist dasselbe Recht nicht einmal dann garantiert. Die Problematik der gleichberechtigten Löhne hat heute nichts von seiner Aktualität verloren. Frauen, die im selben Beruf tätig sind wie Männer, erhalten im Vergleich zu diesen sowohl weniger Lohn, als auch Karrieremöglichkeiten. Die doppelte Ausbeutung erstreckt sich vom öffentlichen auch aufs private Leben: hier ist es der Frau Pflicht, dem Mann eine gute Ehefrau und den Kindern eine gute Mutter zu sein und die Verantwortung für den Haushalt zu übernehmen. Es ist an der Zeit, dass die Frauen sich von dieser ausbeutenden und undankbaren Rolle befreien und stattdessen sich selbst an den Tag legen. Mit einer langfristigen, systematischen Versklavungspolitik zwängen Staat wie Familie die Frau in eine gesellschaftliche Rolle und benutzen sie gleichzeitig für das Weiterbestehen ihres Systems sowie zur eigenen Krisenbewältigung.

Die Emotionen der Frau werden durch die ungerechte intersexuelle Verteilung zu schweren Lasten. Die Frau muss primär Mutter, Ehefrau oder Geliebte zu sein und die sexuellen Bedürfnisse des Gegenübers befriedigen. Das stille Akzeptieren des Etiketts, mit welchem Frauen zuerst definiert werden -sei es Ehefrau, Mutter, Schwester oder Geliebte- führt zu einem Verlust der Kernpersönlichkeit der Frau. Türkische Frauen sind sich daher heute bewusst, dass ihr Kampf gegen die Unterdrückung von Seiten Ehepartnern, Vätern, Brüdern und Liebhabern sowie gegen patriarchale Herrschaft am Arbeitsplatz, auch ein politischer Kampf ist.

Sogar positive Gefühle der Frau werden durch das Patriarchat dazu benutzt, sie zu versklaven. Das Gefühl des Mutterseins etwa, welches sowohl Erschaffung, als auch Teilen beinhaltet, wird dazu benutzt, um Frauen zu zwingen, die Verantwortung für ihr Kind alleine zu übernehmen. Seit Jahren werden die Erziehung der Kinder sowie alle Verantwortlichkeiten innerhalb der Familie den Frauen aufgebürdet.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass mütterliche Gefühle mit ihren biologischen, psychologischen und hormonellen Auswirkungen natürlich sind, so ist es trotzdem widernatürlich und künstlich erzwungen, sie für die konservative Erziehung und Kultur zu benutzen. Die in der Gesellschaft praktizierte, traditionelle Mutterrolle ist eine künstlich kreierte Rolle und wird als solche von immer mehr Frauen in Frage gestellt.

Wie in allen Bereichen einer Gesellschaft, wo Ungleichheit gelebt wird, ist auch hier ein Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit unausweichlich. Gegen die jahrelang praktizierte feudale Kultur, ihre Traditionen und Bräuche sowie gegen den Missbrauch durch den Kapitalismus müssen wir eine Kraft entwickeln. Dieses von uns ungewollte, künstlich erschaffte Leben nährt sich von uns, indem es uns zunichte macht.

Der Kampf gegen das bestehende System geht Hand in Hand mit dem Kampf um unsere persönliche Entwicklung. Die konservative Kultur bestimmt durch ihre Tabus die Beziehung zwischen Mann und Frau und ist somit ein Produkt der Politik, mit welcher der Staat die Gesellschaft systematisch kontrolliert. Sobald aber eine Beziehung gleichberechtigt ist, ist es möglich, dass sie innerhalb des Systems eigene Alternativen dagegen hervorbringt. Die Geschlechterpolitik des Kapitalismus fördert gegen aussen abgekapselte Beziehungen, die sich ins Privatleben zurückziehen und von der Öffentlichkeit abgrenzen. Die Beziehung zwischen Mann und Frau, aber auch die Familie, wird zu einer besonderen und geschützten Festung. Dies aber bewirkt eine in sich geschlossene, private und heimliche Struktur, die Abhängigkeiten aller Beteiligten hervorruft.

