Gustav Landauer - Die französischen Syndikalisten (1909)

Die französischen Syndikalisten haben eine schwere Niederlage erlitten, von der sie sich nicht so schnell erholen werden. Nicht eine Niederlage im Kampf; eine solche kann oft schnell wieder wettgemacht werden; wer sich stark genug fühlt, hat schon das Recht zu kämpfen und wird wieder kämpfen, auch wenn der erste, der zweite, der dritte Anlauf missglückte; und ganz gewiss wäre eine solche Niederlage ehrenvoll. Die französischen Syndikalisten haben aber eine schmachvolle Niederlage erlitten, die darin besteht, dass sie jahrelang den Mund vollgenommen haben, dass sie jetzt im Anschluss an den franzosischen Poststreik den Generalstreik und noch allerlei sonst angekündigt hatten, und dass es, als es ernst werden sollte zu nichts zu rein gar nichts gekommen ist.

Hier hat sich furchtbar eine Taktik gerächt, die wir seit langen Jahren beobachten konnten: die Taktik des Scheins, die um jeden Preis eine Massenbewegung ins Feld führen oder wenigstens vorspiegeln will.

Wollten wir ganz klar sehen, wie das mit dem französischen Syndikalismus so gekommen ist, so müssten wir die Geschichte der französischen Arbeiterbewegung seit der Kommune von 1871 schreiben. Diese verworrenen Fäden auseinander zu legen, ist jetzt keine Möglichkeit. Statt dessen hier nur einige Momentbilder. Im Jahre 1889, zur Jahrhundertfeier des Beginns der französischen Revolution, tagen in Paris gleichzeitig zwei internationale Arbeiterkongresse, die sich nicht vereinigen können: Auf dem einen überwiegen die französischen Guesdisten (Marxisten), auf dem anderen die so genannten Possibilisten. Diesen Possibilisten, die sowohl im Parlament wie durch den Gewerkschaftskampf das Erreichbare erlangen wollten, warf man damals vor allem Opportunismus und Zusammengehen mit den Bourgeoisradikalen vor. Zu ihnen gehörten unter anderem die Allemanisten. Die Anarchisten waren, und zwar dieselben Personen, auf beiden Kongressen anwesend. Edouard Vaillant und seine Richtung nahmen hingegen an dem Kongress der Guesdisten und deutschen Marxisten teil. Die belgischen Sozialisten und ebenso der antiparlamentarische Marxist Domela Nieuwenhuis hatten Sympathien mit den Possibilisten. Kurz, es zeigten sich da Gegensätze, deren Sinn noch nicht klar war, in denen das persönliche Moment auch eine sehr große Rolle spielte, wo es sich nicht eigentlich um tiefgehende prinzipielle Differenzen, sondern um einen Kampf um die Macht üben die Massen handelte. Allenfalls lässt sich soviel sagen: Bei den „Sozialisten“ überwogen die Lehren von Marx, die Possibilisten zog das Beispiel der englischen Trade-Unions an.

Als im Jahre 1896 in London der internationale Sozialistenkongress tagte, war schon Klarheit eingetreten. Es standen einander – wenn man nach ihrer Vertreterzahl schloss, annähernd gleich stark – die parlamentarischen Sozialisten, an ihrer Spitze Millerand, Viviani (die es inzwischen zum Minister gebracht haben) und Jaurès einerseits und die Antiparlamentarier andererseits gegenüber. Bei diesen letzteren hatten sich nun sehr verschiedene Elemente zusammengefunden: Edouard Vaillant und seine Gruppe waren jetzt bei ihnen, Allemane und die Allemanisten (darunter Argyriades) waren da, also Hauptvertreter des Possibilismus, ferner reine Gewerkschafter nach dem Muster der englischen Trade-Unionisten und Anarchisten.

Das war eine besondere Abart der französischen Anarchisten, die sich um diese Zeit zusammengefunden hatte. Pouget, Pelloutier, Delesalle, Hamon gehörten dazu. Was sie einte, war eine heiße Gier, eine Massenbewegung hinter sich zu haben. Das bloße Verkünden des idealen Ziels und die wilde Zerstörungspropaganda befriedigten sie nicht mehr; sie waren auf der Suche nach dem Positiven, das sich ihnen aber nur in der Form darstellte, dass sie das für positiv hielten, was die Massen zu gewinnen imstande war. So waren sie in ihren Mitteln recht unbedenklich, aber auch unsicher und suchend geworden; eine Zeitlang schoben sie die Agitation für das von den Behörden zu liefernde Gratisbrot in den Vordergrund; das zog aber nicht recht und so wandten sie sich mehr und mehr der Propaganda in den Gewerkschaften zu, in denen seit 1894 (Kongress von Nantes) die Abneigung gegen den Parlamentarismus und zugleich die Idee des Generalstreiks eine große Rolle spielten.

