M. Pierrot - Die Anarchisten und der Syndikalismus

Vor einigen Wochen fand im Saale der Geographischen Gesellschaft zu Paris, unter dem Vorsitz des Genossen Viktor Griffelhuis, eine öffentliche Versammlung statt, in der Lagardelle für die vereinigte französische Sozialdemokratie, Labriola für die italienische Sozialdemokratie, Dr. Michels für die deutsche Sozialdemokratie und Kritschewsky für die russische Sozialdemokratie über die Beziehungen des revolutionären Gewerkschaftswesens (Syndikalismus) zum Sozialismus sprachen. Überdies kündete die "L'Humanité" auch den bevorstehenden internationalen Kongress der Sozialdemokratie zu Stuttgart an.

Die Redner boten alle die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung wie eine neue Bewegung dar, verwiesen auf die syndikalistischen Theorien wie auf etwas Neues. Wenn man z.B. Lagardelle und Labriola sprechen hörte, würde man glauben, dass es sich um eine ganz junge, neuliche Evolutionsphase handelt. Lagardelle erklärte u.a., dass der Syndikalismus*) mit dem Eintritt Millerands ins Ministerium geboren wurde und das Produkt der Reaktion gegenüber dem demokratischen Sozialismus darstelle. In Wahrheit erscheint es uns als glaubwürdig, dass Lagardelle die syndikalistische Bewegung erst in jener Periode wesentlich zu würdigen anfing. Die Regierungsbefähigung des ministeriellen Sozialismus liess eben auch ihn den Weg der Damaszehnerbrauch entdecken ... für ihn, der vorher zwischen Guesde und Jaurès hinund herwankte, datiert eben alles Leben von dem Tage an, da ihm die Augen aufgingen.

Doch schon lange vorher waren die Theorie und die Taktik, welche die "Konföderation der Arbeit" angenommen hatte, entdeckt und praktisch geführt worden von der jurassischen Internationale. Unermüdlich verkündeten die Anarchisten die gleiche Taktik, predigten den ökonomischen Kampf im Gegensatz zur demokratisch-parlamentarischen Aktion. Erst nach dem Verschwinden der Sektionen der Internationale wurde diese Propaganda rein individuell von den Einzelnen weiter fortgesetzt. Überdies waren es die Anarchisten von Chicago, welche als erste Apostel des Generalstreiks schon im Jahre 1886 auftraten. In Frankreich war es gleichzeitig unser Kamerad Tortelier, welcher, gegen 1888, dieselbe Taktik propagierte. Des weiteren finden wir die Allemanisten, welche damals die einzige sozialistische Arbeiterpartei in Frankreich bildeten.

Sie schufen 1894 in Paris eine syndikalistische Bewegung, welche sich auch später noch, in einen direkten Gegensatz zum Parlamentarismus setzte, ganz wie unsere heutigen Syndikalisten. Sie führten eine der tatkräftigsten und enthusiastischsten Propagandaleistungen zugunsten des Generalstreiks. Die damaligen sozialdemokratischen Abgeordneten gaben sich den Anschein, als ob sie die Allemanisten mit den Anarchisten verwechselten. Tatsächlich gab es auch nicht viele Unterschiede zwischen den einen und den anderen.**) Sehr lebendig ging es zu auf dem internationalen Kongress zu London, 1896. Die gegenseitige Übereinstimmung zwischen beiden schien fast vollständig und Eugene Guérard wurde der Berichterstatter aller Revolutionäre über den Generalstreik.

Man darf nicht übersehen, dass mittlerweile Fernand Pelloutier, der Sekretär der Föderation der Arbeiterbörsen, energisch auf die Loslösung und Selbständigmachung der Syndikate von den politischen Parteien hinarbeitete und eifrig die Propaganda revolutionärer Ideen in den Arbeiterkreisen betrieb***). Pelloutier erklärte sich offen als Anarchist, und seiner Aktion ist die Richtung geschuldet, welche die Gewerkschaftsbewegung Frankreichs einschlug. Es ist Pelloutier zu verdanken, dass die Syndikalisten zum Bewusstsein ihrer eigenen Tendenzen erwachten.

II.

