Heiner Koechlin - Anti-Kommunismus. Widerspruch und Antwort

Ein Leser schreibt:

Sehr geehrter Herr Koechlin!

Schon lange wollte ich Ihnen für die Übersendung Ihrer Zeitschrift AKRATIE danken, allerdings nicht, um meine Zustimmung zum Ausdruck zu bringen,sondern das Gegenteil. Ich meine, dass Dank nicht nur mit Zustimmung verbunden sein muss, sondern ebenso mit harter Kritik. Mich veranlasst, diese Absicht wahr zu machen, Ihr letztes Heft mit Ihrem eigenen Beitrag, und darin wiederum der Satz: "Es ist für mich keine Frage, dass wir in der internationalen machtpolitischen Auseinandersetzung das privatkapitalistische Amerika als das kleinere Übel wählen müssen."

Ich würde den gleichen Satz mit umgekehrten Vorzeichen schreiben, eben statt USA hier UdSSR setzen. Damit habe ich Ihnen meine Position gleich eindeutig demonstriert. Doch nun zur Begründung:

Ich bestreite nicht, dass in der Sowjet Union und den anderen sozialistischen Staaten Ungerechtigkeiten und Beschränkung von Freiheit vorkommen. Jedoch sind mir die Kronzeugen dafür nicht weniger suspekt als die Quelle Ihrer Kuba Greuelberichte, die ich in Bausch und Bogen als Fälschung bezeichne. Die Quelle sind Emigrantenkreise in Miami, wie dies dankenswerterweise dieses Mal dokumentiert ist. Diese Herren berichten wahrscheinlich von entsprechenden Ereignissen, die sie aus der Battista Zeit noch in Erinnerung haben und übertragen das, was sie selbst damals zu verantworten hatten, auf das Kuba Castros. Der Gegenbeweis liegt für mich einfach in der Entwicklung dieser Insel mit dem Ende von Ausbeutung und Verdummung. Kein "totalitäres" Regime kann es sich leisten, die Bevölkerung umfassend zu bilden, weil es damit seine eigenen Kritiker und am Ende Opponenten grosszieht. Das zeigt sich in den sogenannten Dissidenten in der UdSSR am deutlichsten. Ihre Existenz und Ihr Wirken beweist den gewaltigen Fortschritt, den die Bildung in der Sowjetunion gemacht hat. Ich halte es nicht für richtig, wie die Regierung der UdSSR darauf reagiert, aber dies ist jedenfalls weit entfernt von der Reaktion in Franco Spanien oder gar in Chile.

Ihre Bemühungen erinnern mich bestürzend an den Konflikt während des spanischen Bürgerkrieges. Was damals die Revolution zerstört und den Faschismus an die Macht gebracht hat, war der gleiche Streit, den Sie jetzt mit dem Sozialismus/Kommunismus führen. Und das Ende kann nur entweder Ihre Niederlage oder die Niederlage beider Kontrahenten und dann den Sieg des Faschismus bedeuten. Ihr Kronzeuge Sacharow kritisiert sicher zutreffend Missstände, aber er verallgemeinert zu sehr und unterschlägt dabei, was den Alltag in der Sowjetunion ausmacht, die ihm immer noch ein ansehnliches Gehalt bezahlt und ihn gut leben lässt. Und dasselbe gilt von Solschenizyn, der einmal zurecht den Stalinismus angeprangert hat, jetzt aber so tut, als habe sich nichts geändert, obwohl er selbst der Gegenbeweis für sein Schreiben ist. Er erkrankte als Häftling an Krebs und wurde in der Haft geheilt. Wo gibt es das in der Welt? Nicht einmal in der BRD, wo die angebliche Anarchistin Hammerschmidt an Krebs erkrankte und erst behandelt wurde, als es zu spät war! Und dabei hatte sie sich freiwillig gestellt auf Anraten ihres Anwalts und hatte keine Verbindung zu den Baader-Meinhoff-Leuten mehr, seit diese in Terrorismus machten. Dieser selbe Solschenizyn nimmt aber Einladungen der Junta in Chile und von reaktionärsten christlichen Gruppen an.

