Expropriation

Es sind etwa 25 Jahre her, daß Kropotkin seinen wunderbaren Artikel über die Expropriation schrieb (1) und den Arbeitern riet, "von nun an unermüdlich die Idee der Expropriation zu verbreiten." Er schrieb auch: "daß nur die soziale Expropriation die Bedürfnisse aller Leidenden und Bedrückten befriedigen kann. Damit aber die Expropriation ihren Zweck erfüllt, nämlich das Privateigentum an den Produktionswerkzeugen aufhebt und allen Menschen zugänglich macht, dazu ist es notwendig, daß diese in großem, gesellschaftlichen Maßstabe ausgeführt wird. Im Kleinen ist sie nur eine gewöhnliche Plünderung und hat mit der Idee der Expropriation nichts gemein, die tatsächlich den Anfang der neuen Gesellschaft bedeutet."

Der Aufbau der Gesellschaft auf neuer kommunistisch-anarchistischer Grundlage ist nur durch die Expropriation denkbar. Übrigens setzte geschichtlich auch der geringste gesellschaftliche Fortschritt eine Expropriation voraus.

Die Arbeiter können sich nur dann befreien, wenn sie klar erkennen, daß sie ein Recht auf den gesamten Reichtum der Gesellschaft haben, den sie schufen. Nur dann kann ihnen Gerechtigkeit widerfahren, wenn sie in den gemeinsamen Besitz dieses gesamten Reichtums gelangen; da aber die besitzende, herrschende Klasse demselben — obwohl sie ihn nicht erzeugte — nie freiwillig entsagen wird, so ist es unvermeidlich, daß sich die Arbeiterklasse mit dem Gedanken der Expropriation vertraut macht.

Die Tätigkeit der Gewerkschaften hat heutzutage oft etwas Ziel- und Zweckloses, gerade weil sie nicht zur Expropriation führt. Meistens sind es die streikenden Arbeiter allein, die die Kosten des Kampfes gegen die Kapitalisten bezahlen. Diese letzteren sind oft sehr wenig in Mitleidenschaft gezogen und wenn, außer den Streikenden selbst, noch andere Menschen die Opfer des Streikes tragen müssen, so sind dies die als Konsumenten ausgebeuteten übrigen Arbeitermassen. Derweil aber diese Tatsache den Befürwortern des sozialen Friedens als Argument dient, um den Arbeitern vom wirtschaftlichen Kampf abzuraten und sie zur friedlichen gesetzlichen Tätigkeit — welche die Lage der Arbeiter nicht im geringsten verbessern kann — zu überreden, zeigt uns Kropotkin, daß dieselbe im Gegenteil der stärkste Beweis für die unbedingte Notwendigkeit der sozialen Expropriation ist.

Er schreibt darüber folgendes: "Erinnern wir uns der großen Streiks der Eisenbahnarbeiter und Maschinisten, welche so oft stattfanden. Die große Masse der Bevölkerung erkannte die Gerechtigkeit ihrer Sache an; alle Welt war es müde, die Unverschämtheiten der Eisenbahngesellschaften zu ertragen und freute sich, daß dieselben endlich der Gnade ihrer Angestellten ausgeliefert waren. Als aber die Arbeiter, nachdem sie die Bahnlinien und Lokomotiven still legten, verabsäumten, dieselben in Betrieb zu setzen, und so aller Verkehr und Austausch ins Stocken geriet und die Preise der Lebensmittel und anderer Waren aufs Doppelte stiegen, da schlug die öffentliche Meinung um. "Eher noch die Bahngesellschaften, die uns bestehlen und uns Beine und Arme brechen, als diese Gimpel von Streikenden, die uns verhungern und die Lebensmittel verteuern lassen!"

Vergessen wir nicht, daß alle Interessen des Volkes gewahrt, und nicht nur sein Gerechtigkeitsgefühl, sondern auch seine materiellen Bedürfnisse befriedigt werden müssen. — Aber nicht so, daß man, wie es einige sozialdemokratische Arbeiterführer tun, den Angestellten der öffentlichen Dienstleistungen das Recht zum Streiken abspricht, wie z.B. Brandt, Gewerkschafts-Sekretär der Schweizer Eisenbahnarbeiter, Briand und Viviani, französische Sozialdemokraten und Minister.

