Erich Mühsam - Die Krise des Bolschewismus (1928)

"Wir ergreifen diese Gelegenheit, den berühmten Führern der deutschen Kommunistenpartei zu huldigen, den Bürgern Marx und Engels vor allem, und ebenso dem Bürger Ph. Becker, unserm früheren Freunde und jetzigen unversöhnlichen Gegner, die, soweit es einzelnen gegeben ist, etwas zu schaffen, die wahren Schöpfer der Internationale gewesen sind. Wir huldigen ihnen um so lieber, als wir gezwungen sein werden, sie bald zu bekämpfen. Unsere Achtung für sie ist rein und tief, aber sie geht nicht bis zur Götzenanbetung und wird uns niemals dazu hinreißen, ihnen gegenüber die Rolle von Sklaven zu übernehmen. Und obgleich wir volle Gerechtigkeit den ungeheuren Diensten widerfahren lassen, die sie der Internationale geleistet haben und selbst jetzt noch leisten, so werden wir doch bis aufs Messer bekämpfen ihre falschen autoritären Theorien, ihre diktatorischen Anmaßungen und jene Manier unterirdischer Intrigen, eitler Umtriebe, elender Persönlichkeiten, unreiner Beleidigungen und infamer Verleumdungen, die auch sonst die politischen Kämpfe fast aller Deutschen kennzeichnen und die sie unglücklicherweise in die Internationale verschleppt haben."

Diese Sätze schrieb Michael Bakunin im Jahre 1871, als an der Absicht der Marx, Engels und Becker, die Internationale durch den Ausschluß der Bakunisten zu spalten, schon kein Zweifel mehr bestand. Franz Mehring, aus dessen Marx-Biographie ich zitiere, bemerkt dazu: "Das war gewiß hinlänglich grob, aber nie hat sich Bakunin dazu hinreißen lassen, die unsterblichen Verdienste zu bestreiten, die sich Marx als Gründer und Leiter der Internationale erworben hat."

Max Nettlau hat in seinem wichtigen Werk "Der Anarchismus von Proudhon zu Kropotkin" (Verlag "Der Syndikalist", Berlin 1927) den dokumentarischen Nachweis erbracht, daß Marx "keinen Finger gerührt hat, zur Gründung der Internationale beizutragen". Ob Bakunin diese negative Rolle seines Gegenspielers in der revolutionären Arbeiterbewegung gekannt hat, ist kaum anzunehmen. Aber hätte er selbst gewußt, wieviel energischer und fruchtbarer seine eigene Tätigkeit und die seiner Freunde das Zustandekommen der ersten Internationalen Arbeiter- Assoziation gefördert hat als die der Staatskommunisten, so empfand er für die Verfasser des kommunistischen Manifestes und besonders für Karl Marx, dessen Analyse des kapitalistischen Wirtschaftssystems er dankbar bewunderte, genügend kameradschaftliches Gerechtigkeitsgefühl und unabhängig davon genügend Sauberkeitsbedürfnis, um die widerwärtigen Methoden der Diffamierung, die die Marxisten gegen ihn anwandten, auch nur in der Abwehr zu übernehmen. Das erkennt Mehring an, indem er sagt: "Den tiefen Gegensatz, der ihn von Marx und dessen "Staatskommunismus" trennte, verleugnete Bakunin keinen Augenblick, und er sprang nicht sanft mit dem Gegner um. Aber immerhin stellte er ihn nicht als ein nichtswürdiges Subjekt hin, das nichts als seine eigenen verwerflichen Zwecke im Auge hätte."