Aber das sind für mich nur Symptome für den Gegensatz, der heute auszutragen ist. Weltpolitisch ist für mich der Staat USA das Krebsgeschwür am Leibe der Menschheit. Ich habe selbst dreiviertel Jahr dort gelebt und gelehrt und spreche wenigstens hier nicht wie ein Blinder von der Farbe. Es gibt keine ausgeprägtere Klassengesellschaft, Beweis für die Richtigkeit von marxistischer Gesellschaftsanalyse wie die USA. Nur der Dollar zählt, einerlei, wie man ihn erworben hat. Und wo gibt es das-, dass ein Präsident ausdrücklich anordnen muss, dass von Regierungsorganenkeine Morde an ausländischen Politikern inszeniert werden sollen, solange Frieden ist! Vietnam, Indonesien, Chile, Griechenland sind Musterbeispiele für die Machtpolitik der USA, und die Liste liesse sich fortsetzen, die Zahl der Opfer bleibt unbekannt, nur die Mörder sind festzustellen, ein Regierungsorgan der USA!

Man braucht doch nur den Einmarsch der Sowjetunion in die CSSR mit Chile oder Indonesien zu vergleichen, um den Unterschied handgreiflich vor Augen zu haben. In der CSSR sind bei dem Einmarsch mehr russische Soldaten umgekommen als Tschechen! Als vor einem tschechischen Dorf sich die Bewohner aufstellten, um die Durchfahrt eines Panzers zu verhindern, bog dieser ab, stürzte im Graben um und die Soldaten kamen um, während keiner der Dorfbewohner verletzt wurde.

Und was die Freiheit angeht!… An der Universität muss ich die verheerenden Folgen des Antikommunismus, wie er sich bei uns in den Berufsverboten zeigt, kennen lernen. Die Studenten riskieren nichts mehr, um ihre Berufschancen nicht aufs Spiel zu setzen. Der Verfassungsschutz kommt immer mehr der alten Gestapo nahe… Thomas Mann nannte den Antikommunismus die Torheit des 20. Jahrhunderts … Aus diesen Gründen kann ich Ihre Arbeit und Ihre Zeitschrift nicht gut heissen…

Lassen Sie sich herzlich grüssen von Ihrem freundschaftlich verbundenen Kontrahenten

*****************

Sehr geehrter Herr …

Ich habe Ihren Brief erhalten, und obwohl ich bedaure, dass wir uns nicht näher stehen, bin ich dankbar, dass Sie mir Ihre in wesentlichen Dingen der meinen diametral entgegengesetzte Auffassung so deutlich zum Ausdruck bringen.

Da mir Ihr Brief für eine bei einem Teil der Linken verbreitete Denkweise repräsentativ zu sein scheint, erlaube ich mir, ihn, was seinen politischen Teil betrifft, zu veröffentlichen.

Im folgenden will ich versuchen, ihn zu beantworten. Ihre grundsätzliche Bevorzugung dessen, was Sie "Sozialismus/Kommunismus" nennen vor Rechtsdiktaturen aber auch,- wenn ich Sie recht verstehe- vor bürgerlichen Demokratien -, ist weitgehend von einem subjektiven und darum unangreifbaren Standpunkt bedingt. Diesem Ihrem Standpunkt kann ich nur meinen anderen Standpunkt und die sich aus ihm ergebenden Aspekte entgegenstellen.

Doch gibt es in Ihrer Darlegung auch einfach Unrichtigkeiten, die objektiv zu widerlegen sind. Über die Situation im zeitlich zurückliegenden, jedoch heute wieder aktuellen spanischen Bürgerkrieg reden Sie, um Ihren Ausdruck zu gebrauchen, tatsächlich wie ein Blinder von der Farbe. Der "Streit", wie sie ihn nennen, war in Wirklichkeit ein sehr einseitiger. Es ist heute dokumentarisch nachzuweisen, dass sämtliche antifaschistischen Gruppierungen zu loyaler Zusammenarbeit bereit waren, dass diese aber von einem totalen Machtanspruch von Seiten der kommunistischen Partei torpediert und vereitelt wurde.

