Gustav Landauer (1870 - 1919)

Anders als in den romanischen Ländern fanden die Sozialrevolutionären und anti-autoritären Tendenzen Proudhons, Bakunins und Kropotkins wie auch der Anarchosyndikalismus in Deutschland zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg nur geringe Resonanz. In der deutschen Arbeiterbewegung blieb der Einfluß der Sozialdemokratie ungebrochen, die anarchistische Elemente in den eigenen Reihen rigoros, bis zum Ausschluß aus der Partei, bekämpfte. [1] Zwar wurden revolutionär und libertär gesinnte Geister von dem ideologischen Dogmatismus und der rigiden Parteidisziplin der SPD ebenso wie von ihrem zunehmendem Reformismus abgestoßen und ins Lager des Anarchismus gedrängt. Doch beschränkte sich dessen Anhang in Deutschland auf kleine Gruppen und intellektuelle Einzelgänger. Unter den letzteren ragte, seinem menschlichen und geistigen Range nach, der 1870 in Karlsruhe geborene und am 2. Mai 1919 in München bei der Liquidierung der zweiten Räterepublik ermordete Schriftsteller Gustav Landauer besonders hervor.

Nach einem vorzeitig abgebrochenen Studium der Germanistik und Philosophie in Heidelberg und Berlin wurde der junge Landauer 1892 Mitarbeiter (zeitweise auch Redakteur) der Halbmonatsschrift „Der Sozialist“, des ein Jahr vorher in Berlin gegründeten Organs der „Unabhängigen Sozialisten“ (später „Anarcho-Sozialisten“), das zunächst bis 1899 erschien. Landauers erstem literarischem Werk, dem Roman „Der Todesprediger“ (1893) folgten unter anderem 1903 „Skepsis und Mystik. Versuche im Anschluß an Mauthners Sprachkritik“ sowie der Novellenband „Macht und Mächte“, drei Jahre später eine ausführlich kommentierte Übersetzung der mittelhochdeutschen Predigten Meister Eckharts und 1907 eine Monographie „Die Revolution“, auf Anregung Martin Bubers für die von diesem herausgegebene Reihe „Die Gesellschaft“ geschrieben. Landauer übersetzte u.a. Balzac, Oscar Wilde und Kropotkin und war Autor angesehener Zeitschriften wie der Harden'schen „Zukunft“, der „Schaubühne“ („Weltbühne“) und des „Literarischen Echo“. Seit 1902 lebte er als freier Publizist in Hermsdorf bei Berlin.

Vor allem von Kropotkins Sozialphilosophie und Tolstois ethischem Rigorismus stark beeindruckt, war Landauer ein Anarchist von unverwechselbarer eigener Art, der der anarchistischen Bewegung je länger desto mehr geistig selbständig und in mancher Hinsicht kritisch gegenüberstand - ein Außenseiter unter Außenseitern, doch keineswegs einer von verbohrter Abseitigkeit. Das Gewaltdenken, das in der anarchistischen „Propaganda der Tat“ zum Ausdruck kam, verabscheute und verurteilte er. [2] Die pseudorevolutionäre Phrase und Pose waren ihm verhaßt. Proudhon galt ihm (wie er in „Die Revolution“ sagt) als der „größte aller Sozialisten“ - er habe „in unvergänglichen, wiewohl heute vergessenen Worten“ zum Ausdruck gebracht, daß „die soziale Revolution mit der politischen gar keine Ähnlichkeit hat, daß sie allerdings ohne vielerlei politische Revolution nicht lebendig werden und bleiben kann, daß sie aber ein friedlicher Aufbau, ein Organisieren aus neuem Geist und zu neuem Geist und nichts weiter ist.“

