Erich Mühsam - Im Geiste Bakunins

Die Zeitungsschreiber links und rechts des nationalen Begeisterungspfeilers haben den hundertsten Geburtstag Michael Bakunins entweder garnicht registriert, oder sind darüber mit jener überlegenen Handbewegung hinweggegangen, die bedeutet: hier habt ihr auch die Lebensdaten dieses Mannes, wenngleich es nicht eben nötig ist, ihn zu kennen. Die Abonnenten erfuhren dann, daß es sich um ein Mitglied des russischen Hochadels handelte, das um die Mitte des vorigen Jahrhunderts nach Westeuropa kam, Revolutionär wurde, nach Rußland zurückkehrte und verurteilt nach Sibirien mußte, von dort floh, und dann Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre beim Entstehen der modernen Arbeiterbewegung die bald vergessene Rolle des anarchistischen Widersachers Marxens und seiner Palladine spielte. Die sogenannten „bürgerlichen“ Blätter hatten gewiß wenig Ursache, den Lesern, die mit Hofklatsch und Detektivkniffen unterhalten sein wollen, mehr vom Leben und Wirken des heißesten Rebellengeistes zu erzählen. Die Sozialdemokraten aber taten wohl daran, rasch über einen Gedenktag wegzugehen, der mit der Erinnerung an die Schicksale eines großen Mannes das Gedächnis eines traurigen Kapitels menschlicher Niederträchtigkeit wecken mußte. Einer Niederträchtigkeit, deren schmutzige Flecken kein parteifrommer Reinigungsversuch je aus dem Charakterbild des Massenheiligen Karl Marx wird fortwaschen können.

Dies ist nicht die Stunde und hier nicht der Platz, um die ganze Jauche der Verleumdungen, Verdächtigungen, Lügen und Denunziationen, die Marx über den besten und reinsten Menschen goß, noch einmal aufzuwühlen. Man lese darüber das ausgezeichnete Buch „Marx und Bakunin“ von Fritz Brupbacher, das hier (vgl. die Notiz über James Guillaume, Kain III, 11), schon einmal genannt wurde und das originellerweise im Münchener sozialdemokratischen Parteiverlage (G. Birk u. Co.) erschienen ist. Der Verfasser hat sein Werk mit dem Ausschluß aus der sozialdemokratischen Partei bezahlen müssen. Hier mag nur daran erinnert werden, daß die Infamie, Anarchisten als Spitzel zu verdächtigen, seither bei den Sozialdemokraten ekler Brauch geblieben ist. Davon können wir alle ein Lied singen, die wir die Arbeiter auffordern, sich auf die eigene Kraft zu verlassen, statt von Staatsgesetzen und Wählereien Erfolge zu erhoffen. Denn Marx war in allen Dingen ein tüchtiger Lehrmeister und die Skrupellosigkeit in der Bekämpfung solcher Gegner, deren Gründe schwer zu widerlegen sind, hat Dühring von Engels, haben manche andere von Liebknecht und vielen Parteigrößen noch erfahren müssen. Manche Leser denken vielleicht auch noch daran, wie ich selbst im Jahre 1907, als die Münchener Sozialdemokratie Arm in Arm mit dem Zentrum, Herr von Vollmar Ann in Arm mit dem neuen Kardinal Bettinger, in den Kampf zog, mich von der „Münchener Post“ als Lockspitzel und Bestochenen der Liberalen besudeln lassen mußte und wie damals Ritter Georg selbst in einer Versammlung die Vermutung aussprach, ich sei aus unsauberen Quellen gespeist.

Die so lästern und verleumden, sind also nur Plagiatoren ihres Altmeisters Marx. Wir aber, die die Opfer ihrer bornierten Gemeinheit sind, wollen uns dabei gern als Nachfolger Michael Bakunins fühlen, in dem Bewußtsein, wieviel größer und schöner dieser unbestechliche freie Geist vor der Geschichte dasteht als seine diplomatisch rechnenden, mit gedungenen Kreaturen gegen ihn intriguierenden Feinde.

Zugleich wollen wir das Bekenntnis ablegen zu seinen Lehren, die unser Streben geworden sind. Wir wollen Anarchisten sein. Das heißt: Menschen von gradem Geist, freie Persönlichkeiten mit dem Mute zur Wahrheit und dem Willen zur Freiheit. Wir wollen kämpfen gegen die Mächte der Unterdrückung und der Ausbeutung, nicht, indem wir uns mit ihnen vereinigen, um alte Staatsdekrete durch neue zu ersetzen, sondern um die Verbündungen und Gesetze der Menschen aus dem natürlichen Recht unseres Lebens herauswachsen zu lassen. Wir wollen kämpfen gegen Zwang und Autorität, nicht um uns selbst zu autoritativen Machthabern zu erheben, sondern um Ordnung zu schaffen, die auf Gerechtigkeit und Freiwilligkeit beruht. Wir wollen anrennen gegen die Bollwerke der bestehenden Gewalten, gegen Kapital und Militär, gegen Staat und Kirche. Und nicht mit Stimmzetteln und demagogischem Paktieren wollen wir fechten, sondern mit der Leidenschaft überzeugter Herzen, die nicht um Teilzahlungen bittet, die alles auf sich selbst nimmt und auf ihr Wissen um das, was recht ist.

Inbrünstig warten und hoffen aber wollen wir auf den kommenden Tag, auf den Tag der Erneuerung und der Revolution. Und um ihn herbeizuführen und ihm die Wege zu ebnen, wollen wir im Volke Unzufriedenheit säen und Verzweiflung predigen. Wir wollen wühlen und hetzen, schüren und untergraben, damit das Volk endlich erkenne, daß es gehundsfottet und genasführt wird, und damit es endlich beginne, den Unterbau einer sozialistischen Gesellschaft zu errichten, vor dessen drängender Kraft Kapital und Staat zusammenstürzen muß. Auseinanderreißen aber wollen wir die Gefüge des Glaubens an eine Vorsehung und des Vertrauens auf die Weisheit der Regierenden, um Raum zu schaffen für freien Atem und eigene Zuversicht. Michael Bakunin hat es uns gelehrt, daß alles Destruieren ein Aufbauen des Besseren schon in sich schließt, oder um dasselbe mit seinen eigenen Worten zu sagen:

Die Lust am Zerstören ist eine schaffende Lust!

Aus: Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit, 4. Jahrgang, Nr. 3/1914. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.