Kein Zwefel: vom Standpunkte der echten bolschewistischen Nachfolger der Marx und Engels betrachtet, hat Marx, der den Widersacher mit den schimpflichsten persönlichsten Schmähungen und Verleumdungen verfolgte, "leninistisch", Bakunin hingegen, der diese Mittel verachtete, "unleninistisch" gehandelt. Mindestens läßt sich mit dem bei Parteikommunisten üblichen Verfahren, Zitate ihrer verstorbenen oder noch nicht abgehalfterten Autoritäten als Wahrheiten von ewigem Evangeliumswert auszutrompeten, Lenin,- den man auf diese Weise für und gegen alles verwenden kann, als Theoretiker der Verächtlichmachung Andersmeinender vortrefflich heranziehen. In der Tat hat Lenin, im Jahre 1907 vor ein Parteigericht gestellt, dort folgende Bekenntnisse abgelegt: "Was unzulässig ist unter den Mitgliedern einer einigen Partei, ist zulässig und obligatorisch zwingend zwsichen den Teilen einer gespaltenen Partei. Man darf über Parteigenossen nicht in einer Sprache schreiben, die bei den Arbeitermassen Haß, Ekel, Verachtung usw. zu den Andersdenkenden wachruft. Man darf und soll aber so schreiben, wenn es sich um eine abgesonderte Organisation handelt." "Vom Standpunkt der Psychik ist es vollkommen klar, daß der Bruch jeglicher organisatorischen Verbindung unter Genossen schon an sich den äußersten Grad der gegenseitigen Erbitterung und des zur Feindschaft gewordenen Hasses bedeutet." (Zitiert aus Ernst Drahns Bibliographie "Marx, Engels, Lasalle" bei R. L. Prager, Berlin 1924).

Endlich noch eine Äußerung des Marxisten Mehring, die ihn, grade in dem Werk, das in ergebener Verehrung dem Andenken von Karl Marx gewidmet ist, bei Beurteilung der Formen, in denen Marx und Engels den Kampf gegen Bakunin führten, zu seinen Meistern im scharfen Gegensatz zeigt: "Doch verdunkelten sie nur ihr eigenes Recht, wenn sie behaupteten, die Internationale sei an den Umtrieben eines einzelnen Demagogen untergegangen ... Man muß es in der Tat mit den heutigen Anarchisten halten, wenn sie sagen, es sei nichts unmarxistischer als die Vorstellung, daß ein ungewöhnlich boshaftes Individuum, ein "höchst gefährlicher Intrigant", eine proletarische Organisation, wie die Internationale, habe zerrütten können, und nicht mit jenen gläubigen Seelen, denen jeder Zweifei daran, daß Marx und Engels immer genau das Pünktchen aufs i gesetzt haben, die Haut schaudern macht. Die beiden Männer selbst freilich würden, wenn sie heute sprechen könnten, nur ätzenden Hohn übrig haben für den Anspruch, daß die rücksichtslose Kritik, die immer ihre schärfste Waffe gewesen ist, vor ihnen selbst abdanken solle." ("Karl Marx, Geschichte seines Lebens", Leipziger Buchdruckerei A.-G., 1918).

Die beiden Männer können nicht mehr sprechen, und so bleibt Mehrings liebevolle Vermutung unwiderlegbar, obschon sie den nichtmarxistischen Kennern ihres Verhaltens, wenn wirklich jemand Kritik gegen sie gewagt hat, und den Beobachtern des Gebarens ihrer legitimen Nachfolgerschaft mehr als fragwürdig vorkommt. Die Frage allerdings, um die sich die unterschiedlichen Marxisten gegenseitig in jener Sprache Belehrungen erteilen, "die bei den Arbeitermassen Haß, Ekel, Verachtung usw. wachruft", die Frage, welcher marxistischen Richtung Marx selbst die Vollmacht geben würde, alle andern Marxisten als Halunken, Konterrevolutionäre, Banditen, Spitzel, Verräter und Knechte der Bourgeoisie zu bezeichnen, ist sehr schwer zu entscheiden, da er als Praktiker wohl der erste Stalinist, als Theoretiker aber zweifellos Kautskyaner gewesen ist.

