Erich Mühsam - Seit sieben Jahren im Zuchthaus (1926)

Die Amnestien der deutschen Republik sind samt und sonders unter dem Gesichtspunkt erlassen worden, der Rachsucht der Reaktion mit ihnen nicht weh zu tun. Die Kapp-Amnestie 1920 und die Rathenau-Amnestie 1922 mußten auf Verlangen Bayerns auf Vergehen gegen das Reich beschränkt bleiben, und die Ausnahmen von ihren Anwendungsfällen waren so zahlreich, daß sie den besten Genossen nicht zugute kamen. Die Hindenburg-Amnestie endlich vom vorigen Jahre war eine der gehässigsten Scheinaktionen der Bourgeoisie, die die Geschichte kennt. Immerhin wäre der mit allen diesen „Gnaden“-Akten dem Proletariat angetane Schimpf nicht so skandalös ausgefallen, wenn nicht regelmäßig, wenn eine Reichsregierung die Notwendigkeit einsah, der Arbeiterklasse eine Beruhigungspille gegen ihre Empörung über die Straffreiheit aller Mord- und Kapitalverbrechen der Nationalisten einzugeben, die bayrische Reaktion mit Staatskonflikten gedroht hätte.

In Bayern regiert seit dem Kahr-Möhl-Putsch vom März 1920 die sogenannte Bayerische „Volks“partei. Das ist eine vom Zentrum abgespaltene, angeblich föderalistische, in Wirklichkeit separatistische klerikal-monarchistische stockreaktionäre weißblaue Abart der schwarzweißroten Ostelbier. Den derzeitigen bayerischen Staat und die Bayerische Volkspartei darf man getrost gleichsetzen; als Ministerpräsident fungiert der Vorsitzende der Partei, und die beiden in der Regierung beschäftigten deutschnationalen Minister finden nirgends die Möglichkeit, die dominierenden Kollegen an Volksfeindlichkeit zu übertreffen. Es gibt keine kirchlich-frömmere Regierung als die bayerische. Nirgends werden Gott, Christentum und Katholizismus von Amts wegen emsiger bemüht als in Bayern; nirgends ist das Verhältnis zwischen Staat und Kirche inniger als dort (siehe das Konkordat!) - nirgends aber, außer vielleicht im katholischen Ungarn, werden die christlichen Tugenden der Barmherzigkeit und der menschlichen Milde zynischer verleugnet als in Bayern. Zwar hält man auch in Bayern die schützende Hand des Staates und der Justiz über Mörder und Verschwörer, wenn ihre Taten nachweislich aus arbeiterfeindlicher Gesinnung entsprossen sind: die Mörder des Genossen Gareis blieben unverfolgt; der Fememörder Zwengauer durfte nach wenigen Wochen Aufenthalt im Zuchthauslazarett zu Straubing entwischen; den zur Ermordung Maximilian Hardens gedungenen Halunken wurde bei Gelingen ihres Auftrags Anstellung im bayerischen Staatsdienst versprochen, und Graf Arco-Valley, der geständige Meuchelmörder, ist eine der gefeiertsten Persönlichkeiten bei den höchst christlichen Regierern Bayerns. Dafür ist Bayern aber das einzige Land in Deutschland, das noch heute seit 1919 politische Gefangene im Zuchthaus verwahrt, Proletarier, die für ihre Sache, für unsere Sache gekämpft haben und die die bayerische Reaktion im Zuchthause zu Tode schinden wird, wenn nicht endlich die Solidarität ihrer Klassengenossen rebellisch wird und die proletarische Welt zur Zeugin aufruft der Schmach, die unter dem Namen des Rechts in Bayern verübt wird.

