Ulrich Klemm - "Unsere Ethik ist die Ästhetik". Anmerkungen zu Herbert Read

Wenn im folgenden von Herbert Read die Rede sein soll, dann geschieht dies vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Kunst, Kultur und Anarchie. Dieses, auf den ersten Blick wie ein ideengeschichtliches Bermuda-Dreieck anmutende Thema, gewinnt durch Read Mitte des 20.Jahrhunderts eine neue Dimension. Read, der zu den renommiertesten und profiliertesten englischen Kunsthistorikern unseres Jahrhunderts zählt, befruchtete die Ideengeschichte des zeitgenössischen Anarchismus - wenn auch vorwiegend im angelsächsischen Raum. Sein publizistisches Lebenswerk, das weit über 100 Buchtitel umfasst (1), ist entsprechend in zentralen Teilen geprägt von einer anarchistischen Philosophie und Gesellschaftskritik.

Aus dem Leben eines libertären Intellektuellen

Herbert Edward Read (2) wurde am 4.Dezember 1893 auf dem Gut Muscoats in der Nähe von Stonegrave in der Mittelenglischen Grafschaft Yorkshire als Sohn einer Bauernfamilie geboren und verbrachte seine frühe Kindheit in dieser einsamen und vorindustriell geprägten Gegend. Das während der Schulzeit erwachte Interesse an Literatur vertiefte er in öffentlichen Bibliotheken und mit 17 Jahren schrieb er seine ersten Gedichte für Schülerzeitungen und entschloß sich, an der Universität Leeds Kunstwissenschaften und Literatur zu studieren.

Den Ersten Weltkrieg erlebte er als Frontoffizier in Belgien und Frankreich und als er Mitte 1918 aus dem Krieg zurückkehrte, war er bereits in der Londoner Literaturszene kein Unbekannter mehr und fand u.a. schnell Kontakt zu T.S. Elliot und E. Pound, die Read auf seinem weiteren Weg unterstützen sollten.

Ab 1919 arbeitete er zunächst im Finanzministerium und später für längere Zeit am Viktoria- und Albert-Museum in London. Die 30er Jahre waren für ihn insgesamt eine erste Blütezeit seines Schaffens, die seinen internationalen Ruf, einer der führenden englischen Kunsthistoriker und -kritiker zeitgenössischer Kunst zu sein, begründete. Während dieser Zeit war er Chefherausgeber der angesehenen Kunstzeitschrift "Burlington Magazine" (1933-1939) und nebenberuflich Berater für verschiedene Verlage.

Schließlich machte er sich in diesen Jahren auch einen Namen als wichtiger Kenner des Surrealismus und organisierte 1936 die erste große und legendäre englische Surrealismus-Ausstellung. In diese Jahre fällt auch sein erstes öffentliches politisches Engagement und sein Bekenntnis zum Anarchismus. Vor allem der Gedanke der "Gegenseitigen Hilfe" als tragende soziale Kategorie der Evolution wurde für ihn zur Maxime politischen Handelns und Denkens. Seine erste politische Schrift "Essential Communism" (1935) ist entsprechend vom Geist Kropotkins geprägt. Weitere Bücher und Streitschriften zum Anarchismus folgten: "Poetry and Anar-chism" (1938), "The Philosophy of Anar-chism" (1940), The Politics of the Unpoli-tical" (1943), "Existentialism, Marxism, Anarchism" (1949) sowie 1942 ein Sammelband mit ausgewählten Schriften Kropotkins.

In den 50er Jahren ließ dieses Engagement wieder nach. Vor allem mit der 1953 verliehenen Ritterwürde - seitdem Sir Herbert Read - distanzierten sich zunehmend Anarchisten von ihm. Eine Art Bestandsaufnahme seines Anarchismus legte er 1954 mit dem Sammelband "Anarchy and Order" (erweiterte Ausgabe 1974) vor.