Ein junger Sozialist namens Willy Brandt, der damals in Spanien war, charakterisierte im Juli 1937 die Lage folgendermassen: "Um die von ihnen erstrebte Monopolisierung der Führung zu erlangen, scheuen die Kommunisten kein Mittel. In einer Situation, wo alles auf die Sammlung der Kräfte gegen Franco ankommt, müssen die Methoden der K.P., die Methoden der Verleumdung ihrer proletarischen Widersacher, der Hetze und des blinden Terrors gegen sie, der Absorbierung und Vernichtung aller anderen (…) die Kampfmoral untergraben und lebensgefährlich für den antifaschistischen Krieg werden. Diese Methoden drohen die ganze internationale Arbeiterbewegung erneut zu vergiften und zurückzuwerfen, sie drohen die Ansätze der Einheitsentwicklung in einen Scheiterhaufen zu verwandeln… Dabei handelt es sich schlecht und recht um die wahnwitzige Zielsetzung der Komintern, alle Kräfte zu vernichten, die sich ihr nicht gleichschalten wollen. Darum handelt es sich, und darum muss die ganze internationale Arbeiterbewegung diesen Schlag der Komintern entsprechend parieren. Es geht darum, ob zugelassen werden soll, dass die Träger einer anderen Auffassung, dass revolutionäre Arbeiter mit den Mitteln der Fälschung, der Lüge, des Terrors ausgerottet werden sollen. Dem muss man in den Arm fallen."

Zur russischen Invasion in der Tschechoslowakei: Die Geschichte des russischen Panzers, der, um Menschenleben zu schonen, abbog und in einem Graben verunglückte, ist rührend und sicherlich auch wahr. Wenn Sie aber diese Invasion mit anderen Gewaltstreichen vergleichen wollen, dann dürfen Sie nicht vergessen, dass die Tschechoslowakei auch unter Dubcek von einer kommunistischen Partei regiert wurde, die sich in ihrem Widerstand gegen Moskau in den Grenzen äusserster Mässigung hielt. Wenn die Russen nicht schossen, so einfach darum, weil die Tschechen nicht schossen. In Ungarn wurde im Jahre 1956 geschossen und hingerichtet. Im übrigen lässt man, wenn man nicht zu äusserster Gewaltanwendung entschlossen ist, die Panzer zuhause.

Sie sind zwar mit der Art und Weise, mit der die Sowjetregierung auf die Opposition reagiert, nicht einverstanden, empören sich aber nicht gegen sie, so wie Sie sich gegen die Methoden in Spanien und Chile empören. Dass man eine wissenschaftliche Schlüsselfigur wie Sacharow und einen weltbekannten Schriftsteller wie Solschenizyn nicht einsperrt, sondern höchstens mit Schreibverboten belegt oder ins Ausland verfrachtet, ändert, wie Sie wissen sollten, nichts daran, dass man ihresgleichen, die nicht weltbekannt sind, nach wie vor in G.P.U. Verliessen und sibirischen Konzentrationslagern verfaulen lässt oder in Irrenanstalten mittels psychischen und physischen Einspritzungen zu korrigieren versucht.

Der Unterschied zwischen chilenischer und russischer, wie übrigens auch russisch-kubanischer Folterpraxis besteht lediglich darin, dass die chilenischen Generäle von ihren nachstalinistischen Brüdern, was Systematik und wissenschaftliche Präzision anbetrifft, noch etwas lernen könnten.

Wer möchte da wählen?

Verwerflich scheint es mir auf jeden Fall, das eine mit dem anderen zu entschuldigen, wie es auf beiden Seiten geschieht.

Solschenizyn hat nichts geschrieben, was neu wäre und was man nicht schon seit mindestens 40 Jahren weiss oder wissen könnte. Sein Verdienst ist es, in Russland selbst als einer der ersten seine Stimme für Freiheit und Menschlichkeit erhoben zu haben. Dies entschuldigt nicht seine Kritiklosigkeit gegenüber der Rechten, mit der er seiner eigenen Sache schweren Schaden zufügt. Zu erklären ist diese Haltung mit einem Trauma. Der Russe steht hier nicht allein. Wie viele aufrichtige deutsche Antifaschisten, darunter bedeutende Schriftsteller, haben nicht in ihrem Hitler-Trauma die grauenhaftesten Inquisitionsmethoden Stalins gerechtfertigt oder entschuldigt!