Der älteste aller politischen Gefangenen dürfte der Genosse Guido Kopp sein, der seit Mai 1919 in Haft ist und noch von einem der mit Wittelsbachschen Offiziell besetzten Standgerichte der „sozialistischen“ Regierung Hoffmann-Schneppenhorst zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Sein Verbrechen war lediglich die Teilnahme an der bayerischen Räterepublik, also „Hochverrat“. Gewalttätigkeiten, die man zur Rechtfertigung der Verweigerung jeder Abkürzung der Leiden des seit langem kranken Mannes vorschützen könnte, hat er nicht begangen. Eigennützige Handlungen in Ausübung des ihm vom Proletariat übertragenen Amtes als Bürgermeister von Rosenheim hat ihm selbst das Standgericht nicht vorgeworfen. Aber er steht zu seiner Sache. Das nennt man in Bayern „schlechte Führung am Strafort“. Daher ist er der „Gnade“ der bayerischen Christen bis jetzt nicht würdig befunden worden.

Noch viel grauenvoller als das Schicksal Kopps ist das des Genossen Alois Lindner. Am 21. Februar 1919 wurde der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner auf dem Wege zur Eröffnung des Landtags, dem er zugleich seine Demission geben wollte, vom Grafen Anton Arco-Valley in Befolgung eines wohldurchdachten und sorgfältig vorbereiteten Planes meuchlings ermordet. Das Münchener Proletariat ergriff ungeheure Erregung, und der Name, der spontan mit dem Morde in Verbindung gebracht wurde, war Erhard Auer. Das war der Führer der rechtsgerichteten bayerischen Sozialdemokratie, bislang Innenminister im Kabinett Eisners. Lindner war Mitglied des Revolutionären Arbeiterrates, einer in der Revolutionsnacht vom 7. zum 8. November geschaffenen Formation, die in allen Phasen der bayerischen Revolution die Schrittmacherin des proletarischen Vormarsches gewesen ist. Der RAR tagte zu gleicher Zeit im Landtagsgebäude, als der neugewählte Landtag zusammentrat. Eben hatte die Nachricht von Eisners Ermordung die Sitzung des RAR erreicht und grenzenlose Wut bei den Genossen aufgepeitscht, die sich in dem einzigen Ruf „Auer! Rache an Auer!“ Luft machte, da platzte auch schon die weitere Botschaft herein: Unten im Plenum spricht eben Auer, ausgerechnet Auer, den Nachruf für Eisner. Lindner riß, seiner Sinne nicht mehr mächtig, seinen Revolver aus der Tasche, stieß die Genossen, die ihn zurückhalten wollten, zur Seite, stürzte in den Sitzungssaal des Landtags und schoß mehrere Schüsse auf Auer ab, der schwer verwundet wurde. Im gleichen Augenblick griff ein im Saal befindlicher Major Jahreis Lindner mit vorgehaltenem Revolver an, doch kam Lindner seinem Schuß zuvor und streckte den Offizier nieder; er war tot. Lindner ging ruhig seines Weges, die Entladung hatte sein heißes Blut gekühlt. Er entkam nach Ungarn, beteiligte sich dort an der Räterevolution, wurde bei einer Kurierreise in Österreich verhaftet und von der „sozialistischen“ Regierung an Bayern ausgeliefert. Sein Prozeß fand eine Woche vor dem des Grafen Arco statt. Dadurch konnte man ihm leichter die vorher beschlossene Zuchthausstrafe aufpacken. Obwohl seine Tat einfach die Reflexhandlung auf die Ermordung Eisners war und obwohl das Gericht selbst aus den Akten feststellte, daß er nach drei Monaten Militärdienst und Kriege wegen seiner „hochgradigen Reizbarkeit“ wieder entlassen war, wurden seine Schüsse auf Auer als vorbedachte Tat, als Mordversuch angesehen, die in offenkundiger Notwehr erfolgte Tötung des Majors Jahreis aber soll vollendeter Totschlag gewesen sein. Das Urteil lautete auf vierzehn Jahre Zuchthaus und zehnjährigen Ehrverlust. Graf Arco aber wurde wegen Mordes formell zum Tode verurteilt, wobei ihm das Gericht seine ehrenhafte Gesinnung unter vielen Verbeugungen ausdrücklich bescheinigte, zu Festung begnadigt, die er in einer vergnüglichen Scheinhaft vier Jahre lang markieren durfte, und wird heute als offizieller Gast bei patriotischen Feiern der christkatholischen „Volks“partei von bayerischen Ministern begrüßt und gepriesen. Die Behandlung Lindners im Zuchthaus ist furchtbar. Darüber und über vieles noch, was mit dem Fall Lindner-Auer zusammenhängt, wird noch oft zureden sein. Genossen, vergeßt den Genossen Lindner nicht!

