Augustin Souchy - Erich Mühsam zum 40. Todestag

Am 10. Juli 1934 starb Erich Mühsam im Konzentrationslager zu Oranienburg bei Berlin eines gewaltsamen Todes. Wer war Erich Mühsam,warum hat man ihn umgebracht? Diese Frage wurde mir neulich von einem argentinischen Freunde gestellt. Die Antwort hierauf gibt uns Gelegenheit zur Würdigung eines Menschen,dessen Leben hohen Zielen gewidmet war.

Am 6.April 1878 wurde dem Apothekerehepaar Mühsam ein Kind geboren, das den Namen Erich erhielt.Mit knapp siebzehn hat man Erich aus dem Katharineum in Lübeck relegiert,weil er eine supernationalistische Rede des Rektors in einem Lokalblatt kritisiert hatte. Der junge Nonkonformist beendet seine humanistische Ausbildung in einer norddeutschen Provinzstadt. Um die Jahrhundertwende ist er in Berlin als Dichter und Bohemien bekannt. Durch Kontakt mit dem acht Jahre älteren Gustav Landauer wird der junge Mühsam freiheitlicher Sozialist.Von der literarischen Persiflage zur konkreten Sozialkritik war ein kleiner Schritt. In München eine Toppfigur der Schwabinger Boheme, gibt Erich Mühsam seit 1911 die Revue Kain, eine "Monatsschrift für Menschlichkeit" heraus, in der er nur von ihm selbst geschriebene Beiträge in Prosa und Poesie über soziale und kulturelle Themen veröffentlichte. Während des I. Weltkrieges schiebt die bayerische Regierung den unbequemen Antimilitaristen aus der Landeshauptstadt in die Provinzstadt Traunstein ab. Nach Sturz der Monarchie (7. November 1918) zurück in München, steht Mühsam unter den Agitoren und Organisatoren der Revolution an vorderster Stelle. Bei Ausrufung der bayerischen Räterepublik (7. April 1919) wählt man ihn und Landauer in den Rat der Volkskommissare. Eine Woche später werden die Volkskommissare verhaftet und ins Gefängnis geworfen, mit Ausnahme Gustav Landauers, der durch einen Zufall der Festnahme entgangen war, am l. Mai aber von aufgehetzten Soldaten buchstäblich zu Tode getrampelt wurde. Mühsam wird zu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Ende Dezember 1924 wurde Erich Mühsam nach 5 Jahren und 9 Monaten Haft amnestiert. Es war ein trüber Januartag 1925 als wir ihn in Berlin erwarteten. Eine Gruppe seiner Verehrer trägt ihn auf den Schultern aus der Bahnhofshalle hinaus auf den askanischen Platz, wo Tausende den populären Revolutionär jubelnd empfangen.

Getreu seiner sich selbst gestellten Mission nimmt der gereifte und trotz erlittener Rückschläge optimistisch gebliebene Freiheitskämpfer seine politische Aufklärertätigkeit in einer völlig veränderten Situation wieder auf. Unter Hintansetzung materieller Interessen bemüht er sich um die Freigabe politischer Häftlinge, geht auf Vortragstournees, schreibt sozialkritische Aufsätze und inspirierende Gedichte, gibt die anarchistische Monatsschrift "FANAL" heraus, konzipiert das Drama Staatsräson, in welchem das tragische Ende von Sacco und Vanzetti auf der Bühne dargestellt wird und veröffentlicht nebenbei unpolitische Essays, womit er seinen bescheidenen Lebensunterhalt bestreitet. Die Fünfzig überschritten, war der Freiheitsprediger und Volkstribun aktiver denn eh und je.  In seiner Schrift "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat" stellt er klar heraus, "dass es für den schaffenden Menschen ohne Bedeutung ist,ob seine Leistung einer Aktiengesellschaft zugute kommt oder aber der Staat seinen Arbeitsertrag einzieht". Das ist eine deutliche Absage nicht nur an den Privatkapitalismus, sondern auch an den in der Camouflage des Sozialismus oder des Kommunismus auftretenden Staatskapitalismus. Gegner der zentralisierten Rätemacht und der diktatorischen Räteregierung. setzt sich Mühsam für das Räterecht in einem freien und föderalistischen Rätesystem ein.

