Rudolf Rocker - Doktrin und Praxis (1927)

Die Ursache des wachsenden Doktrinarismus in unsren Reihen läßt sich hauptsachlich auf zwei Erscheinungen zurückführen. Wir haben während der letzten zwei Jahrzehnte zu wenig versucht, aus unserem eignen Rahmen herauszukommen. Fortwährende Inzucht wirkt aber auf die Dauer abstumpfend, gibt dem einzelnen wenig Befriedigung und erzeugt fast immer eine gewisse Verbitterung.
 
Außerdem haben sich die meisten von uns zu sehr daran gewöhnt, in der gegenwartigen Form des Anarchismus eine in sich abgeschlossene Ideenentwicklung zu erblicken. Man sieht im kommunistischen Anarchismus vielfach das letzte Glied jener Entwicklung, die vom Mutualismus über den Kollektivismus zu den heutigen Auffassungen führte und bringt allen neuen Versuchen Mißtrauen oder vornehme Überlegenheit entgegen.

Ich stehe nicht an, zu erklären, daß auch ich in der Vereinigung von Kommunismus und Anarchie die günstigste Voraussetzung für freiheitliche Entwicklung der Menschheit erblicke, allein eine solche Ansicht hat immer nur relative Bedeutung, und wir besitzen keine Garantie für ihre Richtigkeit. Jedenfalls haben uns die revolutionären Ereignisse in Rußland, Mitteleuropa, Italien usw, vor eine ganze Anzahl neuer Probleme gestellt, die es sehr zweifelhaft erscheinen lassen, ob sich eine kommende Revolution auch wirklich im Rahmen der praktischen Voraussetzungen abspielen wird, wie sie uns z.B. Kropotkin in seiner "Eroberung des Brotes" geschildert hat. Wenn wir sogar annehmen, daß die allgemeine Entwicklung einem Zustand entgegenführt, wie wir ihn im Kommunistischen Anarchismus voraussehen, so ist das nach allen praktischen Erfahrungen des letzten Jahrzehnts noch lange kein Beweis dafür, daß eine Revolution uns unmittelbar die Verwirklichung des Ideals bringen wird. Wir müssen uns vielmehr darauf gefaßt machen, daß eine ganze Anzahl wirtschaftlicher Formen zunächst neben einander bestehen werden, um ihren praktischen Wert zu erproben. Ich betrachte dies keineswegs als einen Schaden; im Gegenteil, mir scheint, daß dies die einzige Möglichkeit ist, einer wahrhaft freien Entwicklung die Hindernisse aus dem Wege zu räumen.

Ich persönlich bin der Meinung, daß eine Wirtschaftsform wie der Kollektivismus in der Zeit einer revolutionären Umwalzung praktisch näherliegt, als der Kommunismus. Erstens ist der Kommunismus nur unter der Voraussetzung möglich, daß alles im Überfluß vorhanden ist, denn nur so hätte das sogenannte Freie Genußrecht tatsächlichen Wert. Allein die Erfahrung hat gezeigt, daß Revolutionen nicht immer unter so günstigen Voraussetzungen stattfinden. In den meisten Fällen muß man damit rechnen, daß sie ausbrechen, wenn das ganze Wirtschaftsleben von Grund aus zerrüttet und desorganisiert ist, so daß die Versorgung der Gesellschaft mit dem allernotwendigsten erstes Gebot wird. Unter solchen Bedingungen aber kann man von einem Kommunismus in unserem Sinne überhaupt nicht träumen, sondern höchstens von einer stufenweisen Entwicklung in der Richtung zum Kommunismus.