Um ein solches „Organisieren aus neuem Geist und zu neuem Geist“ ging es Landauer, und zwar hie et nunc, das heißt: um die beispielhafte Schaffung neuer Formen menschlicher Gemeinschaft. [3] Die Voraussetzung all seines Wirkens, schrieb er am 23. August 1911 an Ludwig Berndl, sei „die schlichte Meinung, daß man damit zu beginnen hat, alles so gut zu machen, wie es gemacht werden kann... Die heroische Lebensauffassung erwächst auf einer Lüge, sie läßt das Privatleben, das Wirtschaftsleben weiter wursteln und appelliert ans Ganze, an die Revolution. Die unheroische sagt: mit eurem Privatleben, mit eurer Wirtschaft werde ihr die neue Gestalt, werdet ihr die Revolution machen. Wer warten will und sein Leben in Begeisterung und in großem Aufruf verbringen will, der möge es tun. Wer aber - in tiefer Verachtung der Massen, wie sie sind, geworden sind - auf diese Massen nicht warten, sondern ihnen aufs beste helfen will, der helfe mit seinesgleichen der eigenen inneren und Beziehungsnot, der helfe sich selbst: er beginne mit seinesgleichen das rechte Leben.“ [3]

Mit einigen Gleichgesinnten gründete Landauer 1908 den „Sozialistischen Bund“, der sich in Gruppen und Gruppengemeinden, ohne Zentralinstanz, organisierte und in dessen viertem Artikel „ANARCHIE im ursprünglichen Sinne: Ordnung durch Bünde der Freiwilligkeit“ gefordert wurde. Auf ein exemplarisches „Beginnen“ in kleinen, genossenschaftlich strukturierten Kreisen kam es Landauer vor allem an, ohne daß er dabei die Notwendigkeit einer grundlegenden Änderung der gesamtwirtschaftlichen Struktur aus dem Auge verloren hätte. In seiner Konzeption eines Genossenschafts-Sozialismus spielten Kropotkin'sche Vorstellungen von einer neuen Verbindung von Industrie, Handwerk und Landwirtschaft sowie der Siedlungsgedanke („Rückkehr zur Ländlichkeit“) eine entscheidende Rolle. Das Hauptproblem der sozialistischen Umgestaltung sah er denn auch in der Bodenfrage – „und gerade die Freimachung des Bodens erfordert einmal die Revolution.“ [4]

Seit 1909 (bis 1915) gab Landauer den „Sozialist“ neu heraus und nahm dort zu politischen Tagesfragen und Problemen des öffentlichen Lebens ebenso wie zu literarischen Themen Stellung. 1911 erschien sein „Aufruf zum Sozialismus“, eine leidenschaftliche Auseinandersetzung sowohl mit dem Kapitalismus und dem „Staatswahn“ wie mit dem Marxismus, der „Pest unserer Zeit“ und dem „Fluch der sozialistischen Bewegung“. In einem Brief an Fritz Mauthner vom 17. Mai 1911 hat Landauer ihn als „meine Vernichtung der Nationalökonomie durch Psychologie“ bezeichnet, womit Wesentliches über die Eigenart wie auch über die Grenzen der Schrift gesagt ist. Ihr emphatischer Voluntarismus stellt eine radikale ethisch-idealistische Reaktion auf einen Vulgärmarxismus dar, der revolutionäre Gesinnung durch blindes Vertrauen auf die geschichtliche Entwicklung ersetzt und so die existentielle Verantwortung des einzelnen für den Sozialismus auf sie abwälzt. Für Landauer war der Sozialismus die „Willenstendenz geeinter Menschen, um eines Ideals willen Neues zu schaffen“. Seine Verwirklichung könne nicht von bestimmten ökonomischen Voraussetzungen abhängig gemacht werden, sie verlange diese sowenig wie sie automatisch aus ihnen resultiere, als eine Sache des ethischen Impulses sei sie vielmehr „in jeder Form der Wirtschaft und Technik möglich und geboten.“ [5]