Eine solche Freiheitslehre war den erzautoritären Nationalsozialisten nicht weniger verhaßt als der Staatskommunismus. Im Dezember 1932 beschuldigt das Hitlerorgan "Der Angriff", Berlin, "den jüdischen Marxisten Mühsam", 1919 als Volkskommissar der bayerischen Räterepublik in München die Erschießung von 22 Geiseln veranlaßt zu haben. Der Hinweis, daß Mühsam 12 Tage vor der Geiselerschießung verhaftet worden und in einem nordbayerischen Gefängnis inhaftiert war, wird unterschlagen. Die Verleumdung wird in der Nazipresse des ganzen Landes mit Veröffentlichung seines Bildes kolportiert. Damit setzt eine systematische Hetze gegen Mühsam ein.

Am Abend des 27. Februar 1933 hatte mich Erich Mühsam in meiner Wohnung, Berlin-Wilmersdorf, Augustastr. 62, besucht. Es mochte 10 Uhr nachts gewesen sein, als wir im Rundfunk die Nachricht vom Reichstagsbrand hörten. Wir hatten eine ominöse Vorahnung des Kommenden. Ich riet Erich, bei mir zu bleiben. Der eine Treppe unter mir wohnende, der Sozialdemokratie nahestehenden Polizeiwachtmeister Stappenbeck hatte mir versprochen, mich rechtzeitig zu warnen. Die Abholexpedition der Nazischläger wurden einen Tag vorher dem zuständigen Polizeirevier mitgeteilt und unter Begleitung eines uniformierten Schutzmannes vorgenommen, da offiziell die Nazis noch nicht an der Macht waren. Diese Nacht waren wir noch sicher. Erich lehnte ab, denn er hatte vor, nächsten Morgen nach Prag abzureisen und mußte sich für die Reise vorbereiten. Er ahnte nicht, daß die Gefahr für ihn so imminent war. Um 5 Uhr morgens, eine Stunde vor seiner geplanten Abreise, wurde er abgeholt. Damit brach das Verhängnis über ihn herein.

Über Mühsams 500 Tage Leiden und Qualen liegen übereinstimmende Berichte seiner Mitgefangenen vor. Im ersten Lager zu Sonnenburg wurde der fragile, kurzsichtige Häftling zu den schwersten Arbeiten abkommandiert, verhöhnt, beschimpft, geohrfeigt und mit Fußtritten traktiert. "Einmal wurde er in meiner Gegenwart so jämmerlich zusammengeschlagen", erzählte einer seiner Kumpels, "daß er bewußtlos zusammenbrach. Wir wollten ihn auf sein Lager tragen, wurden aber daran gehindert. Seine Schinder begossen ihn mit einem Eimer kalten Wassers, um ihn ins Bewußtsein zurückzubringen. Bei jeder Wachablösung wurde er auf dem Flur mit Ohrfeigen mißhandelt. Seine Augen waren angeschwollen, durch die dauernden Ohrfeigen hatte er fast völlig das Gehör verloren. Eines Tages wurde ihm eröffnet, man werde ihn erschießen und er solle auf dem Hof sein eigenes Grab schaufeln. Er nahm den Spaten, schlug einem seiner Henker damit an die Beine, öffnete sein Hemd und schrie: "Hier stehe ich, schießt mich tot, ihr Hunde. Mein eigenes Grab werde ich nicht graben". Die Büttel führten das grausame Spiel nicht zu Ende".