Außerdem dürfte das Motto: "Jeder nach seinen Fähigkeiten" in seiner unmittelbaren und praktischen Ausführung doch nicht so einfach sein, wie die meisten von uns früher glaubten. Das kapitalistische System war nicht dazu angetan, die sozialen und solidarischen Instinkte im Menschen zu entwickeln, sondern hat in allen seinen Erscheinungsformen darauf hingewirkt, diese Gefühle in den Hintergrund zu drängen und praktisch zu lähmen. Das bekannte Sprichwort: "Des einen Brot ist des andern Tod" ist nur der klar empfundene Ausdruck dieses Zustandes. Nun müssen wir aber mit den Menschen rechnen, wie sie sind und wie wir sie aus der alten Gesellschaft übernehmen müssen, und da scheint mir irgendein gemeinschaftlich festzustellendes Wertmaß der persönlichen Arbeit dem allgemeinen Rechstempfinden besser zu entsprechen als das sogenannte Freie Genußrecht. Nach den Erfahrungen der letzten acht bis zehn Jahre müssen wir damit rechnen, daß ein gut Teil Menschen ihre persönlichen Fähigkeiten auf dem Gebiete der Produktion geringer einschätzen würden, als die anderen. Das ergäbe von vornherein Unzuträglichkeiten, die nur allzu leicht neue autoritäre Maßregeln verursachen könnten. Wohin das führen würde, dafür gibt Rußland das beste Beispiel. Das kollektivistische Motto: "Jedem der volle Ertrag seiner Arbeit", dürfte daher in den ersten Phasen einer revolutionären Periode den Bedürfnissen der praktischen Wirklichkeit besser entsprechen, als das Freie Genußrecht des Kommunismus, umsomehr, wenn dadurch keine andere Richtung in ihren praktischen Versuchen gestört würde.

Mutualismus, Kollektivismus oder Kommunismus sind ja nicht Selbstzweck, sondern bloß Mittel zu einem bestimmten Zweck. Sie sollen helfen, das Freiheits- und Solidaritätsgefühl im Menschen in den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens zu verankern, um auf diese Weise ene neue Mentalität zu entwickeln, die jeder autoritären Auffassung schon rein instinktmäßig widerstrebt. Jeder menschliche Fortschritt ist nur dem freien Experiment zu verdanken, was wir besonders auf dem Gebiete der Wissenschaft beobachten können. Ein gewaltsames Hineinpressen der Menschen in bestimmte Formen des gesellschaftlichen Lebens ist immer autoritär und ein Hindernis für jede Entwicklung. Die Voraussetzung eines wahrhaft freiheitlichen Zustandes besteht gerade in der Möglichkeit für jede Richtung, ihre Ideen praktisch durchzuführen und ihre Wirksamkeit zu erproben, solange durch ein solches Experiment andere in ihrer Freiheit nicht gestört werden.

Die großen Ereignisse nach dem Kriege haben bewiesen, daß eine vollständige Zerstörung aller bestehenden Einrichtungen, wie sie den meisten von uns früher vorschwebte, auch nicht so ganz angebracht wäre. So wird es z.B. in der Zeit einer sozialen Umwandlung wahrscheinlich nicht angehen, das Geld- und Banksystem kurzerhand abzuschaffen; es wird sich vielmehr darum handeln, diese Institutionen umzuformen und als vorläufige Mittel des Austausches zu benutzen, um das gesellschaftliche Leben im Fluß zu halten und neue Formen der Wirtschaft vorzubereiten. Es ist bedauerlich, daß sich unsre Literatur während der letzten fünfundzwanzig oder dreißig Jahre viel zu wenig mit den Problemen eines neuen Wirtschaftsleben beschäftigt hat. Außer Kropotkins tiefgründigem Werk "Felder, Fabriken und Werkstätten" gibt es tatsächlich in unsrer ganzen Literatur kein Werk von grundlegender Bedeutung, das sich eingehend mit den Problemen der Wirtschaft beschäftigt und uns neue Perspektiven für die Zukunft eröffnet hätte. Wir haben in jeder Sprache einen Überfluß an Werken, in denen versucht wird, den Begriff der Freiheit rein philosophisch - sehr oft geschieht das in allzu abstrakter Weise - zu begründen, allein die praktischen Voraussetzungen dieser Freiheit, die doch zunächst in den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnissen des Lebens geschaffen werden müssen, wurden bisher allzu stiefmütterlich behandelt. Vergleicht man damit die manchmal geradezu glänzenden Berichte, die von Vertretern des freiheitlichen Flügels auf den nationalen und internationalen Kongressen der ersten Internationale vorgelegt wurden, so muß man zugeben, daß damals für die ungeheuere Wichtigkeit dieser Probleme größeres Verständnis bestand, als in der nachfolgenden Periode. Erst heute, nach den eindringlichen Erfahrungen, die wir während des Krieges und nachher gemacht haben, fängt man wieder langsam an, diesen Fragen Verständnis entgegenzubringen, aber noch lange nicht in dem Maße, wie sie es verdienen.