Noch schwieriger ist die Frage zu beantworten, welcher Gruppe der Leninisten Lenin angehören würde, wäre er noch am Leben. Jede nimmt ihn in Anspruch, jede zitiert ihn, und jedes Zitat zeigt ihn einer anderen Verbindung zugehörig; denn keiner hat es nötig, seine Zitate zu fälschen, mit denen ihn Rykow und Bucharin als Stalinschen Kulakenhäuptling, Radek und Trotzki als Vernichter der neuen kapitalistischen Privilegien, Fischelew und Sorin als Befreier aus den Kerkern der GPU, Sinowjew und Kamenew als reuigen Bekenner der Überzeugung anderer Leute und Sapronow und Rakowski als Reisebegleiter nach Turkestan oder dem polaren Sibirien reklamieren. Wir haben gar keinen Grund, uns in die Streitereien einzumischen. Denn, was diese oder jene Autorität getan hätte und was geschehen wäre, wenn der Einfluß dieses oder jenes Toten noch wirken könnte, das sind keine der revolutionären Polemik würdigen Probleme. Nichts was unter bestimmten Voraussetzungen mit bestimmten Zwecken je gesagt und geschrieben worden ist, hat dauernde Geltung. Nur solche Feststellungen, die auf unveränderliche Eigenschaften von Menschen und Verhältnissen Bezug haben, sind von Bestand. Wollt ihr durchaus Lenin zitieren, so nehmt den Satz, den ich in der "Plattform" der Sapronow-Opposition "Vor dem Thermidor" finde (bei Fritz Erulat, Hummelsbüttel, Post Fuhlsbüttel, Hamburg), und den ich aus dem Zusammenhang der Parteidiskussion herausnehme und ins Leiben stelle: "Wer aufs Wort glaubt, der ist ein hoffnungsloser Idiot, den man mit einer Handbewegung abtut."

Für Anarchisten, das kann nicht deutlich genug ausgesprochen werden, besteht gar kein Anlaß, in dem die russische Kommunistenpartei und mithin die kommunistische Partei-Internationale durchtobenden Kampf für eine, gegen eine andre Richtung Partei zu nehmen. Möge uns achtungsvolle Sympathie für die Tapferkeit gewisser beteiligter Persönlichkeiten bewegen, Verachtung gegen die würdelose Kriecherei und Rechnungsträgerei anderer, Entrüstung über die demagogische Skrupellosigkeit herrschsüchtiger Bürokraten oder Tyrannen, tiefes Mitleid mit den Opfern der Auseinandersetzung, von deren Schicksal der erschütternde Abschiedsbrief Joffes Zeugnis gibt, - wir haben die Vorgänge nicht unter organisationsegoistischen Gesichtspunkten zu beurteilen, sondern als weltgeschichtlich höchst bedeutsames Symptom: die Krise des Bolschewismus ist die Krise eines falschen sozialistischen Prinzips; sie ist die Krise des autoritären Sozialismus, des Staatssozialismus, des Zentralismus als revolutionäre Organisationsform und somit schlechthin die Widerlegung des Marxismus in der revolutionären Praxis.

