Camillo Berneri - Der Krieg als kollektives Verbrechen

A. Hamon sagt in seiner Psychologie du militaire professionel: "Ich behaupte nicht im geringsten, daß der Militarismus keine Schule der Courage sei, doch die Courage, die er hervorruft, ist mit Gewalt und Brutalität verseucht". Was Hamon da behauptet, ist unbestreitbar. Dem können auch erklärte Nichtpazifisten beipflichten. Im Gespräch mit Vereschagin erklärten diesem der sächsische Fürst Georg und der preußische Kronprinz Friedrich Karl, wozu einen die kriegerische Moral anhält: "Nimm und stiehl, soviel du kannst, gebrauch Listen und leg Hinterhalte, und je mehr du umbringst, desto größer wird dein Verdienst sein"[1].

Jener Gutsknecht in Frankreich, der aus Eigennutz drei Menschen ermordet hatte, rief, als er zum Tode verurteilt wurde, aus: "Es ist doch eigenartig! In Tonking hab ich wer-weiß-wieviele umgebracht, und da wollten sie mir eine Medaille umhängen. Hier hab ich nur drei auf dem Gewissen, und jetzt wollen sie mich gleich um einen Kopf kürzer machen"[2]. Mit seiner zynischen boutade erfaßt er recht gut die kriegerische Moral Dieser Verbrecher war ein hervorragender Soldat. Im Krieg sind Verbrecher fast immer gute Soldaten. Gilt es jemand abzuschlachten? Sie sind bereit. Sind sie verwundet? Auch wenn sie schwer verwundet sind, ihre Wunden heilen meist sehr schnell. Es kommen gewaltige Strapazen auf sie zu? Sie können Anstrengungen und Entbehrungen durchaus ertragen. Der Krieg wird lang andauern? Sie werden kaum durch nostalgische Gefühle beeinträchtigt sein. Von Ehrgeiz, niedrigen Instinkten und perversen Vorlieben geleitet, sind sie die wahren amateurs des Krieges. Das läßt sich besonders gut an den kolonialen Unternehmungen beobachten.

Vehlan, Befehlshaber der Bakokoexpedition, ließ Dörfer niederbrennen und die Gefangenen, ob Alte, Frauen oder Kinder schlagen und foltern. "Die Soldaten, vor allem einer von ihnen, hatten eine wunderbare Methode, den Feinden die Haut abzuziehen", erzählte Vehlan bei Tisch. "Ein Schnitt mit dem Messer am Unterkiefer, darauf ein starker Ruck mit den Zähnen und schon hatte sich die Haut vom Gesicht gelöst...[3]"

Nach der Einnahme von Bossè, auf dem Rückmarsch nach Djenne, benutzten die Soldaten als lebendigen Köder für die Raubtiere ein zehnjähriges Mädchen, das sie, um es zum Schreien zu bringen, auf einem Ameisenhaufen festbanden. Von den Ameisen angefressen, starb das Kind auf dem Haufen. Nach der Eroberung von Bossè kauften und verkauften sich die Soldaten, unter anderem, die Kinder gegenseitig als Einsatz beim Kartenspielen. Von seiner Rednertribüne herab prangerte der Senator Gaudin de Villaire ein vom Kommandanten Gèrard angeordnetes Massaker an 2.500 schutzlosen Eingeboren bei Ambike an. Das Gemetzel hatte offenbar so monströse Ausmaße angenommen, daß dessen Schilderung im Senat Ausrufe des Entsetzens hergerufen hat.

Wegen fünf getöteter Soldaten der anglo-französischen Streitmacht fiel Peking 1860 einer der verheerendsten Plünderungen anheim, die die Geschichte je gekannt hat. 3.000 Chinesen wurden dabei umgebracht. Gut 5.000 wehr- und waffenlose Chinesen wurden 1901 bei Blagonstchensk von den Truppen des Generals Cribsky in den Amur getrieben. In Tsien-Tsin vergnügten sich die Russen damit, Säuglinge in die Luft zu schleudern und mit ihren Bajonetten aufzufangen. In Grimari (Cubagni-Chari) bezahlte 1912 ein französischer Kapitän den senegalesischen Schützen am Jahresende als Nachweis für getötete Rebellen für jedes abgelieferte Hodenpaar 1.fr.50.

Nicht weniger barbarisch waren die Kolonialunternehmungen der Italiener. Die lybische Unternehmung wurde auf eine äußerst grausame Weise durchgeführt. Die ausländischen Berichterstatter waren angewidert. Mac Cullagh von der New York World sandte seinen Korrispondentenausweis an General Caneva zurück. Auf Dementis von Giolitti antwortete die Agentur Reuter mit Augenzeugenberichten englischer, deutscher und amerikanischer Journalisten. Grant vom Daily Mirror erwiderte: "Vier Tage lang haben Soldatentrupps jeden Abschnitt der Oase gesäubert und die Araber unterschiedslos getötet. Der Befehl des Generals Caneva hieß Ausrottung".