Die direkte Aktion hat immer existiert: sie ist die alte, urwüchsige Taktik proletarischer Betätigung, nur dass sie noch nicht diesen Namen trug. Bemerkenswert ist. dass ihr Pate gerade der Genosse Emil Pouget wurde, der frühere Redakteur des "Vater Mühsam". Der Sabbot, der Boykott, der Generalstreik sind die Taktik, welche vor allem von den Anarchisten propagiert und präzisiert wurde. Indem die Anarchisten in die Syndikate eintraten, gaben sie der arbeitenden Masse ihre Ideen und ihre Tendenzen.****)

Die Anarchisten waren empört über die Schlaffheit der Syndikate. Der Ehrgeiz der meisten organisierten Gewerkschaftler bestand darin, kleine Verbesserungen in der Lebenshaltung zu erzielen, sich mit diesen zu begnügen, zu den Unternehmern und der Staatsgewalt betteln zu gehen. Sie bekümmerten sich nicht im geringsten um ihre individuelle Würde, noch um ihre moralischen Rechte. Hier setzte die Tätigkeit der Anarchisten ein. Im selben Grade und Masse, als das Vertrauen der Arbeiter in ihre eigene Kraft sich vermehrte, wurden sie kühner in ihrem Auftreten. Zu den materiellen Forderungen gesellten sich die moralischen. Indessen stand der Reformismus und Revisionismus im Zeichen der Schwäche, und schon zur Zeit Pelloutiers hatte er sich grösstenteils gefügt und mit der radikalen Taktik vermischt. Es ist sehr zweckmässig, sich damit bekannt zu machen, wie diese Ideen der direkten Aktion neue Stärke erhielten und sich nach jener Epoche der Internationalen ausbreiteten.

Immer deutlicher präzisierten sich die Tendenzen. Auf dem Kongress von Bourges (1904) z.B. fand die vollständige Scheidung zwischen Unabhängigen (Revolutionären) und Neutralen (Reformisten) statt. Die alltägliche Erfahrung, der Bankrott des Demokratismus haben die Evolution des französischen Syndikalismus im revolutionären Sinne sehr begünstigt und die Anarchisten sehr gefördert; kein Zweifel darüber. Gewissermassen ist es also richtig zu sagen, dass das Ministerportefeuille Millerands für gewisse syndikalistische Sozialisten der Ausgangspunkt einer intellektuellen Krise wurde, welche ihre Loslösung von den politischen Illusionen sehr erleichterte.

III.

Ich will nur einige Worte sagen über gewisse Meinungen, welche Michels und Kritchevsky äusserten. Ersterer sagte, dass man es in Deutschland noch nicht zu Wege gebracht hätte, die Demokratie — er meinte demokratische Freiheiten — zu erkämpfen, und dass es infolgedessen unmöglich wäre, einen ähnlichen Syndikalismus in Deutschland zu haben, wie er in Frankreich besteht. Im Gegensatz hierzu erklärte der zweite Redner, dass der Syndikalismus imstande sei, Russland eine Demokratie zu erobern.

Nun bilden aber die demokratischen Freiheiten keine für sich selbst bestehende Sache, und der Syndikalismus darf nicht auf sie warten, sondern muss sich in Bewegung setzen, damit die Demokratie existiere. Sobald die Arbeiter Anstrengungen machen, um ihrem Elend und der Unterdrückung aller Art, die auf ihnen lastet, zu entgehen, fühlen sie die Notwendigkeit einer entsprechenden Assoziation, um Propaganda dafür in Wort und Schrift machen zu können. Und sie fangen ihre Propaganda, ihre Gruppierungen an, trotz der und im Gegensatz zu den bestehenden Gesetzen. Ueberdies ist solches die einzige praktische Methode, um sich das Recht freier Vereinigung zu erkämpfen, das Koalitionsrecht u.s.w. Alle Freiheiten sind naturgemäss die Folgen des sozialen Lebens selbst. Zur gleichen Zeit bildet die Praxis der direkten Aktion die beste Energieschulung der Arbeiterklasse, Die Streiks und ihre Folgen lehren die Arbeiter, nicht in Resignation zu verfallen, keine Angst vor der Autorität zu haben, welche immer es auch sein soll. Schon sehen wir deutlich genug eine neue Evolutionsphase vor uns auftauchen in der Moralwertung der Individuen: Streiks gegen die Tyrannei der Werkführer, Solidaritätsstreiks gegen die Entlassung eines Kameraden werden immer häufiger.

Schneller und schneller rückt der Tag innerhalb des Syndikalismus heran, welcher das Strebenscharakteristikum des Anarchismus bildet: Liebe zur Freiheit, Hass allen Unterdrückern !

Diese Bestrebungen befinden sich in einem strikten Gegensatz nicht nur zur Autorität des Unternehmertums, sondern auch zur Autorität des Staates, wie auch in Harmonie mit allen übrigen Strebenszielen des Anarchismus. Aber es ist nicht die Erringung der öffentlichen Macht, was Kritchevsky meint, wenn er von der demokratischen Macht spricht, sondern es ist die Abschaffung jeder Macht, worin wir das Ziel des Syndikalismus erblicken.