Ein ganz kurzer Rückblick: Im September 1917 erheben sich in Petersburg die Arbeiter selbständig und keineswegs "unter Führung" irgendeiner Partei, gegen die konterrevolutionäre Regiererei der Menschewiken und Kerenski-Kleinbürger. Bauernaufstände und Frontmeutereien dehnen die proletarische Revolution, deren Parole "Alle Macht den Räten!" heißt, über das ganze Land aus. Am 7. November erklären sich die Sowjets souverän. An dieser Aktion, der ersten organisatorisch vorbereiteten Tat der neuen Revolution, beteiligen sich geschlossen die Anarchisten, Maximalisten, linken Sozialrevolutionäre (Narodnici), ferner - unter Leitung Lenins und Trotzkis - ein Teil der Bolschewiken, gegen die ein andrer Teil - unter Sinowjew und Kamenew - in Opposition tritt. Nach dem Siege der geeinten, organisierten und nicht organisierten, revolutionären Arbeiterschaft schließt sich die bolschewistische Partei wieder zusammen. Aus den hervorragendsten Persönlichkeiten der verschiedenen beteiligten Formationen wird ein Rat der Volksbeauftragten gebildet, untergeordnet den aus Delegationen der proletarischen und bäuerlichen Betriebskörperschaften bestehenden, frei gewählten Sowjets. An die Spitze des Rats tritt der populärste, durch Entschlußkraft und Willensklarheit besonders ausgezeichnete Führer der Bolschewiken, N. Lenin. Durch energische revolutionäre Dekrete wird in gemeinsamer Arbeit die bisher mächtige Klasse völlig entrechtet, der Kapitalismus entwurzelt, der alte Staat total zerstört, der Grund gelegt zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft. Zur Lösung der schwierigsten aller Fragen, des Agrarproblems, wird das den Narodnici und Anarchisten gemeinsame Bauernprogramm angenommen, nach Lenins Ausdruck "mit Haut und Haaren geschluckt".

Es folgt das deutsche Ultimatum von Brest-Litowsk, das die Einigkeit zwischen den Revolutionären radikal sprengt. Lenin setzt gegen die Meinung der Anarchisten, deren Standpunkt von Trotzki geteilt wird, die Annahme der deutschen Kapitulationsbedingungen durch. Hier verläßt die russische Revolution die bis dahin mögliche Parallele mit der Pariser Kommune, die sich zur Fortsetzung des Krieges als revolutionären Kampfes bekannte; hier setzt zugleich die Parallele mit der großen französischen Revolution ein. Der Bolschewismus entschließt sich zur Übernahme jacobinischer Methoden; die zuerst bakunistisch verlaufene Revolution nimmt die Formen des Blanquismus an, die Allmacht der Sowjets weicht der Diktatur einer einzelnen Partei. In bewaffneten Kämpfen gegen die Anarchisten (Moskau, April 1918), denen zahllose Füsilierungen, Verhaftungen, Verschickungen, Ausweisungen und Verfolgungen erst der Anarchisten-Syndikalisten, dann der linken Sozialrevolutionäre und Maximalisten und schließlich der Arbeiteropposition aus den eigenen Reihen (Mjasnikow) folgen, wird, wobei Trotzki die Hauptaufgabe zufällt, die Allgewalt des Parteiapparates erzwungen. In der Ukraine wehren sich die Bauern unter Machno jahrelang verzweifelt ihrer auf freien Räten aufgebauten Selbständigkeit, während sie zwischendurch, sogar im Bündnis mit Trotzki, gegen Denikins, Wrangels und Petljuras weiße Truppen kämpfen. Der letzte Versuch, die Freiheit der Sowjets zu retten, ist der Matrosen- und Arbeiteraufstand in Kronstadt, dessen Unterdrückung in furchtbar blutigem Kampf der Regie Kalinins, Sinowjews und Trotzkis gelingt. Die Interventionen der kapitalistischen Internationale waren währenddem in gemeinsamen Anstrengungen der revolutionären Arbeiter und Bauern aller Richtungen, die sich hierzu willig in die Rote Armee einreihten und sich der bolschewistischen Führung Trotzkis, Budjonnys, Frunses usw. gern anvertrauten, abgeschlagen. Die Konsolidierung Sowjetrußlands als Staat begann.