Die Veröffentlichungen im Ausland wurden durch italienische Berichte weitestgehend bestätigt. Unter der Überschrift „Auf der Jagd“ veröffentlichte L'Eco di Bergamo am 13./14. November 1911 den Brief eines Soldaten aus Tripolis, am 5. November eingeschickt, in dem zu lesen war: "Die Araber-Türken unter unserem Kanonenbeschuß in die Luft fliegen zu sehen, hat uns wahrhafte Befriedigung verschafft. Hier ist es wie auf der Jagd und nicht wie im Krieg, und ein Feind wird hier so einfach getötet wie man eine Mücke zerquetscht".

Durch die von oben kommenden Befehle werden die bestialischen Instinkte, von denen die Schreiber solcher Briefe künden, noch verstärkt. Gerade davon berichtet der Brief eines Soldaten, den Giornale, eine weitere Zeitung aus Bergamo am 11. November 1911 veröffentlicht hat: "Gestern kam Befehl vom General, alle verdächtigen Häuser, bei denen man annimmt, daß sie unterkellert sind, in die Luft zu sprengen. Und wirklich haben wir etliche Häuser gesprengt. In einem davon fand sich ein geräumiger Keller, indem wir fünfzehn zivil gekleidete türkische Offiziere vorfanden. Beim Durchsuchen der Häuser fanden wir Gewehre, Pistolen, Patronen und Dolche. Vom 23. bis zum 30. haben wir über 500 Araber getötet. Wir banden ihnen Hände und Füße, warfen alle auf einen Haufen und eine Kompanie feuerte ihre Gewehre darauf ab. Manche, die sich weigerten aus ihren Häusern herauszukommen, brachten wir an Ort und Stelle um. Ich habe einen getötet, der gerade dabei war, Datteln vom Baum zu pflücken. Ich habe ihm einen Schuß verpaßt, der ihn am Magen erwischt hat. Er ist wie ein Vogel heruntergefallen".

In anderen Briefen ist von Erschießungen Verwundeter die Rede, die unter den Augen, ja geradezu auf ausdrücklichen Befehl der Offiziere hin erfolgt sind. Kennzeichnend für diese Feldpost, in der sich u.a. Grausamkeit und Habgier spiegeln, ist der Plural. Der Soldat wird im Krieg wieder in den Urzustand versetzt. Wie einer, der noch nie einem Huhn den Hals umgedreht hat, dahin kommt, wehrlose Gefangene abzuschlachten, so plündert der andere, der im Zivilleben dem Händler sofort das zuviel herausgegebene Wechselgeld zurückerstattet, bedenkenlos Bauernhöfe, Kirchen und Lagerhäuser. Wer schon einmal beim Militär war, weiß wieviel Wahres an der Feststellung Voltaires ist: "Diebe und Soldaten sind miteinander verwandt". Die Militärgeschichte berichtet von vielen Plünderungen. Vom Römerheer bis zu den jüngsten Söldnertruppen war die Kriegsbeute schon immer eine Entschädigung und der beste Anreiz für die Milizen. In den heutigen Kolonialkriegen feiert das System der Kriegsbeute wieder Urstände. So nahm beispielsweise das französische Marineministerium im Januar 1892 eine Verteilung der Beute aus dem Tonkingfeldzug vor, der vom April 1882 bis zum Oktober 1884 gedauert hat.

Es hat keinen Sinn alle Plünderungen durch Militärs dokumentieren zu wollen. Man könnte leicht hundert Bände damit füllen. Herausragend die Plünderung des Sommerpalastes in Peking [4]. Die Plünderungen im Balkankrieg, sowie die im europäischen Krieg (der sog. 1.Weltkrieg; Anm. d. Ü.), zeigen nur, daß alle Invasionstruppen auf Diebstahl aus sind. Bei ihrer Invasion französischen Bodens 1870 sowie 1914 beim Einmarsch in Belgien haben sich die Deutschen einen Ruf als Plünderer verschafft. In Wahrheit haben sich die Russen ihrerseits in Ostpreußen nicht viel anders aufgeführt, ebenso die Italiener auf deutschem und slowenischem Gebiet und sogar innerhalb Italiens, während des Rückzugs ihrer Armee nach der Niederlage von Caporetto.

Sobald ein Heer in einen Großteil des feindlichen Territoriums eingedrungen ist, besudelt es sich mehr als jedes andere mit verbrecherischen Übergriffen. Dies gilt ganz besonders für die Vergewaltigung von Frauen, jenen Frevel, der den meisten Schrecken sät und den größten Haß hervorruft. Während des Krieges stellten die tendenziösen Zeitungen die "boches" als eine Horde von Affen dar, wo doch noch in allen Kriegen, in denen ein feindliches Territorium militärisch besetzt worden ist, Notzucht und Vergewaltigung an der Tagesordnung gewesen sind.