1939 gab er die schlecht bezahlte Herausgeberschaft des "Burlington Magazine" auf und begann eine Tätigkeit als Direktor bei dem renommierten Verlag "Routledge & Kegan Paul" in London. 1943 wurde er erster Direktor der englischen Industrie-Design-Vereinigung und im selben Jahr erschien auch die erste Auflage seiner einflußreich werdenden Studie "Education through Art", die in den folgenden Jahrzehnten weltweit in mehreren Übersetzungen und Auflagen erschien und ihn als einen Erziehungstheoretiker profilierte. Nach dem 2.Weltkrieg begann für ihn ein neuer Lebensabschnitt, der geprägt ist durch eine weltweite Vortrags- und Gastprofessurtätigkeit.

Neben zahlreichen Auszeichnungen wurde er Präsident der Britischen Gesellschaft für Kunsterziehung, des Instituts für zeitgenössische Kunst und der Philosophischen Gesellschaft von Yorkshire.

Im folgenden Jahrzehnt, er war bereits weit über 60 Jahre alt, engagierte er sich aktiv bei der Kampagne gegen die nukleare Aufrüstung und nahm an Straßendemonstrationen teil.

Ab 1964 zog er sich mehr und mehr von seinen zahlreichen Tätigkeiten und Verpflichtungen zurück, bedingt durch eine Krebserkrankung, und konzentrierte sich nur noch auf wenige Publikationen. Sein letzter öffentlicher Auftritt fand im Januar 1968 auf einem Kongreß in Havanna statt; - er starb am 12.Juni 1968 in Stonegrave (Yorkshire).

Überblickt man Reads Leben und Schaffen, darin ist unschwer festzustellen, daß er das Leben eines Gelehrten und Intellektuellen führte, jenseits der Eingebundenheit, Abhängigkeit und Sicherheit universitärer Strukturen, und daß er alles andere als in einem Elfenbeinturm saß. Read war ein Aufklärer und beseelt von der Vorstellung, mit seinen Publikationen, Vorträgen und Kritiken einen Beitrag wider den Zeitgeist und den Verfall kultureller Werte und Traditionen leisten zu können.

Maximen wider die Maschinenzivilisation

Kulturgeschichtlich und -anthropologisch steht für Read die Maxime im Zentrum, daß sowohl ontogenetisch als auch phylogenetisch die "Kunst das wichtigste Werkzeug für die Entwicklung des menschlichen Bewußtseins" (1961, S.ll) ist. Kunst ist demnach jene Art der Betätigung, durch die der Mensch sich die sichtbare Welt zu Bewußtsein bringt, Sie ist keine zufällige oder willkürliche Tätigkeit, sondern eine Bedingung menschlichen Seins, durch die das Verständnis von Natur und Kultur ermöglicht wird. D.h., Kunst als Ermöglichungsort und "Kristallisationsprozeß" (1961, S.12) menschlichen Seins. Diese kulturkritische These faßte Read 1955 (dt. 1961) in einem Buch zusammen, das auf Vorlesungen an der Londoner Universität zurückgeht. Im Vorwort betont er jedoch deutlich, daß er diese Perspektive von Konrad Fiedler (3) aufgriff und sie sich im Ansatz auch bereits bei Hölderlin, Schelling und Schiller wiederfindet.

Mit diesem Band faßt Read Gedanken zusammen, die wir in mehr oder minder ausführlicher Form in nahezu allen kulturphilosophischen Essays ab den 40er Jahren finden. Es geht um die Darstellung der "wichtigsten Entwicklungsstufen in der künstlerischen Bewältigung der Wirklichkeit durch den Menschen" (1961, S. 13).

Wenn er nun im folgenden von der Kunst als einem Kristallisationspunkt in der menschlichen Entwicklung spricht, dann meint er damit in erster Linie den "künstlerischen Akt" (1961, S. 14) als eine Form der Besitzergreifung von Realität, als die Festlegung und Bestimmung von Formen. Wirklichkeit und Realität ist für den Menschen das - so die Kernaussage Reads -, was wir auf diese Art und Weise, d.h. durch den künstlerischen Akt, ausdrücken.