Es ist sicher, daß alle Reformen der Welt nicht im Stande sind, die Frage von Brot und Arbeit für alle Menschen zu lösen. Was die Masse der Arbeiter — in deren Händen alle Kraft, alle Geschicklichkeit und der Ursprung alles Reichtumes liegt — nicht selbst durch eigene Kraft zu vollbringen wagt, das kann keinerlei gewählte Versammlung, kein Parlament, kein Mensch statt ihnen und für sie tun.

Die Ereignisse von 1848 und 1871 können dabei dem Proletariat zur Lehre dienen.

Im Februar 1848 proklamierte das französische Volk die Republik. Alle Republikaner versichern uns einstimmig, daß dieses Wort im Sinne des lateinischen Res publica das allgemeine Interesse bedeutet. Wenn also die Republik mehr war als ein bloßes Wort, was hätte sie tun müssen? An Stelle der Privatinteressen, des Privateigentums die allgemeinen Interessen, den gemeinsamen Besitz setzen. Statt dessen opferte das Volk drei Monate des Elends für den Dienst der provisorischen republikanischen und demokratisch-sozialistischen Regierung, und nach drei Monaten wurde es, als es Arbeit und Brot verlangte, von dieser Regierung mit Kartätschen niedergeschossen. Man hatte während dieser drei Monate Nationalwerkstätten errichtet, einige Maßnahmen zur Linderung der Not getroffen, aber all das konnte dem Volke kein gesundes und glückliches Leben schaffen.

Proudhon schreibt folgendes über diese Zeit: "Die meisten meiner republikanischen Freunde befanden sich in der größten Unwissen-heit über die alltäglichen Tatsachen. Man sprach nur mit einem gewissen Grauen über die Nationalwerkstätte; denn die Furcht vor dem Volke ist die Krankheit, an welcher alle Teilnehmer der Herrschaft leiden. Für jene, die herrschen, ist das Volk der Feind. Jeden Tag bewilligten wir im Parlament neue Summen für die Nationalwerkstätten, währenddem wir vor der Unfähigkeit der Regierung und unserer Ohnmächtigkeit zitterten."

Eine Regierung, welche nicht fähig ist, die Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen, hat nur einen Weg vor sich: die blutige Unterdrückung des Volkes; und sie zögert nie, dieses Mittel anzuwenden. Jede revolutionäre Bewegung, welche während der Revolutionszeit nicht rasch zur sozialen Güterverteilung führt, um durch diese den Wohlstand für Alle zu verwirklichen, endet unvermeidlich mit der Niederlage und der Niedermetzelung des Proletariats.

Die Pariser Kommune von 1871 hat uns ein noch schmerzlicheres Beispiel geboten. Nicht nur, daß das Volk mit Eifer die Schätze der Bank für seine Ausbeuter und Mörder beschützte; sondern es wagte nicht einmal, sich der Werkstätten zu bemächtigen, welche die Besitzer aus Furcht vor der Revolution verlassen hatten. Die Verordnung der Kommune vom 16. April 1871 berührt aufs schärfste diesen wunden Punkt: "In Anbetracht, daß eine große Anzahl von Werkstätten durch ihre Leiter, um ihren bürgerlichen Pflichten zu entgehen und ohne Rücksicht auf die Interessen der Arbeiter verlassen wurde, und daß in Folge dieser feigen Flucht viele, für das öffentliche Leben unentbehrliche Arbeiten unterbrochen sind, und die Existenz der Arbeiter gefährdet ist; verordnet die Kommune, daß die Gewerkschaftsorganisation der Arbeiter eine Statistik der verlassenen Werkstätten sowie ein Inventur der in denselben befindlichen Arbeitsmitteln aufstellen sollen, um die praktischen Bedingungen für deren sofortige Betriebsübernahme durch die genossenschaftlichen Vereinigungen der daselbst beschäftigten Arbeiter festzustellen."

Wie? Konnten die Arbeiter sich nicht mehr ihrer Arme bedienen, nachdem die Unternehmer fort waren? Und welch' ein Unsinn, daß der Stadtrat den Arbeitern der verschiedenen Arbeitszweige sagt: "Ihr, die ihr euer Handwerk kennt und seit Jahren ausübt, sollte eine Statistik, ein Inventar aufstellen und uns einen Bericht erstatten, und dann werden wir die wir gar nichts davon verstehen, euch sagen, wie ihr die Werkstätten wieder in Betrieb setzen sollt!" Entweder sind die Organisationen der Arbeiter fähig, durch ihre eigene direkte Aktion die Werkstätten in ihren gemeinschaftlichen Besitz zu nehmen und sie so zu verwalten, wie es ihr eigenes Interesse und das Interesse der Gemeinschaft erfordert: oder sie sind nicht dazu fähig, und dann bleibt eine Verordnung, wie jene der Kommune vom 16. April 1871 ein totes Wort. Und man möge nicht vergessen. Es war nicht der Mangel an technischer Kenntnis und Geschicklichkeit, welche die Arbeiter davon abhielt die Werkstätten in eigenen Betrieb zu übernehmen, sondern nur der Mangel an Selbständigkeit, an klarer Erkenntnis des anarchistisch-kommunistischen Lebensideals.