Im Krieg unterliegt der Soldat besonderen orgiastischen Zuständen, die sein sexuelles Verlangen fördern und reizen und zugleich das moralische Empfinden lockern und seine Hemmschwelle senken. Das erotische Ungestüm des Kämpfers wird immer über jedes Mitgefühl, über jede Ritterlichkeit den Sieg davontragen, ob in den Kreuzzügen, bei denen die Frauen von Jerusalem geschändet wurden, oder bei dem englischen Soldaten, der die Frauen in Transvaal vergewaltigt, im deutschen Soldaten, der die französischen und belgischen Frauen schändet, ebenso wie im russischen Soldaten, der den preußischen und polnischen Frauen dasselbe antut. Erklärt sich auch eine bestimmte Anzahl dieser Vergehen, gerade die besonders abscheulichen, aus der Anwesenheit krimineller und entarteter Elemente in der Truppe und aus deren vollständigen Aktionsfreiheit innerhalb derselben, so legt doch der Großteil dieser Vorkommnisse für ein kollektiv begangenes Verbrechen Zeugnis ab.

Bei der fortwährenden Enthaltsamkeit führt das sexuelle Verlangen zu einem körperlichen Zustand, der den gesitteten Menschen auf die Triebhaftigkeit des Primitiven zurückwirft. Vor etlichen Jahren ließ der Gouverneur einer ausschließlich von Männern bewohnten Pazifikinsel ein mit Frauen beladenes Frachtschiff kommen. Bei der Ausschiffung wiederholte sich die Szene vom Raub der Sabinerinnen: die Frauen wurden von den tollwütigen Männern so stürmisch angefallen, daß manche von ihnen übel zugerichtet, verwundet und sogar getötet worden sind.

Bei den besonders schweren Vergewaltigungsfällen, die wegen des fast immer sehr jugendlichen Alters der Opfer das gewöhnliche Entsetzen noch bei weitem übertreffen, ließe sich annehmen, daß sie von nur einem Täter begangen worden sind. Dagegen sind diese Verbrechen zumeist kollektiver Natur. Etliche Offiziere und Kosaken der Denikinarmee begaben sich jeden Abend unter die jüdische Bevölkerung, um dort Mädchen und sogar Kleinkinder herauszusuchen, die sie dann vor den Augen der Mütter vergewaltigten! 1918 wurde die 18jährige Jüdin Brila Beirerhs in Iroskouroff von 15 Soldaten Petljuras genausooft vergewaltigt! Im Januar 1919 verging sich ein rumänischer Offizier in Britchany (Bessarabien) an der 14jährigen Reizen; noch in der gleichen Nacht wurde das Kind von mehreren Unteroffizieren weiter mißbraucht, so daß das Opfer am nächsten Tag verstarb.

Der pangermanische Dichter Hureman besingt in seinem Gesang der Sieger : "Eure Stadt, mit dem Gold, dem Purpur, den Weingefäßen, den schönen Betten und Frauen ist unserem Hunger anheimgegeben. Eure sanften Jungfrauen werden wir in unseren starken Armen erniedrigen. Wie Welpen werden wir eure Brut auf den Marmorboden der entweihten Frauengemächer schlagen. Mit Feuer werden wir den Mutterschoß ausbrennen und in der brandgeschwärzten Wunde wird kein Samen überdauern".

Gemetzel, Plünderungen, Vergewaltigungen, darin besteht der Krieg! Um seiner Lust zu genügen, faßt der Niederträchtige den Mut, der ihm ansonsten abgeht, wenn er seinen Nächsten aus einer Gefahr erretten oder ein mit Schmerzen verbundenes und gefährliches Unterfangen beginnen soll. In der rauch- und blutgeschwängerten Atmosphäre des Krieges fällt der Durchschnittsmensch in die Barbarei zurück, und manchmal wird er darin sogar zum Wilden.

Anmerkungen:
[1] Revues de Revues, Okt. 1893.
[2] Hermitte, La guerre, Bordeaux, 1893.
[3] Hamon, Psychologie du militaire, S.XXXI
[4] P. Branda, Mers de Chine, Paris 1872.

Zuerst in "Germinal", Chicago, n. 16 vom 1.9.1928 und in "L'Adunata dei Refrattari", New York, n.47 vom 9.12.1939 Übersetzung aus der Artikelsammlung "Gli eroi guerreschi come grandi criminali" der Edizioni Archivio Famiglia Berneri, Pistoia mit freundlicher Genehmigung von Fiamma Chessa. Erschienen in DIE AKTION 170/174, Juli 1997.

Originaltext:
http://userpage.fu-berlin.de/~twokmi/texte/der_krieg_als_kollektives_.htm