Er kommt zu dem Schluß, daß sich Kunst stets zwischen den Polen Schönheit und Vitalität bewegt. Dort, wo der Mensch eine enge und instinktive Beziehung zum Tier hatte (z.B. Etrusker, Wikinger oder die Kelten), wurde die Vitalität zum zentralen Merkmal künstlerischer, d.h. zivilisatorischer Tätigkeit: Dort, "wo magische Riten mit menschlichem oder tierischem Leben verbunden sind, ist eher Vitalität denn Schönheit die dominierende künstlerische Eigenschaft" (1961, S.32).

Seine Überzeugung ist, daß ein ideales Kunstwerk Vitalität und Schönheit gleichermaßen vereint und sich z.B. bei griechischen Plastiken oder gothischen Kathedralen wiederfindet. Die Kunstgeschichte des Menschen ist geprägt von dieser Dialektik. Auf die Neuzeit bezogen, sieht Read eine Rückkehr zur Vitalität und Spontaneität in Kunst, Kultur und Zivilisation (für die Kunst nennt er exemplarisch Henry Moore).

Als "Empörungsschrei eines enttäuschten Idealismus" (1961, S.32), der von schöpferischen Impulsen abgetrennt wurde, geht es heute um die Wiederaneignung von Vitalität und Spontaneität als Lebensprinzip und gegen die "tödliche Starrheit aller bloßen Wiederholung und Nachahmungen" (1961, S.32).

Read stellt damit einen künstlerischen Verfall der modernen Zivilisation fest, der außerdem darin besteht, daß eine tiefe Kluft zwischen "unserer technischen und materialistischen Zivilisation und den künstlerischen und geistigen Werten" (1961, S. 165) vorhanden ist. Diesen Verfall bzw. diese Kluft verbindet er mit einem vorherrschenden Bewußtsein, das er intellektuellen Hochmut, geistige Armut und metaphysische Angst nennt.

Auf dem Weg zu einem libertären Gesellschaftsbegriff

Ausgangspunkt für Reads Gesellschafts- und Kulturkritik sind also Aspekte des Widerstands gegen die Maschinenzivilisation, d.h. "ob es eine Möglichkeit gibt in der Welt der Tatsachen, die sich unausweichlich aus der Wirtschaft der Maschinenproduktion entwickelt hat, einen Platz für unsere moralischen Werte zu finden" (1963, S.39). Unter "Tatsachen" versteht er dabei sozioökonomische Tendenzen und Realitäten wie Arbeitsteilung, Zentralisation, Anhäufung von Kapital, aber auch die Zersiedelung und ökologischen Raubbau. Diese Entwicklung, die für ihn mit der industriellen Revolution in ein Endstadium eingetreten ist, hat zu einer grundlegenden Krise, besser: zu einer Entgleisung kultureller Werte geführt. Kultur wird von ihm im Vergleich zu Zivilisation, die eine "vorwiegend materialistische Erscheinung" (1963, S.42) ist, mit Elementen wie "Natürlichkeit, Vielfältigkeit und Freiheit" (1963, S.42) sowie mit dem Prinzip der "Gegenseitigen Hilfe" beschrieben.

Dieser "natürliche" Rahmen zivilisatorischer Evolution ist verlorengegangen. Andererseits sind derzeitige kulturelle Werte und Normen "nicht etwas, das dem Volke und seiner Lebensweise entspringt, sondern etwas, das dieser Lebensweise durch Erziehung und Propaganda aufgezwungen wird" (1963, S.47).