Unsere Propaganda in den Gewerkschaften muß also darauf hinausgehen, daß die Arbeiter fähig werden, in freier Solidarität und aus eigener Initiative handelnd, das Land, die Werkstätten, Fabriken, Bergwerke, Verkehrsmittel, sowie Maschinen, Werkzeuge und Arbeitsmaterial zu übernehmen, um so an Stelle der kapitalistischen Produktion die kommunistische Produktion zum Wohle Aller zu setzen.

Dies und nichts anderes besagt der Ideengang der Expropriation. Expropriation bedeutet einfacher Enteignung; in diesem Worte ist auch schon der ganze Begriff gelegen. Es bedeutet nicht Diebstahl, Plünderung, sondern es nimmt der herrschenden Klasse diejenigen Eigentumsprivilegien, die ihr Möglichkeit bieten, die Proletarier in wirtschaftlicher Not und Abhängigkeit zu erhalten; die Enteignung soll sie dieser Privilegienmacht enteignen, soll sie zu Gleichen mit allen übrigen schaffenden Menschen machen, d.h. allen Menschen den für ihre Existenz notwendigen Anteil an den gemeinsamen Produktionserträgnissen, die durch gemeinsame Arbeit geschaffen werden, bieten.

Die Expropriation bedeutet sonach nicht, daß eine Klasse die andere berauben, nun den Spieß umdrehen und die beraubte nun ihrerseits in ein unwürdiges Abhängigkeitsverhältnis bringen wird, sondern sie bedeutet nicht mehr noch weniger, als die Aufhebung der Ausbeutungsmöglichkeit der Bourgeoisie gegenüber dem Proletariat, die dadurch geschieht, daß die soziale Revolution jedes Monopolrecht, d.h. ausschließliches Privateigentumsprivilegium an den für alle Menschen notwendigen Arbeitswerkzeugen, Land, Wäldern, Fabriken etc. aufheben, für null und nichtig erklären wird. Erst dadurch ist allen die Möglichkeit geboten, in freier Arbeitsbetätigung vollkommen ihre Bedürfnisse befriedigen zu können.

Von sozialdemokratischer Seite wird behauptet, daß diese kommunistische Produktion nur durch eine zahlreiche wohldisziplinierte, und besonders geschulte Beamtenschaft geleitet werden könne, und daß die Arbeiter erst eine lange Lehrzeit in den bestehenden Produktions- oder Konsumvereinen nötig haben, um zur Führung der kommunistischen Werkstätten fähig zu sein. Aber dadurch, daß ein Arbeiter seine gewohnte Arbeit verläßt und ein Beamter wird, wird er nicht befähigt dazu, diese Arbeit zu leiten: im Gegenteil, er verliert alle Fühlung mit derselben. Und was die heutigen sozialdemokratischen "Genossenschaften" betrifft, so lernen die Arbeiter in ihnen wenig mehr, als die höchst unnützen und gefährlichen Kunstgriffe der kapitalistischen Spekulation. Es sind einzig und allein die freien Arbeitergruppen selber die ihre Arbeit besorgen und regeln, und durch freundschaftliche Vereinbarung, also Föderation unter einander die gesamte Produktion so im Gange halten können, daß dieselbe die Bedürfnisse aller Menschen aufs Beste befriedigt. Wenn sie dabei der Dienste von gelernten Ingenieuren und Technikern bedürfen, so werden diese schon bereit sein, ihren Teil zur gemeinsamen Arbeit beizutragen, sobald die soziale Umgestaltung der Gesellschaft begonnen hat; sie werden ihre Dienste den Produktionsgruppen zur Verfügung stellen, entweder aus dem natürlichen Bedürfnis sich zu betätigen, oder weil sie sonst kein Fortkommen finden würden.