Im Zuchthaus zu Brandenburg, wohin er nach Auflösung des Sonnenburger Lagers versetzt worden war, ging es ihm nicht besser. Einer seiner dortigen Zellengenossen berichtete: "Von allen Gefangenen wurde Mühsam am meisten gequält. Am späten Abend des 24. Oktober 1933 hatte man ihn so furchtbar zugerichtet, daß aus seinem geschwollenen Ohr eine große Eiterblase heraushing. Das Gehör hatte er auf diesem Ohr gänzlich verloren. Seine Augen waren rot unterlaufen und blutig. Man brach ihm beide Daumen, damit er nicht an seine Frau schreiben konnte".

Mühsams drittes und letztes Lager war Oranienburg. Wie schlimm es ihm dort ging, darüber schrieb ein Augenzeuge, der fünf Tage nach Mühsams Tod entlassene Deutsch-Engländer John Stone in der Kopenhagener Zeitung "Extrabladet": "Mühsam wurde täglich in die Zelle 16 beordert, wo man ihn grausam mißhandelte. Am Nachmittag, den 9. Juli (1934), wurde er zum Lagerkommandanten gerufen. Als er zurückkam, erzählte er uns: 'Die wollen, daß ich mich selbst erhänge, aber diesen Gefallen werde ich ihnen nicht tun', Abends um 9 Uhr wurde er rausgerufen. Entgegen allen Regeln wurde uns verboten, in die im Hof liegenden Aborte zu gehen. Nächsten Morgen wußten wir den Grund. Draußen im Abort fanden wir die furchtbar zugerichtete Leiche Mühsams an einem um einen Balken geschlagenen Strick. Sein Körper hing mit den Beinen ins Abtrittloch. Der Strick war mit einem Seemannsknoten festgemacht, den der in diesen Dingen unerfahrene Mühsam niemals hätte fertigbringen können. Der Leichnam trug Spuren von frischen Mißhandlungen. Er war zu Tode geprügelt und dann aufgehängt worden."

Das war das traurige Ende des Freiheitskämpfers Erich Mühsam. In seinem schwachen Körper lebte ein starker Geist, den keine Qualen haben brechen können. "Und ob sie mich erschlügen, sich biegen, heißt lügen" war sein selbst verfaßtes Motto. Als man ihn zwingen wollte, das nationalistische Horst-Wessel-Lied zu singen, stimmte er aus voller Kehle die "Internationale" an. Wie innig dem starken Kampfwillen seine zarte Dichterseele vermählt war, davon zeugt sein Erlösungsgedicht:

Ich weiß von allem Leid, fühl' alle Scham
und möchte helfen aller Kreatur.
Der Liebe such ich aus dem Haß die Spur,
dem Menschenglück den Weg aus Not und Gram.
Den Trostbedürftigen geb ich Wort und Rat,
den Hilfsbedürftigen reich ich meine Hand.
Doch keiner war noch, der mein Wort verstand,
und keiner, der die Hand ergriffen hat.
Ich weiß vom Leide nur, fühl' nur die Scham
und kann doch selber nicht Erlöser sein,
wie jener Jesus, der die ganze Pein der Welt
auf seine schwachen Schultern nahm.

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„Dass ich - aus ähnlichen Gründen wie der Anarchist Tolstoj - die aggressive Gewalt im Prinzip verwerfe, berechtigt niemanden, meinen Charakter als Anarchist in irgend einer Form anzuzweifeln, umsoweniger als meine Ablehnung der Gewalt engstens in meiner anarchistischen Gesinnung begründet ist und von der grossen Mehrheit meiner anarchistischen Genossen durchaus gutgeheissen wird.“

So Erich Mühsam in seiner Zeitschrift:  "KAIN" - Zeitschrift für Menschlichkeit – Jahrg. II Nr. l. München, April 1912

Aus: Zeitgeist Nr. 28/29, 1974, 16. Jg. Digitalisiert von www.anarchismus.at