Was also tun? Oder wie Read fragt: "Wie können wir in einer auf dem natürlichen Prinzip gegenseitiger Hilfe beruhenden Gesellschaft die Lebenslust, den Lebenseifer bewahren?" (1963, S.51)

Für Read kann dieser notwendige Bruch mit der bisherigen Entwicklung nur mit einer Gesellschaftsform vollzogen werden, die dem Primat der Vitalität und Spontaneität gehorcht, und in der sich viele kulturelle Werte frei entfalten und vereinen können. Notwendige Rahmenbedingungen einer solchen revolutionären Gesellschaft sind Freiheit, Verschiedenartigkeit und Überschaubarkeit gesellschaftlicher und politischer Institutionen. Um jedoch einen Übergang zu dieser neuen Gesellschaft überhaupt ermöglichen zu können, müssen vier Wege, die gleichzeitig notwendige Bedingungen sind, eingeschlagen werden:

Neben der Neugestaltung und Neuverteilung der architektonischen Umwelt und Infrastruktur muß zweitens eine gerechte Verteilung von Wohlstand - Wohlstand für alle! - erfolgen. Drittens geht es darum, das Wirtschaftssystem dahingehend zu verändern, daß es dem Arbeitenden eine direkte Verantwortung ermöglicht und schließlich muß viertens das Erziehungssystem prinzipiell geändert werden. Unter dem Motto "Erziehung durch Kunst" (1968) geht es um die Förderung einer ganzheitlichen Sinnesbildung hin zu einem neuen "ästhetischen Gefühl" (1963, S.56). Read folgt mit diesem Kultur- und Gesellschaftsbegriff einem Ideal, das seinen Platz zweifellos in der anarchistischen Ideen- und Philosophiegeschichte hat.

Fazit: Die Kulturkritik Reads ist eine ästhetische Kritik zivilisatorischer Entwicklung. Als Kulturphilosoph sieht er in der Wiedergewinnung von Vitalität als Lebensgrundlage den zentralen Punkt. Es muß eine Revolution des Bewußtseins stattfinden, die dem Zentralismus, Rationalismus und Tech-nizismus unserer Zeit entgegenwirkt. Read konstatiert die Priorität der Geschichte der Kunst vor der Geschichte des Geistes, die letztlich eine Folge der ersten ist.

Reads Anarchismus

Analog zu dem Begriff des "Kathedermarxisten" in Bezug auf Bernstein, Kautsky oder Grünberg, liegt es nahe, bei Read -betrachtet man seine Biographie - von einem "Kathederanarchisten" zu sprechen.

Sieht man von der allgemein diffamierenden Wertung dieses Begriffs ab, dann zeigt diese Zuschreibung jedoch den richtigen Weg einer Interpretation von Reads Lebenswerk. Er steht zweifellos nicht in der ersten Reihe jener revolutionären Frontkämpfer für die Idee der Anarchie.

Read ist vielmehr einer ihrer Kulturphilosophen, der ähnlich Kropotkin oder Godwin, den wissenschaftlichen und intellektuellen Nachweis von der Notwendigkeit herrschaftsfreier Verhältnisse und Verfaßtheiten liefern wollte. Damit reiht er sich in die Phalanx jener angelsächsischer Gegenwartsintellektuellen ein, die die Idee des Anarchismus als die ihre begreifen. Noam Chomsky als Linguist (z.B. 1987), Georg Woodcock als Literaturwissenschaftler (z.B. 1988), Colin Ward als Sozialwissenschaftler und Architekt (z.B. 1973), Murray Bookchin als Sozial-Ökologe (z.B. 1985) verkörpern wie Read eine neue Generation intellektueller Anarchisten, die sich um eine metatheoretische Begründung gesellschaftlicher, politischer und kultureller Zusammenhänge im Geiste libertärer Kritik einsetzen.