Der Druck von Staat und feudalem Gedankengut auf die Frau, eine Familie zu gründen und sich fortzupflanzen, zeigt, dass die Frau als ein Mittel zum Zweck betrachtet wird.

Jedes Glied dieser Ausbeutungskette, das innerhalb der privaten Struktur der Familie gesprengt wird, bedeutet gleichzeitig auch eine Sprengung der konservativen Erziehung und Kultur, welche von Staat und Gesellschaft aufgezwungen wird und somit auch eine Schwächung ihrer Macht und Kontrolle über uns.

Es ist heute unausweichlich, mit dem Bewusstsein als Individuum und durch eigene Kraft gegen anti-demokratische Begebenheiten anzukämpfen. So wurde etwa in der Desa-Fabrik in Istanbul eine Arbeiterin entlassen, weil sie in der Gewerkschaft war. Daraufhin begann sie im Alleingang einen Sitzstreik vor der Fabrik, der bis heute andauert. Durch die Solidarität und Unterstützung von Frauenorganisationen, revolutionären Organisationen, Einzelpersonen und Medien erzeugte ihre Aktion ein breites Echo und blieb damit nicht isoliert. Der Protest einer einzelnen Stimme wandelte sich so zu einem Protest vieler Stimmen.

Die Unterdrückung, Folter, Belästigungen und Vergewaltigungen, welche Frauen auf der Strasse, am Arbeitsplatz und in den Gefängnissen erleiden, werden nicht mehr länger totgeschwiegen und auf gemeinsame, solidarische Weise thematisiert.

Beispielsweise liefen Frauenorganisationen Sturm, als am 17. und 18. Oktober im Gebze-Gefängnis inhaftierte PKK-Kämpferinnen sexuell belästigt wurden. Männliche, mit Messern bewaffnete Kriminalgefangene stürmten die Zellen der Frauen und griffen sie einerseits verbal, andererseits physisch an. Dabei wurden 9 Frauen verletzt. Die erneute Stärkung der PKK in der Türkei hat den Nationalismus noch mehr wachsen lassen und stellt überall eine Bedrohung dar. Der Vorfall ist auch ein Beispiel dafür, wie der Staat seine Gefängnisse benutzt. Als Antwort wurden die kurdischen Frauen und ihre Familien von über 30 Frauenorganisationen unterstützt. Die Organisationen beschuldigten gemeinsam mit der Anwältin Özlem Özkan den Leiter des Gefängnisses, die Gefängniswärter und Soldaten sowie die Angreifer in den Punkten: physischer Angriff, sexuelle Belästigung und Bedrohung.

Menschen, deren sexuelle Orientierung nicht der gesellschaftlichen Norm entspricht, handeln gemeinsam mit sich solidarisierenden Organisationen und suchen Lösungen für die Probleme, mit denen sie konfrontiert werden. Beispielsweise wird versucht, eine breite Öffentlichkeit zu informieren, sich mit Gesellschaft und Familie zu versöhnen und Familientherapien durchzuführen, die von feministischen und revolutionären Organisationen organisiert werden. Hierzu arbeiten die Aktivistinnen beispielsweise mit Psychiatern und Anwälten zusammen. Der Willen aus der Familie zur Versöhnung und zur Therapie kommt hierbei meistens aus Initiative der Mütter der Betroffenen.

Die Kriegsdienstverweigerung und Anti-Kriegs-Bewegung werden heute von Feministinnen aktiv unterstützt und thematisch aufgegriffen.

Die Frauen in der Türkei handeln nunmehr im Bewusstsein eines politischen Kampfes, als auch eines Kampfes um ihre geschlechterspezifische Politik. In der Türkei gibt es aktuell über 32 Frauenorganisationen, die eigene Publikationsorganen herausbringen und in gemeinsamen Problemen gemeinsam und vernetzt untereinander handeln.  Die Organisationen und Einzelaktivistinnen organisieren sich nicht innerhalb der Grenzen ihres eigenen Landes, sondern global.