Landauers geistvolle, oft ätzend-scharfe und bitter-höhnische, bisweilen aber auch kurzschlüssig-irrationalistische Kritik des Marxismus wird dessen genuinem theoretischem Gehalt auch nicht annähernd gerecht. Sie trifft aber sehr genau die fatalen Irrwege eines engsinnigen Partei-Doktrinarismus marxistischer Observanz - den „Wissenschaftsaberglauben“ und faktischen Quietismus auf der Grundlage vermeintlichen Allwissens um die Gesetze der ökonomischen Entwicklung, die „absurd-absonderliche Verquickung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und Partei“ und die daraus folgende Borniertheit und Intoleranz, die falschen Prognosen hinsichtlich des Zusammenbruchs der kapitalistischen Wirtschaft, die geistige Verarmung und die Verkümmerung der individuellen wie der kollektiven Spontaneität. Der Ausbruch des Weltkrieges überraschte den entschiedenen Pazifisten und Antinationalisten Landauer nicht, erschütterte ihn aber umso mehr. Ganz besonders entsetzt und empört war er, der immun blieb gegen nationalistische Kriegs-Euphorie und Kriegs-Ideologie, über „die Schmach der Benommenheit, Benebelung und Besoffenheit fast aller unserer Geistigen.“ [6] Wollte er den Soldaten und ihren militärischen Führern trotz seiner grundsätzlichen Kriegsgegnerschaft seine Achtung nicht vorenthalten, so hatte er „gar keine Achtung vor den Epigonen Spinozas und Goethes und Fichtes; nichts (nicht einmal die Feldpost) hat in diesem Krieg so kläglich versagt wie der deutsche Geist.“ [7] In den Kriegsjahren 1916/17 hielt Landauer jene Vorträge, die seinem vielgerühmten, erst posthum (1920) erschienenen Shakespeare-Buch zugrundeliegen, einer der bedeutendsten deutschsprachigen Interpretationen des englischen Dichters. Kurz vor Kriegsende schloß er die Arbeit an einer umfangreichen Sammlung „Briefe aus der Französischen Revolution“ ab, die ihn seit 1912 beschäftigt hatte und Anfang 1919 herauskam, in einem Augenblick, da die Revolution auch in Deutschland Wirklichkeit geworden war, mit schwerwiegenden Konsequenzen für Landauer selbst!

Gegen Ende des Krieges von Berlin nach Krumbach in Schwaben übergesiedelt, wurde Landauer durch die Ereignisse in Bayern unmittelbar in die Tagespolitik verstrickt. Mitte November 1918 folgte er einem Rufe Kurt Eisners nach München, wo er in den schicksalhaften nächsten Monaten zu den engsten Freunden und Beratern des neuen sozialistischen Ministerpräsidenten gehörte. Als Mitglied des Zentralarbeiterrates der Republik Bayern war er insbesondere um Stärkung und Ausbau des Räte-Systems bemüht, das er als die Grundlage einer langfristigen Neustrukturierung der Gesellschaft betrachtete. Er hoffte, der Zusammenbruch des Reiches werde die Bahn frei machen für ein föderatives Deutschland, einen Bund deutscher Republiken – „jede Republik im Innern korporativ, landschaftlich, mit möglichst großer Gemeinde- und Berufsgenossenschafts-Freiheit gegliedert... wozu die vorhandenen Arbeiter-, Soldaten-, Bauernräte der beste Anfang sind.“ [9]

Landauer führte in diesen Monaten einen Zweifrontenkampf. Einmal gegen die bürgerlich-sozialdemokratischen Bestrebungen zur Etablierung des „Parteien-Parlamentarismus“ und gegen die Tendenzen zu einem neuen Reichs-Zentralismus. Er sah darin ein bald bedrohlich werdendes Vordringen der Gegenrevolution. Nicht minder entschieden wandte er sich aber auch gegen die Kommunisten (Spartakus) – „pure Zentralisten wie Robespierre und die Seinen, deren Streben keinen Inhalt hat, sondern nur um die Macht geht.“ [10]

Die teils durch die schwierigen Umstände bedingten, teils einer eigenen Konzeption entspringenden Kompromisse Eisners mit dem Parlamentarismus verfolgte Landauer mit wachsender Sorge. „Es rächt sich, daß er so lange Sozialdemokrat gewesen ist; es rächt sich an der ganzen deutschen Revolution, daß die Sozialdemokratie ihr Träger sein muß“, heißt es in einem Brief an Margarete Susman am Tage nach den bayerischen Landtagswahlen vom 12. Januar 1919, deren Ausgang seine Befürchtungen bestätigte, hatten sie doch mit einem eindeutigen Sieg der Bayerischen Volkspartei und der Sozialdemokraten und einem Debakel der USPD geendet. [11] Die Auseinanderjagung dieses „mißgeborenen Parlaments“ galt Landauer jetzt (wie er schon am 10. Januar an Eisner geschrieben hatte) als die letzte Möglichkeit zur Rettung der Revolution.