Bei der Frage nach Reads Anarchismus bzw. der Frage nach dem Stellenwert libertären Denkens in seinem Gesamtwerk, soll zunächst ein kurzer Blick auf seine Selbsteinschätzung geworfen werden. Im Vorwort zu seinem Sammelband "Anarchy and Order" bemerkt Read:

"Dieser Band enthält alle Schriften, die ich speziell zum Thema Anarchismus geschrieben habe. Es gibt jedoch keine prinzipielle Trennung zwischen dem, was ich zu diesem Thema und dem, was ich allgemein zu sozialen Problemen ("The Politics of the Unpolitical"), oder zu sozialen Aspekten der Kunst ("Art and Society" und "The Grass Roots of Art") oder zu sozialen Aspekten der Erziehung ("Education through Art" und "Education for Peace") geäußert habe. Dieselbe Philosophie wird sowohl in meiner literarischen Kritik als auch in meinem dichterischen Werk offensichtlich" (1974, S.9). Diese, im Rückblick geäußerte Einschätzung, wird verstärkt durch eine ganze Reihe von Kontakten zu englischen Anarchisten in den 30er und 40er Jahren.

Der im folgenden zitierte Brief vom 18. April 1945 an Bertrand Russell soll exemplarisch hierfür stehen (4):

"Lieber Herr Russell,

haben Sie vielen Dank für Ihren Brief vom 15. d.M. Ich lege Ihnen eine Ausgabe von "War Commentary", einer anarchistischen Zeitschrift bei, die eine genaue Erklärung des Polizeigerichtsverfahrens vom 9.März gibt, als 4 Anarchisten angeklagt wurden, sowie Details der Anklage gegen sie. Außerdem lege ich eine Kopie des Schreibens bei, auf das sich die Anklage offenbar hauptsächlich stützt.

Ich hoffe, daß sie aus diesen Dokumenten ersehen können, daß dies eine unerhörte Einmischung der Politischen Polizei in das Recht auf freie Meinungsäußerung ist und daß Sie keine Bedenken haben, uns ihr Einverständnis zu geben zur Verwendung ihres Namens als Unterstützer unseres Einspruchs. Persönlich hoffe ich, daß Sie auch vorbereitet sind, noch weiter gehen zu können.

Ich erinnere mich an den wohlwollenden Bericht, den Sie über Anarchismus in "Roads to Freedom" (5) schrieben - und wenn Sie immer noch so empfinden, wie sie damals sprachen, sind Sie vielleicht bereit, als Zeuge zu erscheinen, wenn der Fall nächste Woche vor dem Londoner Hauptkriminalgericht von Richter Birkett verhandelt wird. Anklagevertreter ist der Generalstaatsanwalt. Unser Anwalt ist Herr Maude K.C. Wenn Sie die Bereitschaft und die Zeit haben, dies für uns zu tun, werde ich unseren Anwalt fragen, ob er sich mit Ihnen in Verbindung setzt.

Was wir fragen möchten ist Ihre Feststellung von der philosophischen Rechtschaffenheit der Ansichten, die wir Anarchisten vertreten und unserem Recht, dies frei zu vertreten."


Jedoch auch aus der Perspektive Dritter wird Read, vor allem in seiner Heimat England, stark mit dem Anarchismus identifiziert. Für den Zeitraum Mitte unseres Jahrhunderts schreibt der englische Anarchist Nicolas Walter in seiner Rezeptionsgeschichte anarchistischer Printmedien (1971, S. 128), daß Read mit seinen Essays und Pamphleten in der libertären "Freedom Press" (London) die wahrscheinlich einflußreichsten Schriften in dieser Edition verfaßte (z.B. "The Education for the Free Man", 1944; "Freedom: Is it a crime?", 1945; "Kropotkin: Selections from his Writings", 1942; "The Philosophie of Anarchism", 1940) und auch G. Woodcock kommt in seinem Sammelband (1977) zu dem Schluß, daß Read in den letzten Jahrzehnten zum einflußreichsten anarchistischen Theoretiker in Sachen Bildung und Erziehung wurde (1977, S.266).