In diesem Zusammenhange soll nicht von der Staatspolitik der Bolschewisten gesprochen, nicht untersucht werden, ob objektive oder subjektive Gründe die Stärkung des Kulakentums bis zu neuer Ausbeutung der kleinen Bauern, die Zulassung der Nep und damit einer neuen luxustreibenden Bourgeoisschicht, die Umgestaltung der früheren Roten Armee zu einem stehenden Heer mit allgemeiner Wehrpflicht, die Bündnispolitik mit den kapitalistischen Mächten und selbst die Konflikte zwischen dem Staat als Arbeitgeber und den Industriearbeitern, um Arbeitszeit und Akkordlöhne willen, verschulden. Darüber mögen sich die zankenden Gruppen der Bolschewisten wechselseitig die Köpfe zerbrechen. Der hier vertretene Anarchismus begreift alle diese Erscheinungen als die natürlichen Folgen des zentralistischen, des staatssozialistischen Systems und kann auf die die marxistischen Kreise bis zur Selbstvernichtung aufregende Frage, ob der Aufbau des Sozialismus in einem einzigen Lande möglich sei, immer nur erwidern: sicherlich nicht in einem Staate. Denn der Staat ist die Einrichtung des ökonomisch ausbeutenden Monopols, ist politischer Behälter des Kapitalismus, kann nichts andres sein, nie etwas andres werden und muß sich, wird er auch für andre Zwecke geschaffen, immer wieder und immer nur mit den Elementen der kapitalistischen Ausbeutung füllen. Wenn die Bolschewisten bestreiten, daß Rußland hierfür den Beweis liefere, wenn sie tausend Gründe geltend machen, daß keine andre Verwaltung die Schäden der russischen Zustände hätte verhindern können, so ist darauf zu sagen: Warum habt ihr`s denn nicht versucht? Warum habt ihr die Räte-Verfassung nicht in Kraft gesetzt? Warum habt ihr den Sowjets alle Macht genommen? Hättet ihr mit der Überstülpung der Räte- Organisation mit einem bürokratischen Staatsapparat die Schäden vermieden, die euch von Bakunin und den Anarchisten vorausgesagt wurden, dann hättet ihr ein Recht, den unverfäschten Sowjetismus zu höhnen. Jetzt aber haben wir das Recht zu erklären, unsere Auffassung von revolutionärer Organisation zum Aufbau des Sozialismus ist dank eurer gewalttätigen Verhinderung noch praktisch unerprobt, aber gerade darum noch völlig unkompromittiert. Wenn Bürger und Menschewiken behaupten, in Rußland sei der Sozialismus als undurchführbar erwiesen, so sagen wir: in Rußland ist der Staatszentralismus als sozialistischer Aufbaumechanismus widerlegt. Die Parteidiktatur ist widerlegt. Die Räterepublik, aufgebaut von unten nach oben als förderalistische Ordnung der freien Initiative schaffender Kräfte ist in Rußland nicht lebendig gemacht worden. Sie wird die Organisationsform des Sozialismus sein.

Was zur Zeit in Rußland vorgeht, kann die Erkenntnis des Kardinalfehlers der Marxisten sehr fördern. Nachdem die Vertreter der freien Räteidee vollkommen ausgeschaltet waren, vor der Masse des Proletariats und der revolutionären Landbevölkerung als Gegenrevolutionäre, Verräter, Abtrünige verlästert und aus dem Herzen der Menschen, für die sie kämpften, herausgerissen, stand auf leuchtender Höhe vor diesen gläubigen Menschen das Häuflein Führer, das in unfehlbarer Weisheit allein wußte und lenkte und dem Glück der Gesamtheit die Zügel hielt. Es waren die Führer der einzigen marxistisch-leninistischen Partei, jeder von ihnen umstrahlt von der Gloriole unermeßlicher Verdienste, unbeirrbarer Klarheit des Wissens, des Könnens, des Urteilens und des Bannertragens. Der Glaube an die Heiligen der orthodoxen Kirche, in langen Generationen unwandelbar gefestigt, war von der Revolution entrodet, und der Glaube an die Größe und jeder Kritik entzogene Weisheit der bolschewistischen Leiter der russischen Geschicke, die einig und stark über den Massen thronten, war ebenso tief in die Seelen gedrungen. Und nun ereignet es sich, daß diese Halbgötter untereinander das Raufen anfangen, einander unflätig beschimpfen, mit jedem Unrat bewerfen, und die Bilder der Männer, die seit zehn Jahren an der Wand hingen, da wo früher das Zarenbild neben dem Hausaltar glänzte, sie müssen zerrissen werden, will man nicht selbst in den Verdacht geraten, Verräter und Renegat zu sein. Einer nach dem andern hat den Heiligenschein eingebüßt. Nun stehen nur noch drei Mann vornedran, allen sichtbar als die allein zu verehrenden Führer mit ihrem Anhang. Werden sie nicht auch noch ins Prügeln geraten? Werden sie sich nicht auch noch gegenseitig als Schurken beschimpfen, die noch nie an das Proletariat, immer nur an sich selbst gedacht haben, wie jener Trotzki? Oder die schlecht riechen wie jener Radek? Oder die die Lakaien sind der Bourgeoisie und der englischen Feinde, wie jener Smirnow? Der Glaube an die Autorität ist getötet! Die autoritärsten Herrscher der Geschichte haben es vollbracht.

