Heiner Koechlin - Repräsentation und Autorität

"Jede Person soll ihre eigenen Angelegenheiten verwalten: Selbst ist der Mann! Selbst die Familie, selbst der Stamm, selbst ist das Volk, selbst die Menschheit. -Allein sogar das Lebensgesetz der Entfaltung des Menschheitsbundes - wonach die analytische der synthetischen, vorangeht – fordert, dass sein Entstehen durch Einzelmenschen vermittelt sei, die unmittelbar mit Gott vereint, den Geist aller höheren menschlichen Personen in sich erwecken und wirken lassen, -- auch diese Gesellschaften und auch den werdenden Menschheitsbund bevormunden können, dürfen und sollen und wirklich zum Heil all dieser Personen selbst bevormunden." (Karl-Christian Friedrich)

Krause, dessen System der Rechtsphilosophie dieser Satz entnommen ist, war ein selbständiger Schüler Emanuel Kants. Im Gegensatz zu seinen Zeitgenossen Schelling, Hegel und Fichte hat Krause in seinem Vaterlande so gut wie keine Resonanz gefunden. Doch führte seine Denkweise in Spanien zur kulturphilosophischen und sozialpädagogischen Schule des Krausismus, die den späten iberischen Liberalismus in einem sozialen Sinne beeinflusst hat und als eine der geistigen Wurzeln des freiheitlichen spanischen Sozialismus und Anarchismus gelten kann.

Unter den deutschen idealistischen Philosophen scheint mir Krause der menschlichste zu sein. Symptomatisch ist, dass er - meines Wissens als einziger - die Todesstrafe konsequent verwarf. Eine Strafe, so meinte er, könne nur gerechtfertigt werden, wenn sie zur Besserung eines Menschen beitrage. Diesem Sinn aber widerspreche die Todesstrafe a priori.

In seiner Rechtsphilosophie hat Krause - und das scheint mir ihr Wesen am schärfsten zu charakterisieren - aus der Kantschen Rechtsauffassung die Konsequenzen gezogen, vor denen Kant selbst zurückgeschreckt war.

Im Gegensatz zu Krause knüpfte Hegel an den Kantschen Inkonsequenzen an und hat diese vertieft und potenziert. Für die Hegelsche Geschichtsphilosophie hat das Individuum nur insofern Bedeutung, als es sich dem Staatszwecke unterordnet und in ihm aufgeht. Manifestation Gottes oder des "Weltgeistes" ist für ihn nicht der Einzelne, sondern die jeweilige Staastmacht.

Für Krause hingegen steht jedes Individuum in direkter Beziehung zum unendlichen Wesen. Die Gesellschaft besteht aus mannigfachen wirtschaftlichen, kulturellen, wissenschaftlichen und religiösen Gruppierungen und deren Bünden. Nur eine von diesen ist der Staat, dessen Funktion streng auf die Sicherung von Recht und Freiheit der Individuen beschränkt sein muss. Ziel der Geschichte ist ein allgemeiner Menschheitsbund, der weder politische Grenzen noch Zwangsinstitutionen kennen wird.

Das Verständnis der im besten Sinne liberalen Philosophie Krauses wird erschwert durch eine ungewohnte Sprache, die oft der Interpretation bedarf. In dem von uns zitierten Passus hat das Wort Person einen eigenartigen sozialphilosophischen Sinn. Person ist nicht nur das Individuum, sondern auf höherer Stufe die Familie, die Gemeinde, das Volk und schliesslich die Menschheit.

Dem Einzelnen kommt insofern eine Schlüsselstellung zu, als in ihm alle sozialen Personen bis zur Menschheit beschlossen sind und dass er durch "tiefinnere" Meditation diese Keime zu höheren Stufen, zum Erwachen und zur-Entfaltung bringen kann.

Dieser Auffassung entsprechend ist das von Krause gebrauchte Wort "Bevormundung" nicht im üblichen Sinne als Entmündigung, sondern wörtlich als reden für einen Unmündigen zu verstehen. Am nächsten kommt man, so scheint mir, dem diesem Wort von Krause verliehenen Sinn, wenn man es durch "Repräsentation" ersetzt.

Nicht die politische Repräsentation durch Diktatur oder Wahl und Mehrheitsbeschluss kann hier gemeint sein, sondern eine spontane Repräsentation, ohne welche keine, wie auch immer geartete menschliche Gesellschaft und Kultur denkbar wäre.

Um den Unterschied zwischen den beiden Arten von Repräsentation deutlich zu machen, seien zwei historische Beispiele angeführt:

Sokrates war ein spontaner Repräsentant des griechischen Volkes, während die demokratische Regierung, die ihn zum Tode verurteilte, dessen politischer Repräsentant war.

Franziskus von Assisi war ein spontaner Repräsentant mittelalterlichen Christentums, während Papst Innozenz III. einer seiner politischen Repräsentanten war. u.s.w.

Namen, die in der selben Weise für unsere Gesellschaft repräsentativ wären, kann man kaum nennen. Das heisst aber nicht, dass spontane Repräsentation nicht auch heute existierte, es sei denn, dass wir nur noch Staat und keine Gesellschaft mehr hätten. Doch hat sich diese Repräsentation gleichsam dezentralisiert und in die Anonymität zurückgezogen.

Martin Buber sagt irgendwo dem Sinne nach, dass jeder Mensch, der ganz bei sich selbst einen klaren Gedanken denke, eine Gruppe von Menschen vertrete, die diesen Gedanken unklar empfänden und nicht auszudrücken wüsste. Betrachtet man diese spontane Repräsentation mit umgekehrten Vorzeichen, von oben nach unten, so entspricht sie einer spontanen gewaltlosen Autorität.

Solche spontane Repräsentation und Autorität liegen der Idee des Königtums von Gottesgnaden zugrunde, die es in der politischen Wirklichkeit nie gegeben hat. Nur selten und für kurze Zeit kann sich eine spontane Repräsentation mit politischer Macht decken. Gewöhnlich stehen sich die beiden, wenn nicht in offener Feindschaft, so doch in misstrauischer Rivalität gegenüber. Keine kann die andere ganz verdrängen. Auch die demokratischste Gesellschaftsform vermochte die spontane Repräsentation nicht zu ersetzen. Die letztere ist über all, wo Gesellschaft ist, quer zur Politik vorhanden und wirksam. Ihre vollkommene Realisation wäre die akratische Gesellschaft.

Ihr unsichtbares Wirken lässt noch dort, wo aller politische Optimismus Unsinn wäre, die Hoffnung auf einen Fortschritt der Menschheit zu.

Heiner Koechlin

Originaltext: Akratie Nr. 6, Sommer 1976. Korrekturen von Ue zu Ü etc. Digitalisiert von www.anarchismus.at