Erich Mühsam - Nach zehn Jahren (1927)

Der zehnjährige Gedenktag der großartigsten proletarischen und bäuerlichen Erhebung gegen den Kapitalismus und seine politischen Ausdrucksformen ist in Moskau nicht als Siegesfest der Arbeiterklasse, sondern als Machtparade des zur Zeit herrschenden Flügels einer einzigen Partei gefeiert worden, einer Partei übrigens, die im Gegensatz zu andern revolutionären Gruppen und Parteien, wie Linken Sozialrevolutionären und Anarchosyndikalisten, im entscheidenden Moment uneins war: die Gruppe der konsequentesten Marxisten um Sinowjew und Kamenew machte nicht mit, mußte sich von Lenin als Streikbrecher und Verräter bezeichnen lassen und besetzte nach der Niederschlagung aller vollzählig an der Revolution beteiligten Organisationen die allerhöchsten Posten in Partei und Staat. Ihre gegenwärtige Entfernung aus den schmalen Reihen der in Rußland zum Aussprechen einer Ansicht privilegierten Revolutionäre hat selbstverständlich mit ihrer Haltung vor 10 Jahren nicht das geringste zu schaffen.

Hier soll aber weder ihr noch Trotzkis Ausschluß aus der bolschewistischen Partei kritisiert werden. Wünscht die russische Opposition sich um die Sympathien der linken Revolutionäre aller Länder zu bemühen, die auch heute noch die gemeinsame Revolutionsparole von 1917 - "Alle Macht den Räten!" - für richtig halten und jede Parteidiktatur über den Räten verneinen, so möge sie sich äußern, wie sie zu unsrer Forderung einer Generalamnestie aller russischen linken Revolutionäre, der Anarchisten, Syndikalisten, linken Sozialrevolutionäre, Maximalisten und der bolschewistischen Arbeiteropposition steht. Bis jetzt haben wir nicht erfahren, daß etwa Trotzki, dem das am ehesten anstände, Protest erhoben hätte gegen den unglaublichen Erlaß, den die Stalin-Bucharin-Gruppe sich als Amnestie auszugeben erdreistet. Die deutsche Hindenburg-Amnestie begrenzte im Jahre 1925 ihre Gnade auf revolutionäre Handlungen, die vor dem 1. Oktober 1923 begangen waren-, die Stalinsche Revolutions-Gedächtnis-Amnestie begrenzt ihre Gnade im Jahre 1927 auf konterrevolutionäre Handlungen, die vor dem 1. Januar 1923 begangen sind. Außerdem wird die Registrierung aller ehemaligen Offiziere und Militärbeamten der Weißen Armee annulliert; die gegen zaristische Verschwörer verhängten Todesurteile werden in zehnjährige Kerkerstrafen umgewandelt, und alles übrige betrifft unpolitische Delikte, bei denen ebenfalls nach Muster der Hindenburg-Amnestie kein Straferlaß, sondern nur Milderungen ausgesprochen werden.

"Aktive Mitglieder politischer Parteien, welche die Zerstörung der Sowjetordnung anstreben", sind neben gewissen Kategorien von Korruptionsverbrechern von allen Vorteilen dieser Verhöhnung der Arbeiter ausgeschlossen. Man vergesse doch nicht, daß die Förderung von Bestrebungen, die an Stelle der bolschewistischen Bürokratendespotie die Sowjetordnung der russischen Verfassung einsetzen möchten, dort als das Anstreben der Zerstörung der Sowjetordnung ausgegeben wird, wie man ja in der Kommunistischen Internationale auch im Gegensatz zu allem bisherigen Sprachgebrauch nicht die Leute Renegaten nennt, die zum Feinde überlaufen, sondern die, welche der früher von allen anerkannten und dann von den Offiziellen preisgegebenen Meinung treu geblieben sind. Es ist ein wahres Glück, daß man wenigstens annehmen darf, unter den "von Gerichten oder Verwaltungsorganen wegen gegenrevolutionärer Tätigkeit während des Bürgerkrieges bis zum 1. Januar 1923 verurteilten Werktätigen", die freizulassen sind, werden auch viele Proletarier sein, die, wie die schmählich verleumdeten Kronstädter Matrosen, nur deswegen als Gegenrevolutionäre betrachtet werden, weil sie den Sowjetordnungsersatz der RKP nicht als Sowjetordnung anerkennen wollten. Nehmen wir aber an, das Stalinsche Gnadendekret sei wörtlich so zu verstehen, wie es redigiert ist, dann hat die Regierung des ersten Arbeiterstaates der Welt das Jubiläum des Ereignisses, dem sie diese Macht zu danken hat, dazu benutzt, ausschließlich Konterrevolutionäre zu begnadigen, die gefangenen, verfolgten, emigrierten und mundtot gemachten Revolutionäre aber, die ihren Sieg erringen halfen, von jeder Vergünstigung ausgenommen.