Das türkische Berufungsgericht hat in der Kommission des Justizministeriums die Verabschiedung eines neuen, frauenfeindlichen Gesetzes beantragt. Daraufhin folgten (und folgen heute immer noch) Protestaktionen von sämtlichen Frauenorganisationen der Türkei sowie 25 Organisationen aus Deutschland. Der Vorschlag des Berufungsgerichtes  beinhaltet folgende Punkte: das Herabsetzen des Heiratsalters von 17 auf 14, das Herabsetzen der Strafe von Vergewaltigung innerhalb der Familie  von 7 auf 1-6 Jahre und ein Straferlass für Vergewaltiger, wenn sie die Person heiraten, die sie vergewaltigt haben. Das Gericht wendet somit seinen eigenen Faschismus mittels des Patriarchats auf die Frauen an.

Der gemeinsame feministische Kampf führt dazu, dass wir uns gegenseitig kennenlernen und mit Situationen konfrontiert werden, wo wir durch unsere eigenen Geschlechtsgenossinnen im Kampf behindert werden.

Die jahrelang angewandte Geschlechterpolitik ist auch in den Köpfen der Frauen verankert. In Politik und Gesellschaft Frauen immer wieder auf Frauen gehetzt und somit Frauen gegen Frauen benutzt werden.

Bürgerliche, macht- und hierarchiefördernde Frauen, die nicht selber zu erschaffen oder Dinge zu erkennen und zu definieren fähig sind, die ihrem eigenen Geschlecht fern sind und nicht am realen Leben teilnehmen, trüben die Gedanken von Frauen und leeren sie innerlich: sie erschaffen einen naiven Typ Frau.

Eine Frau, die daran glaubt, dass sie sich nur über den Mann erschaffen kann, verliert den Glauben an sich selbst und beginnt, Selbstzweifel zu hegen. Die Ansicht, Frauen könnten nur durch einen starken Mann an ihrer Seite existieren und sich erschaffen, führt dazu, dass Frauen gar nicht das Bedürfnis verspüren, irgendetwas zu erschaffen, wenn kein Mann da ist.

Das Vorhandensein von Beziehungs-Mischwesen mit zwei Körpern und einem Gehirn führt zu Abhängigkeit und der Unmöglichkeit, sich frei zu bewegen. Eine freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit einer der Partner führt unweigerlich zu Anschuldigungen des Verrats – ebenso, wie man mit Anschuldigungen des Staatsverrats konfrontiert und dafür bestraft wird, wenn man sich unabhängig vom Staat bewegt. Diese Art von Beziehung ist gleichbedeutend mit der systematischen individuum-feindlichen Funktionsweise des Staates. Ein solches Gehirn in zwei Gehirne umzuwandeln, ist gleichwertig mit dem Umstürzen des Staates.

Frauen, welche das Patriarchat stützen und ermächtigen, leben praktisch die Ablehnung des eigenen Ichs. Es ist daher nicht erstaunlich, dass man auch Menschen mit dem Körper einer Frau und dem „Gehirn“ eines patriarchalischen Mannes in der Gesellschaft findet.

Wir lernen, diese und ähnliche Probleme, sowie alle Versuche, die Frauen zu passiv zu halten, gemeinsam und organisiert, aber auch als Individuen, zu bekämpfen.

Das Leben ist überall, sowohl ausser-, als auch innerhalb von uns. Egal, wie die Umstände sein werden, wir werden weiterhin das Recht gebrauchen, uns ein Sprachrohr zu verschaffen. Die Freiheit der Frauen liegt in ihren eigenen Händen und in der unabhängigen Organisierung der feministischen Bewegung, sei es innerhalb oder ausserhalb von revolutionären Organisationen. Diese Funktionsweise ist in der Türkei relativ neu: vor den 80er Jahren wurde die Geschlechterproblematik in den revolutionären Organisationen nicht als eigenständige Aktion organisiert.

Der Erfolg, uns selber sein zu können, ist möglich, indem wir durch feministische Kämpfe Abhängigkeit, Tabus und Vergötterung hier und jetzt bekämpfen.

Feministische Aktion – Karakök Autonome türkei/schweiz

Originaltext: http://karakok.wordpress.com/unsere-texte/feminismus-in-der-turkei/