Wenn ich Sie recht verstehe, so würden Sie eine offizielle Einladung nach Castro-Kuba grundsätzlich mit dem besten Gewissen annehmen.

Machen Sie es sich in Bezug auf meine Kubaberichte nicht zu einfach? Was berechtigt Sie zu Ihrer Sicherheit? Haben Sie sich darum gekümmert, ob nicht vielleicht doch etwas daran sein könnte? Als Theologe sind Sie der Wahrheit verpflichtet. Und hier handelt es sich schliesslich nicht um Bagatellen, die erlauben würden, auf Vermutungen abzustellen.

Ihre Haltung erinnert mich an den "Palmström" von Chr. Morgenstern: "...weil, so schliesst er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf."

Die Einparteiendiktatur in Kuba bringt es mit sich, dass das politische Spektrum der von ihr Verfolgten und Vertriebenen von Rechts bis Links reicht.

Die ehemaligen Anhänger Battistas sind eine politisch bedeutungslose Minderheit. Hingegen besteht der aktive Teil der kubanischen Emigration aus Linksliberalen, Sozialisten und Anarchosyndikalisten, die gegen die Diktatur Battistas gekämpft haben, als die kubanische kommunistische Partei noch zu den getreusten Stützen des damaligen Machthabers gehörte. Sie wurden geächtet, wie die meisten der Mitarbeiter Castros, als sie sich nach dem Siege der Rebellion gegen die Alleinherrschaft der kommunistischen Partei, die sich in letzter Minute eingeschaltet hatte, zur Wehr setzten.

So ist mein Gewährsmann alles andere als ein Reaktionär. Als Arbeiter in der Lebensmittelindustrie war er in Kuba aktives Mitglied der Gewerkschaft. In Miami steht er heute in der vordersten Reihe der Exilgewerkschaften und der kubanischen libertären Bewegung. Sein Sohn wurde als Revolutionär von Battista zu 9 Jahren Gefängnis verurteilt und anschliessend von Fidel Castro zu 30 Jahren. Seine Lage ist hoffnungslos, wie die seiner eingekerkerten Kameraden, weil die internationale Solidarität bis heute fast völlig ausgeblieben ist.

Der Hauptinitiant des Komitees, das für die von mir über setzten und veröffentlichten Berichte verantwortlich ist Dr. Humberto Medrano, war in Kuba Leiter der linksliberalen Zeitung "prensa libre". Über die Geschichte dieser Zeitung schreibt der Anarchosyndikalist Augustin Souchy in seinem Buch "betrifft: Lateinamerika": "Prensa libre war eine angesehene liberale Zeitung, die im im Kampf gegen die Battista-Diktatur an vorderster Stelle gestanden hatte... Anderthalb Jahre nach dem Siege der Revolution waren sämtliche Zeitungen und Druckerzeugnisse konfisziert und gleichgeschaltet, die Druckereien verstaatlicht worden. Im Juni 1960 beobachtete ich vom Fenster meines Zimmers im Hotel Isla de Cuba auf dem Platz vor dem Capitolio einen bizarren Leichenzug. Etwa tausend Studenten und Arbeiter begleiteten acht "Totengräber", die einen mit Exemplaren der Prensa libre gefüllten Sarg trugen. Auf mitgeführten Spruchbändern war zu lesen: "Hier wird die freie Presse begraben"..." Vermittelt wurden mir diese Verbindungen durch einen persönlichen Freund, der im spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republik gekämpft hat, jetzt in Argentinien lebt und als Sekretär einer kleinen nicht-peronistischen Gewerkschaft arbeitet, der Republikaner, Sozialisten und Anarchisten angehören.