IV.

Wenn wir das Problem von diesem Standpunkt aus betrachten, sehen wir die beschränkte Organisationsform des Syndikalismus nach Berufen und suchen nach einem Ausweg, um dem Egoismus seiner partikularistischen Forderungen zu entgehen. Der Syndikalismus bedarf einer idealistischen Lehre und Unterlage. Was ist also der Unterschied zwischen ihm und dem Sozialismus und Anarchismus?

Man kann sich leicht einen reformistischen Syndikalismus vorstellen, der den Mitläufer einer sozialdemokratischen oder sonstigen autoritären Partei bildet, wie ihn die parlamentarische Taktik sich ja immer verschafft. Aber es ist nichts als Konfusion möglich zwischen einem solchen Sozialismus und dem revolutionären Syndikalismus.

Der antistaatliche, also wirklich revolutionäre Syndikalismus scheint sich, durch seine Philosophie und Moral, mit dem kommunistischen Anarchismus zu verschmelzen. Allein während der kommunistische Anarchismus sich an alle aufrichtigen Charaktere und Menschen richtet, kann sich der Syndikalismus nur an die Arbeiter richten, ihnen allein zuwenden. Somit scheint es etwas erstaunlich zu sein, wenn Intellektuelle wie Lagardelle, Labriola und andere sich — Syndikalisten nennen. Sie können unmöglich in Gewerkschaften organisiert, syndikalisiert sein.

Sie können sich dem Syndikalismus nicht anders anschliessen, als durch die Anhängerschaft zur Philosophie des Syndikalismus. Und diese Philosophie ist keine andere als jene des kommunistischen Anarchismus.

Es ist eine schreckliche Qual, eine Verlegenheit, in welcher sich unsere radikalen Freunde der Sozialdemokratie befinden. Zudem wollen sie unter keinen Umständen etwas anderes im Anarchismus sehen, als den aufs Äusserste getriebenen Individualismus, ich habe von ihnen erfahren, dass Elisee Reclus und Kropotkin nichts anderes als Individualisten vom reinsten Wasser sind ... Diese etwas groteske, Unwissenheit wird gewiss gern gesehen in den Erfordernissen ihrer praktischen Sache ...

In obiger Versammlung machte ich auch die Wahrnehmung, dass die Redner fortwährend vom belgischen Syndikalismus sprachen, der noch in den Windeln liegt, jedoch keinen Atemzug über die syndikalistische Bewegung in der romanischen Schweiz oder Italien verloren, die weit lebendiger ist als jene Belgiens.

Einige Tage vorher hatten die Schweizer Arbeiter, besonders jene Vereys, durch die direkte Aktion und den generalisierten Streik einen glänzenden Sieg über das Ausbeutertum errungen. Aber dafür haben auch die Anarchisten der romanischen Schweiz einen deutlichen Einfluss auf die dortigen Arbeiter.

Dennoch trug die Rede Lagardelles, die mit begeisterndem Mut vorgetragen wurde, den Geist der Revolte, die moralische Würde im Individuum anregend, einen wahrhaft anarchistischen Charakter.

Warum also wollen sie aus dem Syndikalismus eine besondere Schule machen? Die Antwort auf diese Frage hat, so dünkt mich, unser italienischer Genosse Luigi Fabbri klar und deutlich gegeben in seinem Artikel über den Kongress der italienischen sozialdemokratischen Partei*):

"Die (intellektuellen) Syndikalisten bilden, wie Georges Sorel es sehr richtig sagte, eine Fraktion der Sozialdemokratie, welche danach kämpft, die Macht innerhalb der eigenen Partei zu gewannen. Vom Syndikalismus haben sie nur einige Ideen und Stellungen übernommen. Unzweifelhaft revolutionärer als die übrigen, verbleiben sie nichtsdestoweniger auf Seiten der parlamentarischen Tätigkeit und haben eine heillose Angst davor, dass man sie für Anarchisten nehmen könnte.