Am 21. Februar 1919 wurde Kurt Eisner ermordet. Die Reaktion darauf war die Auseinandersprengung des Landtages und die Übernahme der Regierungsgewalt durch den Zentralrat der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Vom 25. Februar bis zum 8. März tagte in München der Räte-Kongreß, zu dessen aktivsten Mitgliedern Landauer zählte. Als es am 7. April 1919 zur Ausrufung der Räterepublik kam, wurde ihm das Amt eines „Volksbeauftragten für Volksaufklärung“ übertragen, dessen Funktionen denen des vormaligen Kultusministers entsprachen. An diesem Tage schrieb er an Fritz Mauthner: „Läßt man mir ein paar Wochen Zeit, so hoffe ich, etwas zu leisten; aber leicht möglich, daß es nur ein paar Tage sind und dann war es ein Traum.“ Seine Ahnung sollte sich nur allzuschnell erfüllen. Nach der Niederschlagung des gegenrevolutionären Putschversuchs vom 12./ 13. April wurde die erste Münchner Räterepublik durch die unter kommunistischer Führung stehende zweite abgelöst, die auf die Mitarbeit Landauers verzichtete. [12]

Am 1. Mai wurde Landauer aufgrund einer Denunziation von Soldaten der sozialdemokratischen Regierung Hoffmann in München verhaftet und am Morgen des folgenden Tages in das Gefängnis Stadelheim verschleppt. Dort ist er am 2. Mai 1919 nach bestialischen Mißhandlungen durch Offiziere und Soldaten ermordet worden. [13]

Fußnoten:
[1] Auch auf internationaler Ebene trat die SPD für eine eindeutige Trennung von den Anarchisten ein. Nachdem der internationale Sozialistenkongreß von Zürich 1893 deren Ausschluß beschlossen hatte, befaßte sich der Kongreß von London 1896 erneut mit dieser Frage und bestätigte schließlich das Votum von Zürich. Dabei stimmten sämtliche deutschen Delegierten für den Ausschluß, während dieser von 57 der französischen Delegierten abgelehnt, nur von 56 derselben befürwortet wurde. Dieses Stimmenverhältnis erhellt die unterschiedliche Situation in beiden Ländern.
[2] In einem Brief an Fritz Mauthner vom 19. September 1901 sagt er: „Ich werde den Anarchisten aus Anlaß der letzten Vorgänge in einem Artikel, den ich eben schreibe, wieder einmal meine Meinung sagen; ich habe dieses Renommieren mit sogenannten “Taten“ jetzt satt.“ (Nach: Gustav Landauer, Sein Lebensgang in Briefen. Herausgegeben von Martin Buber, Frankfurt/Main 1929. Band I, S. 96) Der Aufsatz erschien am 26. Oktober 1901 in der „Zukunft“ unter dem Titel „Anarchische Gedanken über den Anarchismus“.
[3] An Max Nettlau schrieb Landauer am 7. Juni 1911: „Solange die Anarchisten, gleichviel welcher Schattierung, zwischen sich und den Beginn ihrer Schöpfung eine Ewigkeit setzen, sind sie unfruchtbar. Dies hie rhodus, hie salta werde ich so lange sagen, wie ich noch etwas finde, woran uns niemand hindert. Von den Hindernissen und ihrer Überwindung ausschließlich reden mögen die, die nichts Besseres zu tun wissen.“ (I, 363)
[3] I, 376 f.
[4] An Ludwig Berndl, 23. August 1911; I, 377.
[5] So im Vorwort zur 2. Auflage des „Aufruf zum Sozialismus“, Anfang Januar 1919.
[6] An Hedwig Mauthner, 18. Dezember 1914; II, 18.
[7] An Fritz Mauthner, 2. November 1914; II, 8.
[8] II, 55. (Fußnote fehlt im Originaltext)
[9] An Margarete Susman, 23. November 1918; II, 307 f.
[10] An Margarete Susman, 13. Dezember 1918; II, 335/36.
[11] II, 358.
[12] Es sei in diesem Zusammenhang auf das neueste und bisher gründlichste Sammelwerk über die Ereignisse in Bayern 1918/19 hingewiesen: Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918 und ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen. Herausgegeben von Karl Bosl. München 1969.
[13] Einige der gehaltvollsten Aufsätze Landauers finden sich in: Gustav Landauer, Zwang und Befreiung. Eine Auswahl aus seinem Werk. Eingeleitet und herausgegeben von Heinz-Joachim Heydorn. Köln 1969.

Aus:
Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970

Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s

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