Und dann die „Geiselmörder“! In den kurzen Wochen der bayerischen Räterepublik haben außer etwa eintausendzweihundert Arbeitern und mit ihnen solidarischen Intellektuellen auch zehn Vertreter der anderen Klasse das Leben eingebüßt. Sie waren als Untersuchungsgefangene wegen Spionage gegen die Rote Armee und Stempelfälschung, durch die Befehle der Räteinstanzen vorgetäuscht wurden, im Luitpoldgymnasium untergebracht gewesen. Am 29. April war in Starnberg der entsetzliche Massenmord an unbewaffneten Arbeitern und Sanitätern verübt worden, die den Weißen in die Hände gefallen waren. Diese Nachricht und die zahllosen Meldungen, daß die Weißen jeden gefangenen Rotgardisten an die Wand stellten, bewirkten, noch dazu unter der Nervosität, die die unhaltbar gewordene militärische Lage mit sich brachte, wie bei allen revolutionären Arbeitern, so auch bei der Besatzung des Luitpoldgymnasiums unbeschreibliche Empörung. Da kam vom Oberkommando der Befehl, die konterrevolutionären Gefangenen seien zu erschießen. Wie des Genossen Eglhofer Unterschrift unter den Befehl kam, ob sie überhaupt echt war, ist noch nicht festgestellt, sicher ist, daß die Erschießung seinen Absichten durchaus widersprach. Aber der „Geiselmord“-Prozeß dauerte zwar fast drei Wochen, und zwei weitere Prozesse in der Sache folgten; Entlastungszeugen hat man jedoch in diesen Verfahren samt und sonders abgelehnt. Über die entsetzliche Farce dieser Prozesse soll noch ein besonderer Aufsatz folgen. Sie endeten mit der Erschießung von neun Genossen wegen Mordes und der Verurteilung aller der Genossen, denen der Nachweis gelang, daß sie nicht geschossen haben, zu je fünfzehn Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zum Morde. Über unsere Toten aus diesem Justizmord das nächste Mal. Im Zuchthaus sitzen heute noch die Genossen Kick, Gsell, Hesselmann, Lermer, Hannes, Huber, Riethmeyer, Debus und Greiner.

Aber auch mit ihnen erschöpft sich noch nicht die Liste der Revolutionäre, die wegen ihres Kampfes in der Räterepublik in Bayern heute noch im Zuchthaus sitzen. Die Genossen Graf und Streidel mit je zwölf Jahren Zuchthaus dürfen von den Klassengenossen sowenig wie alle andern im Stich gelassen werden. Graf hat in Miesbach dem Revolutionstribunal präsidiert, das einen Spitzel zum Tode verurteilte. Alle Beisitzer erhielten hohe Zuchthausstrafen, ausgenommen der Amtsobersekretär Bruckmayer, der als Protokollführer mitwirkte und außer Verfolgung blieb. Für Genossen Streidel ist das Wiederaufnahmeverfahren beschlossen.

Sorgen wir dafür, daß für alle unseren gefangenen Brüder bald die Stunde schlägt, die eine Wiederaufnahme aller Prozesse durch das Proletariat herbeiführt. Bis dahin müssen wir von der Bourgeoisie mindestens das verlangen, daß sie ihre eigenen Gesetze auch dann zur Geltung bringt, wenn sie als Instrumente der Rachsucht gegen das Proletariat versagen. Je brutaler sie gegen ihre eigenen „Gerechtigkeits“-Deklamationen verstößt, umso mehr mag sie die Stunde der proletarischen Besinnung fürchten. Denn: Dann werden wir die Richter sein!

Originaltext: Der Rote Helfer, 2. Jahrgang (1926), Nr. 7

Aus: Viesel, Hansgörg (Hg.): Literaten an der Wand. Die Münchener Räterepublik und die Schriftsteller. Büchergilde Gutenberg 1980. Digitalisiert von www.anarchismus.at