Soll man nun alle die "Plattformen" nebeneinander stellen, mit denen jede bolschewistische Gruppe an Hand von Marx- und Leninzitaten zu beweisen sucht, daß sie die wahren "Thesen" vertritt? Ich möchte den Parteikommunisten sehen, der die theoretischen Finessen alle erklären könnte, mit denen die Vertreter der verschiedenen Leninismen einander die revolutionäre Ehre abschneiden, und durch die sie sich von einander unterscheiden. Aber es handelt sich nicht um taktische oder politische Fragen. Es handelt sich bei den ganzen Auseinandersetzungen einzig um die Disziplin! Was die Mehrheit, vielmehr was der Apparat, von dem die Mehrheit dirigiert wird, für richtig, gut und bolschewistisch ausgibt, das ist richtig, gut und bolschewistisch. Ein neuer Gedanke, hineingeworfen in ein aufgezogenes automatisch laufendes System, könnte zu neuen Erwägungen, zu neuen Entschlüssen nötigen. Das duldet keine Bürokratie. Die bolschewistischen Gruppen aber, die jetzt, wo sie selbst im Räderwerk des bürokratischen Mechanismus hängen, die Gefahr dieser Maschinerie merken, die haben, als sie selber das Uhrwerk aufziehen durften, gegen Anarchisten und linke Oppositionelle genau das gleiche getan, was jetzt mit ihnen geschieht. Vorerst ist keiner der oppositionellen Gruppen zu glauben, daß sie etwas andres erstrebt, als den Apparat in die eigenen Finger zu kriegen und andre drin zappeln zu lassen. Man braucht nur die Sektionen der Kommunistischen Internationale im Auslande zu kennen, um zu wissen, mit welcher Leichtigkeit bei jeder neuen Papstwahl die Kleriker ihren Glauben den jeweiligen allerhöchsten Wünschen anpassen können. Wir haben in der deutschen Partei doch hierin schon erstaunliche Dinge erlebt.

Was, möchte man fragen, täte wohl die Kommunistische Partei mit einem Mitgliede, dem es beikäme, heute folgende Meinung auszusprechen: "Vom ersten Augenblick des Sieges an muß sich das Mißtrauen der Masse der Arbeiter nicht mehr gegen die besiegte reaktionäre Partei, sondern gegen ihre bisherigen Bundesgenossen, gegen die Partei richten, die den gemeinsamen Sieg allein exploitieren will!?" - Wahrscheinlich würde ein Mensch mit so perversen Ansichten ausgeschlossen und zu den Renegaten gejagt werden. Übrigens ist der Satz auch schon alt. Er wurde im März 1850 geschrieben, und zwar von Karl Marx, demselben Karl Marx, aus dessen Kommunistischem Manifest jedes Mitglied der KPD die Worte ins Mitgliedsbuch eingedruckt trägt: "Die Kommunisten stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen".

Lacht nicht, Genossen - es ist zum Weinen.

Aus: Fanal, 2. Jahrgang, Nr. 5, Februar 1928. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien (bearbeitet, Oe zu Ö usw.)