Man sage nicht, daß die alten Begründer des allgemeinen Sozialismus, die Saint Simon, Fourier, Owen, Proudhon usw., auf deren Untersuchungen sich auch die Anarchisten stützen, die wirtschaftlichen Fragen bereits so eingehend geprüft und erschöpfend behandelt hätten, daß man ihren Ideen auf diesem Gebiete wenig hinzufügen könne. Erstens hat die gewaltige Entwicklung der modernen Industrie eine ganze Anzahl neuer Probleme geschaffen, die man früher gar nicht voraussehen konnte und die sogar nichts an ihrer Bedeutung verlieren, wenn wir den übertriebenen und einseitigen Industrialismus für eine vorübergehende Erscheinung in der gesellschaftlichen Entwicklung halten; und zweitens sind die Ideen jener Männer den heutigen Anarchisten fast vollständig fremd geworden. Dies gilt nicht bloß für Fourier, Owen, Thompson etc., sondern sogar für Proudhon, den bedeutendsten Vorkämpfer des Anarchismus, dessen Werke der großen Mehrheit der Anarchisten kaum noch oberflächlich bekannt sind. Und doch, wie viel enthalten die Schriften dieser Männer, was bis heute seinen Wert nicht verloren hat! Wie wunderbar könnte gerade heute Fouriers Theorie von der attraktiven Arbeit dem Fordismus und Taylorismus entgegenwirken, die auch unsre Staatssozialisten vollständig fasziniert haben! Und welche glänzende Rüstkammer gegen den modernen Nationalismus hat Proudhon geschaffen, wovon die meisten von uns nichts mehr wissen.

Es genügt nicht, dem Menschen zu sagen: "Sei frei!", man muß auch die praktischen Mittel und Wege angeben, wie er die Freiheit erringen und in den veränderten Umständen eines neuen gesellschaftlichen Lebens sichern kann. Gerade hier haben die autoritären Richtungen und Parteien des Sozialismus einen großen Vorteil vor uns voraus. Bei der Staatsgläubigkeit der breiten Massen fällt es ihnen nicht schwer, die Menschen davon zu überzeugen, daß alle diese Fragen nur durch eine entsprechende Regierung gelöst werden könnten, einerlei, ob diese Richtung sich nun als "Diktatur des Proletariats" oder als demokratischer Verfassungsstaat manifestiert. Da sich die Menschen einmal daran gewöhnt haben, im Staate die irdische Vorsehung zu erblicken, so erscheint ihnen diese Lösung als die einfachste und natürlichste. Daher ist es doppelt und dreifach notwendig, den Menschen praktische Mittel und Wege zu zeigen, die ihnen die Möglichkeiten freien Menschentums vor Augen führen. Jeder von uns, der mitten in der praktischen Propaganda steht, weiß, daß gerade die denkenden und strebsamen Elemente immer wieder mit solchen Fragen an uns herantreten. Diejenigen, die ein gewöhnliches politisches Schlagwort zufriedenstellen kann, kommen für konstruktive und schöpferische Arbeit wenig in Betracht; auf die geistig regsamen und denkenden Menschen, die sich in allen Dingen ein versönliches und kritisches Urteil bewahren, kommt es an.

Nicht zuletzt diese Erwägung hat Pelloutier, Pouget und viele andere aktive Anarchisten dazu bewogen, ihre vornehmste Tätigkeit der syndikalistischen Bewegung zu schenken oder diese Bewegung erst mit begründen zu helfen. Die Erkenntnis, daß die gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter am besten geeignet sind, eine Reorganisation der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage vorzubereiten und praktisch in die Wege zu leiten, hat diese Männer veranlaßt, ihre Ideen in den wirtschaftlichen Kampforganisationen der Arbeiterschaft zur Geltung zu bringen und ihnen ihre Aufgabe als konstruktive Organe einer freien Gesellschaft von Augen zu führen, sie in der syndikalistischen Bewegung immer tiefer einzuwurzeln und zu einem ihrer Grundprinzipien zu machen.
 
Aber mit dieset Erkenntnis ist nicht alles getan, man muß auch darauf hinwirken, daß sie lebendige Taten auslöst. Es ist nicht genug, zu erklären, daß die gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter die Aufgabe haben, die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Produkte in ihre eignen Hände zu nehmen, es ist auch notwendig, ihnen diese große Aufgabe praktisch näher zu bringen.

Aus: Fanal, 2. Jahrgang, Nr. 2, November 1927. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien (bearbeitet, Oe zu Ö usw.)