Ich hoffe, mit diesen Angaben bei Ihnen wenigstens Zweifel an Ihrer Bausch-und-Bogen-Theorie geweckt zu haben.

Sagt es Ihnen nichts, dass es die kubanische Regierung ablehnt, ihre Gefängnisse und Konzentrationslager durch Vertreter internationaler humanitärer Organisationen wie Amnesty International, Internationales Rotes Kreuz, Internationale Juristenvereinigung u.a. besuchen zu lassen?

Wie Sie wissen, bin ich wie Sie Gegner von Geldherrschaft und Kapitalismus. Ich weiss nicht, ob in den Vereinigten Staaten der Dollar mehr zählt, als die Mark in Deutschland oder der Franken in der Schweiz. Doch weiss ich, dass in Ländern, die liberale Freiheiten und demokratische Einrichtungen kennen, ein täglicher Kampf gegen die Auswüchse dieser Herrschaft geführt werden kann, was in den "sozialistisch-kommunistischen" Staaten nicht möglich ist.

Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass die Sowjetunion von einer neuen Klasse regiert wird, deren Privilegien denen eines amerikanischen Bourgeois oder eines zaristischen Adligen in nichts nachstehen. Die Herrschaft dieser Staatsbourgeoisie ist im Unterschied zu der einer Privatbourgeoisie eine absolute. Sie kann weder von einer freien Presse kritisiert, noch durch freie Wahlen, Streiks und andere Äusserungen des Volkswillens angetastet noch limitiert werden. Wird die demokratische Errungenschaft der Rechtsgleichheit im Privatkapitalismus auf Grund ökonomischer Ungleichheit oft zur Farce, so existiert sie hier überhaupt nicht.

Polizeilich garantierte geheimnisumwitterte Sonderrechte schaffen in diesem "Kommunismus" eine hermetische Trennung zwischen der privilegierten Klasse und dem Volk, die Ähnlichkeit mit der südafrikanischen Rassentrennung besitzt...

"Kommunistisch-sozialistische" Staaten könnten, so meinen Sie, nicht totalitär sein, weil hier die Menschen eine "umfassende" Bildung bekämen. Tatsache ist, dass der Analphabetismus überall verschwindet oder reduziert wird, wo eine industrielle Entwicklung stattfindet. Das trifft für "kapitalistische", wie für "kommunistische" Länder zu.

Eine Industriegesellschaft ist mit Analphabetismus unvereinbar. Sie braucht neben einer Schicht von Wissenschaftern und spezialisierten Technikern ein Volk, das einigermassen zivilisiert, Maschinen bedienen kann und pünktlich zur Arbeit erscheint. So hat z.B. die industrielle Entwicklung, die in Spanien zur Zeit der Diktatur Francos stattfand, zu einem drastischen Rückgang des Analphabetismus geführt.

Sollte sich aus dieser Notwendigkeit für den Totalitarismus eine Grenze ergeben, so könnten wir nichts besseres wünschen. Doch haben wir, so scheint mir, allen Grund, in dieser Hinsicht skeptisch zu sein. Alphabetismus ist mit Bildung nicht identisch und kann Verbildung sein, sowie Bereitschaft, sich manipulieren zu lassen. Es genügt nicht, lesen und schreiben zu können. Es ist ausserdem wichtig, was man zu lesen bekommt und was man schreiben darf. Wenn sich die Lektüre der Elite auf Technik und zensurierte scholastische Theologie oder gesäuberten historischen Materialismus beschränkt und für das Volk auf Katechismus und Kriminalromane, wenn man wegen eines lyrischen Gedichtes, das mit den ästhetischen Maximen des Schriftstellenverbandes nicht konform geht, mit Schreibverbot belegt wird, dann scheint mir der Fortschritt etwas zweifelhaft zu sein.

Was verstehen Sie unter "reaktionärsten christlichen Gruppen"? Zählen Sie zu dieser Kategorie jene nicht konformistischen Christen, die in der Sowjetunion nach zaristischer Tradition verfolgt und misshandelt werden? Verstehen Sie die Freiheit eines Christenmenschen nach der Art Martin Luthers, der jedes nicht obrigkeitskonforme Christentum verdammte? Oder machen Sie in dieser Hinsicht einen Unterschied zwischen "rechts" und "links", zwischen Paraguay und Russland, nach den Worten des Edelmanns im Gedicht: "Ja, Bauer! das ist ganz was anders!"?