Auf dem Londoner Kongress hatten diese so zusammengesetzten Antiparlamentarier in der französischen Delegation die Mehrheit; es war die Mehrheit einer Stimme. Ich habe aber diese Syndikalisten, diese neuen revolutionären Possibilisten oder Opportunisten an der Arbeit gesehen und muss bezeugen, dass sie genauso skrupellose Politiker waren wie die Parlamentarier; dass sie in der Wahl ihrer Mittel, um äußerlich groß zu scheinen, ebenso unbedenklich waren, und dass die Mandatfabrikation hüben ebenso blühte wie drüben. So kam es denn auch, als deutsche, schweizer, italienische, spanische, dänische böhmische Anarchisten vom Kongress ausgeschlossen wurden und die holländischen antiparlamentarischen Kommunisten, die in ihrer Delegation ebenfalls die Mehrheit hatten, den Kongress mit Protest freiwillig verließen, dass die französischen Anarchisten und Syndikalisten ruhig weiter blieben.

Es hatten sich so unter der Fahne des Syndikalismus aus den verschiedensten Lagern her die Führer bisheriger kleiner Richtungen zusammengefunden, die merkten, dass sie durch diese Einigkeit und durch ihr Eingehen auf die Wünsche und Tageskämpfe der in den Berufsorganisationen vertretenen Massen den parlamentarischen Sozialisten das Gleichgewicht halten konnten.

Das Buhlen um die Gunst der Massen hat die französischen revolutionären Syndikalisten im Lauf der Jahre genauso heruntergebracht wie die Parlamentssozialisten. Es gibt auch außerhalb des Parlaments und der Beteiligung an der Gesetzgebung Politik, Diplomatie und Demagogie, und wer in diesen Jahren die Augen offen hatte, konnte genug davon sehen.

In der letzten Nummer unseres Blattes war der berechtigten Besorgnis Ausdruck gegeben worden: Wenn die französischen Revolutionäre jetzt die Massen in den Aufruhr drängten, wüsste kein Mensch, was eigentlich geschehen sollte. Das war die Angst vor dem Sieg, der nur ein vorübergehender, nur ein Scheinsieg gewesen wäre. Aber die Angst war unnötig: Die syndikalistischen Führer haben keine Parole ausgegeben und konnten es auch nicht: Erstens, weil sie keine wussten, und zweitens, weil die Massen sie im Stich gelassen hätten!

Es steht in Frankreich nicht anders als in den übrigen Ländern: Überall geben sich organisierte oder desorganisierte Politiker, die die Befehlsmacht in die Hände bekommen wollen, für Sozialisten aus. Überall wollen sie einstweilen scheinen, bis sie – durch die Entwicklung oder planmäßige Arbeit oder geschickt benutzte Zwischenfälle – werden können. Und so ist in Jahrzehnten ein großer Aufwand unnütz vertan worden. Denn der Kampf des Sozialismus soll nicht um die Befehlsmacht über die anderen, auch nicht um die aus dem Chaos geborene Befehlsmacht über die Zustände gehen, sondern um die tatsächliche Macht, die sich im Gegensatz zum Staat und zur kapitalistischen Gesellschaft durch sozialistische Arbeit neu aufbaut. Die sind immer noch tief im Staat befangen, die nichts anderes zu tun wissen, als ihn zu bekämpfen. Die sind ganz und gar Sklaven des Kapitalismus, die nicht anders zu arbeiten wissen, als für die Herren und ihren Markt. Staat und Kapital sind ja doch keine solche Wirklichkeiten, wie lebendige Organismen; sie sind ja doch nur Namen für das, was Menschen tun, lassen und dulden. Der rechte Kampf gegen Staat und Kapital beginnt damit, dass man sie ignoriert. Unsere Augen sind dazu erzogen worden, nur immer in den Winkel zu stieren, wo die Kreuzspinne sitzt. Fangen wir doch endlich an, uns nach dem Raum für die freie Initiative, für das selbständige Schaffen umzusehen! Auch von Frankreich können wir lernen, was zu erfahren wahrhaftig auch im eigenen Land Gelegenheit genug ist; wie viele gibt es, deren Kampf gegen Institutionen nur ihre Erscheinungsform der Trägheit des Herzens und der Hände ist!

Aus: Der Sozialist, 01.06.1909

Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2009/10/08/gustav-landauer-die-franzoesischen-syndikalisten-1909/