Dieser unechte Syndikalismus hat darin zwei Vorteile, dass er zwei Ideen in sich aufnimmt, die bislang nur von Anarchisten verteidigt wurden: den revolutionären Generalstreik und den internationalistischen Antimilitarismus. Aber in der Besprechung und Behandlung dieser Bestrebungen innerhalb eines Milieus ewiger Widersprüche suchen sie mit einander unversöhnliche Ideen auszusöhnen, wie z.B. die direkte Aktion mit jener des Parlamentarismus. So kommt es, dass die Syndikalisten, welche die stärksten Ideen und Methoden des Anarchismus anerkennen, aber zur gleichen Zeit vorgeben, nur auf Marx zurückzugreifen, und an der sozialdemokratischen Partei hängen bleiben durch den dünnen Verbindungsfaden des Parlamentarismus, noch weit unlogischer sind als die Reformisten und Revisionisten, deren Bestreben dem Ziele gilt, sich abzuzweigen von jenen, welche ihrer Bewegung Hindernisse entgegenwerfen, eine Bewegung, deren Ziel die zunehmende politisch-bourgeoise Verspiesserung ist."

Diese Meinung von Fabbri wird aufs neue bestärkt durch die Aktionen Lagardelles, Labriolas und der anderen, welche vorschlugen, den internationalen sozialdemokratischen Kongress zu Stuttgart zu besuchen, welcher allen seinen Delegierten die Verpflichtung aufzwängt, die politisch-parlamentarische Aktion anzuerkennen. Wozu sollen aber aufrichtige Syndikalisten, die kämpfenden Organisierten, sie in solchem Beginnen unterstützen, warum soll sich der intelligente Proletarier des Freiheitskampfes um den Ehrgeiz einer Partei bekümmern?

Anmerkungen:
*) Das Wort Syndikalismus ist das im Französischen gebräuchliche für Gewerkschaftsbewegung.
**) Ich muss ausserdem anführen die "Gruppe der internationalistischen sozialistisch-revolutionären Studenten" (1891—1902). Sie stand ungefähr in der Mitte zwischen Allemanisten und Anarchisten und entfaltete eine besondere Tätigkeit in der Propaganda neuer, werdender Gedanken, die sie dann in das Arbeitermilieu verpflanzte. Im Winter 1893-1894 gab sie die Broschüre "Warum sind wir Internationalisten?"
und 1896 "Die Revolutionäre an den Londoner Kongress" und "Reformen oder Revolution" heraus. Eine ihrer besten Broschüren war gewiss auch "Die Anarchisten und das Syndikat", die im Winter 1897-1898 erschienen und in der die revolutionäre Rolle des Syndikats den Anarchisten gegenüber dargelegt wird. Zu jener Zeit hatten unsere kollektivistischen Kameraden, die 1899 ihre Revue "Die sozialistische Bewegung" begründeten, über die Gewerkschaftsbewegung so ungefähr dieselben Ideen wie heute Renard und alle Guedisten.
***) F. Peloutier erstattete als Delegat der Arbeiterbörsen von Nantes und Saint-Nazaire im Jahre 1892 Bericht über die Frage des Generalstreiks an den Genossenschaftskongress von Tours. Im März 1893 anlangend, wurde er Sekretär obiger Föderation im Winter von 1894—1895. Sehr mitgenommen infolge einer ernsten Krankheit dank der Überanstrengung auf dem Genossensehaftskongress zu Rennes (1898), musste er sein Wirken vermindern; er starb im Jahre 1901. Pelloutier stand stets unter dem Einfluss der Gedanken Proudhons. Vom Februar 1897 bis August 1899 gab er das Genossenschaftsblatt "Der Arbeiter zweier Welten" heraus. Seiner Teilnahme am Genossenschaftskongress von Nantes (September 1894) ist es zu verdanken, dass die französichen syndikalistisch organisierten Arbeiter sich definitiv von den politischen Parteien loslösten.
****) Pouget und Delesalle waren es, die zum ersten Mal einen Bericht über den Boykott und den Sabot an den Genossenschaftskongress von Toulouse richteten (1897). 1897 gründete P. ein Syndikat der Angestellten. Als Redakteur des "Père Peinard" machte er grosse Propaganda für den Anarchismus. 1894 als Flüchtling in London lebend, verfasste er eine Serien von Broschüren, welche die Tendenzen des Syndikalismus schon klar zusammenfassten. 1895 kehrte er nach Frankreich zurück und gab em Wochenblatt heraus, "Die Soziale" , welches syndikalistischer gehalten
wurde als der frühere "Pore Peinard". 1895 war Pouget Delegat zum Londoner Kongress mit Pelloutier und Guérard. Nach dieser Zeit beteiligte er sich in immer grösserem Massstabe an der syndikalistischen Bewegung bis auf den heutigen Tag. Gegenwärtig Hauptredakteur der "Volksstimme" in Paris, bedeutendstes syndikalistisches Organ Frankreichs.

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 1. Jahrgang, Nr. 11, Mai 1907. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.