Wenn Sie sich über Verletzungen von Freiheit und Menschenrechten in unserer Demokratie beklagen, so haben Sie in der Sache recht. Doch stimmt der Masstab, mit dem Sie messen und vergleichen, in keiner Weise. Den bundesdeutschen Verfassungsschutz mit der Gestapo in einem Atemzug zu nennen, ist nach meinem Dafürhalten eine unerlaubte Verharmlosung des Nationalsozialismus, den Sie doch miterlebt haben. Wenn Freiheitsverletzungen in Demokratien mit Freiheitsvernichtung in Diktaturen gleichgesetzt werden können, dann verstehe ich nicht, warum Sie sich über Spanien und Chile aufregen. Dann ist ja alles gleich.

Im verpönten Amerika genossen Sie immerhin Lehrfreiheit. Es gibt dort noch andere Freiheiten, von denen ausgiebig Gebrauch gemacht wird, z.B. Streikfreiheit. Es existiert auch eine Freiheit der Gerichte, die z.B. den Freispruch von Angela Davis ermöglicht hat, um nur ein spektakuläres Beispiel anzuführen. Können Sie sich die Existenz einer sowjetrussischen Angela Davis überhaupt vorstellen?

Ihr Kronzeuge Thomas Mann hat in seinem Leben verschiedene politische Wandlungen durchgemacht, sodass er für recht Verschiedenes in Anspruch genommen werden kann. Wie er es mit der "Torheit des 20. Jahrhunderts"gemeint hat, weiss ich nicht. Doch scheint es mir zwei Arten von Antikommunismus zu geben, so wie es zwei Arten von Antifaschismus gibt. Von beiden gibt es eine echte und eine falsche.

Die zweite, die sich mit dem Namen McCarthy verbindet, benützt den Kommunistenschreck als Alibi für eigene autokratische Anliegen, die in ihrem Effekt dem angeblich verpönten Kommunismus recht nahe kommen. Wenn es opportun ist, versteht es dieser"Antikommunismus" mit kommunistischen Staaten wirtschaftliche und politische Geschäfte zu machen.

Analog gibt es einen unechten Antifaschismus, der die faschistische Gefahr braucht, um eigene Terrorherrschaft zu rechtfertigen. Man tut sich Liebesdienste, indem man sich gegenseitig eine wirksame Propaganda ermöglicht und sich mehr oder weniger versteckt auch direkt aushilft. (Siehe Waffenlieferungen Moskau - Santiago de Chile u.a.).

Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass der Antikommunist Ribbentrop einmal nach Moskau fuhr und Molotow bei dieser Gelegenheit von "versimpelten Antifaschisten" sprach, "die nichts begreifen könnten".

Echter Antikommunismus wäre freiheitlich und antitotalitär und mit echtem Antifaschismus identisch. Auch das gibt es, wenn auch seltener.

Ich kann Ihre Haltung, die für die eines Teils der Linken repräsentativ ist, als Ausdruck einer berechtigten Unzufriedenheit mit unseren Verhältnissen verstehen. Psychologisch ist das nichts Neues. Im frühen Mittelalter waren die Unzufriedenen, die im Machtbereich des Papstes lebten, Anhänger des Kaisers und diejenigen, die sich im Herrschaftsbereich des Kaisers befanden, Parteigänger des Papstes.

Doch hat es auch immer Ketzer gegeben, die sich gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung empörten, wo diese auch immer stattfand. Sicher sind Sie mit mir darüber einig, dass es uns nicht darum gehen kann, die Verhältnisse um jeden Preis zu verändern, sondern darum, sie womöglich zu verbessern.

Mit freundlichen Grüssen

Heiner Koechlin

Originaltext: Akratie Nr. 6, Sommer 1976. Digitalisiert von www.anarchismus.at