Es gibt in den Tagen der Befreiung nur eine Gefahr für's Proletarial: die Unentschlossenheit, das Säumen, das Stehenbleiben auf halbem Wege; dadurch wird ein großer Teil des Volkes unbefriedigt gelassen und andererseits gewinnt die Reaktion Zeit und Mittel wieder um zu Kräften zu kommen. Je allgemeiner die Aufhebung der bourgeoisen und staatlichen Privilegienmacht sein wird, desto vernünftiger und gerechter wird sie erscheinen. Der Erfolg hängt von der Entschiedenheit ab, mit welcher man eine Idee verwirklicht und nicht von der Mäßigung, mit welcher man vorgeht, denn diese ist immer nur ein Beweis daß man kein Vertrauen zu sich selber hat. Und nochmals, vergessen wir nicht, daß, wenn das Volk selbst zögert, eine gesellschaftliche Umgestaltung durchzuführen, die "Vertreter" die es wählt, noch viel mehr zögern würden.

Alle Beschlüsse der sozialdemokratischen Kongresse sprechen von der "Vergesellschaftlichung der Produktions- und Austauschmittel" Aber die Menschen müssen vor allem konsumieren, sich nähren, kleiden, wohnen, ehe sie neue Reichtümer produzieren können. Dies kann nur dadurch erzielt werden, wenn die soziale Revolution sämtliche Lebensmittel und andere Reichtümer, welche die kapitalistische Spekulation in ihren Warenlagern aufgehäuft hat, unentgeltlich allen Menschen zur Verfügung und Bedürfnisbefriedigung stellt.

Darin erblicken wir die einzige Lösung der sozialen Frage. Alle übrigen Reformprogramme stoßen sich auf Schritt und Tritt an unüberwindlichen Hindernissen und enden schließlich immer damit, daß der Wohlstand und die Freiheit für alle zu Gunsten der Vorrechte einer regierenden Klasse vernichtet werden. Und wenn es manche Reformisten auch noch so ehrlich meinen mögen, ihr Eifer erkaltet dennoch sofort, wenn einmal ein Stillstand in der fortschrittlichen Bewegung eintritt und die halben Maßregeln, die sie angestrebt haben, erreicht sind; und Korruption und Verfolgungen schrecken bald jene ab, deren Überzeugung nicht allzu fest war.

Unsere Knechtschaft besteht eben darin, daß die gesellschaftlichen Arbeitswerkzeuge nicht der Gesellschaft und ihren Arbeitsgruppen gehören, sondern nur einigen Bevorzugten. Deshalb ist keine Befreiung ohne gesellschaftliche Eigentumsveränderung im Sinne des Kommunismus nicht möglich, denn wir haben genugsam die Erfahrung gemacht, daß wir mit Bitten nichts von den Besitzenden erreichen können. Eine jede Arbeiterorganisation, welche anerkennt, daß der Unternehmer ein Recht dazu hat, aus der Arbeit der Arbeiter Profit zu machen, und die nicht direkt auf die vollständige Befreiung der Arbeit auf dem Wege der Übernahme der Arbeitswerkzeuge hinarbeitet — jede solche Gewerkschaft kommt einer Organisation von Streikbrechern und Verrätern gleich. Und wir dürfen uns nicht dadurch täuschen lassen, wenn die sozialdemokratischen Politiker von einer Expropriation auf gesetzlichem Wege durch die "Eroberung der politischen Macht" sprechen. Wir wollen nicht, daß einige unserer "Vertreter" über den Reichtum der Gesamtheit verfügen sollen: wir wollen, daß die Erde und Alles, was zum Leben und Arbeiten notwendig ist, allen Arbeitern und Menschen frei zur Verfügung steht.

Die Grundlage allen Fortschrittes, aller Freiheit, aller Gerechtigkeit ist die Expropriation. Jeder Fortschritt besteht darin, daß die Gesamtheit das erhält, was sie vordem nicht besessen; jede Freiheit ist der Ausdruck dessen, daß man mehr zu tun vermag, weil man mehr Mittel dazu hat; jede Gerechtigkeit wird dadurch verwirklicht, daß das gemeinsame Interesse Aller über das enge Sonderinteresse einer Klasse triumphiert und ein Stück Monopoleigentum in den Besitz der Gesamtheit übergeht.

Dem Proletariat diese Anschauung über Expropriation beizubringen, dies ist die Hauptaufgabe unserer Propaganda.

Luigi Bertoni

Anmerkung:
1.) Obiger Artikel, den unser Genosse Bertoni meint, wurde von Kropotkin im "Revolte", einem französischen Blatt, im November 1882 und Februar 1886 verfaßt. Anm. d. Red.

Aus dem Schweizer "Almanach du Travaileur" für 1909.

Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 9 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.