Zum Zehnjahrestag veröffentlichte eine Gruppe von Organisationen und Persönlichkeiten Deutschlands und andrer Länder ein Manifest "An die Sowjet-Regierung! An das russische werktätige Volk! An das Weltproletariat!". Darin wurde nach einer warmen Huldigung der Vorkämpfer und Märtyrer der russischen Revolution und einem entschiedenen Bekenntnis zur russischen Oktoberrevolution der früher mit der regierenden Partei verbündeten Freunde und revolutionären Mitkämpfer gedacht, die zu Hunderten und Tausenden in Verbannung, Emigration oder im Gefängnis leiden, weil sie "das Recht der freien Meinungsäußerung für sich in Anspruch nahmen, viele selbst nur, weil sie ihren alten Idealen, den Idealen des revolutionären Weltproletariats, treu geblieben sind". Das Manifest vom 15. Oktober wird angegriffen, das mit keinem Wort der Gefangenen und Verbannten gedenke, "die Parteien und Richtungen angehören, die im Oktober 1917 an der Seite der russischen Bolschewisten für das Sowjet-System gekämpft haben und noch immer dem Gedanken an eine wirkliche Sowjetordnung leidenschaftlich ergeben sind." Für sie, nur für sie, "ganz gleich, welches revolutionäre Programm sie verfechten, ob es Marxisten sind oder Narodnici (Sozialrevolutionäre) oder Bakunisten (Anarchisten)", wird Amnestie gefordert, Freilassung aus den Kerkern, Rückkehr in die Heimat; gefordert "mit dem Recht der Gleichheit der Revolutionäre vor der revolutionären Geschichte" und "im Bewußtsein unsrer Verantwortung vor dem Weltproletariat, vor der ganzen Menschheit". Der Aufruf schließt mit dem Appell an die russischen Arbeiter und Bauern, sie möchten helfen, die Einheit des revolutionären Weltproletariats herzustellen; es müsse ein Ende werden mit der Diktatur über die andern revolutionären Arbeiterparteien, "durch die ihr die Besten des russischen Proletariats zur Tatenlosigkeit zwingt, statt daß sie mitarbeiten können an der Aufrichtung eines sozialistischen Rußlands". Für den Zusammenschluß aller proletarischen Kämpfer zur Vollendung des Sieges vom Oktober 1917 sei die Freilassung der russischen Revolutionäre die erste Voraussetzung.

Die Rote Fahne, das Zentralorgan der KPD, geht über diese Kundgebung mit ein paar schnodderigen Zeilen hinweg, nennt die Unterzeichner in Bausch und Bogen eine feine Gesellschaft, die einander wert sei, lügt ihren Lesern vor, es werde die Amnestierung der menschewistischen Konterrevolutionäre gefordert und bezeichnet den Inhalt des Aufrufs als Verleumdung. Es muß peinlich sein, notgedrungen eine Sache zu verteidigen, die man selbst für so miserabel hält, daß man sie erst zurechtfälschen muß, um ihre Verteidigung vor revolutionären Arbeitern überhaupt verständlich scheinen zu lassen.

Hier folgen ein paar Namen der feinen Gesellschaft, die einander wert ist: Unterschriften, auch von Arbeitern, die der KPD angehören, laufen täglich ein. Der Herausgeber des FANAL ist bereit, Zustimmungen, die ihm zugehen, weiter zu leiten. Also vorerst eine kleine Auswahl: Anarchistische Vereinigung Berlin (Gust. Lübeck); Dr. Anita Augspurg; Alexander Berkmann; G. Björklund, Red. d. "Brand", Stockholm; James Broh; Dr. Martin Buber; Berthold Cahn; Georg Davidson; Dtsch. Pazifist. Studentenbund; Silvio Gesell; Alexander Granach; Lida Gustava Heymann; Artur Holke, Leipzig; Hans Hyan; Industrie-Verband, Berlin, Zentralvorstand (F. Schmidtke); Aug. Jung, Wiesbaden; Franz Jung; Dr. Herta Kalcher, Darmstadt; Oskar Kanehl; Fritz Kater, Vors. d. FAU. (Anarcho-syndikalisten); Aug. Kettenbach, Wiesbaden; Karl Korsch; Meta Kraus-Fessel; Theod. Liebknecht, Vors. d. USPD., Math, van der Linden, Aachen; Paul Louis, Paris; August Merges; Karin Michaelis; Erich Mühsam; Fritz Oerter, Fürth; Prof. Dr. Frz. Oppenheimer; Franz Pfempfert; Alfons Pilarski; Reichsarbeitsgemeinschaft d. Freigeistigen Verbände, Ortsgruppe Berlin; Rudolf Rocker; Henriette Roland-Holst; Rob. Schlisch, Breslau; Max Schröter, Elektrizitätsarbeiter (Mitglied d. KPD.); Franz W. Seiwert, Köln: Redaktion "Der Syndikalist" (Helmut Rüdiger); Sozialist. Proletarier-Jugend Deutschlands; Bruno Taut; Friedrich Trikojes; Unabhängige Sozialdemokr. Partei Deutschlands; Wilh. Werner; Milly Witkop-Rocker; Ewald M. Wingerning; Wilh. Zetl, Konditor (Mitglied d. KPD.).

Die Aktion wird fortgesetzt!

Aus: Fanal, 2. Jahrgang, Nr. 3, Dezember 1927. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien (bearbeitet, Oe zu Ö usw.)