In der BRD fällt eine Rezeption Reads als Anarchist dagegen eher zurückhaltend aus. 1952 erschien in der Zeitschrift Die Freie Gesellschaft in zwei Folgen eine Übersetzung seines Traktates "The Philosophy of Anarchism" und provozierte eine Stellungnahme in der Zeitschrift Befreiung (6). Ansonsten blieb es um ihn in der deutschen libertären Szene recht ruhig und erst seit den 70er Jahren finden sich wieder magere Spuren von Reads Anarchismus in deutschen Publikationen (Achim v. Borries/I. Brandies 1970; April Carter 1979; H. Read 1982; H.Ahrens/H.-J. Degen/Chr. Geist 1982; H.-J. Degen 1987) (7) Auch Monographien über den deutschen Nachkriegsanarchismus lassen eher die Vermutung zu, daß Read hier nur nebensächlich eine Rolle spielt (vgl. G. Bartsch 1972/1973; G. Holzapfel 1985; H. Jenrich 1988). A.v. Borries und I. Brandeis, die 1970 nach einer längeren Rezeptionspause erstmals wieder auf Reads Verhältnis zum Anarchismus hinweisen, bemerken, daß er "der namhafteste der nicht sehr zahlreichen englischen Intellektuellen der letzten Jahrzehnte (ist), die sich zum Anarchismus bekannten" (1970, S.434).

Read entwickelte seine Philosophie des Anarchismus zu einer Zeit, die zu dem bislang traurigsten Höhepunkt europäischer Kultur in unserem Jahrhundert zählt. Jedoch nicht nur dieser Barbarei stellte sich Read in den Weg. Auch dem Marxismus als Erlösungsstrategie und -philosophie sprach er die Kompetenz und Potenz ab, Klassenverhältnisse zu beseitigen oder sozialistische Verfaßtheiten zu garantieren.

Read war in diesem Kontext ein Querdenker wider allen totalitären Konzepten und gründete seine libertäre Einstellung auf eine ganze Reihe klassischer Anarchisten. Bereits in seiner Jugend las er Proudhon, Kropotkin und Tolstoi, zu denen später neben William Morris und John Ruskin auch Stirner oder Buber dazu kommen sollten. Der besondere Einfluß, den Kropotkin auf ihn hatte, läßt sich an vielen Stellen verfolgen. Schlüsselbegriffe Reads bei der Überprüfung gesellschaftlicher Wirklichkeit sind Freiheit und Gemeinschaft, wobei er Gemeinschaft im Sinne Kropotkinscher "Gegenseitiger Hilfe" als solidarisches Verhalten verstanden wissen will.

Die Analyse sowohl bestehender moderner demokratischer als auch staatssozialistischer Systeme brachte ihm die Erkenntnis, daß die Maximen politischer Moral, nämlich Freiheit und Gemeinschaft, hier nicht zur Geltung gebracht werden können. Die Dynamik sozialer und kultureller Evolution hat für ihn ihren Ausgangspunkt in dem Verhältnis von Individuum und Gruppe. Read schreibt: "Das Individuum und die Gruppe - das ist der Beziehungskreis, aus dem alle Kompliziertheit unserer Existenz entspringt und auch unser Bedürfnis, diese zu entwirren und zu vereinfachen. Das Bewußtsein selbst ist aus dieser Beziehung geboren, und ebenso alle Instinkte der Gegenseitigkeit und der Sympathie, die in Form der Moral kodifiziert werden" (1982, S. 13).

Dieses Spannungsverhältnis, das auch als das Verhältnis von Integration versus Individuation bzw. Sozialisation und Personalisation gesehen werden muß, kann für Read weder mit staatssozialistischen noch mit demokratisch-etatistischen Lösungen zufriedenstellend geklärt werden. Es bedarf vielmehr einer gesellschaftlichen Struktur, die Vitalität und Kreativität garantiert.

Vitalität und Kreativität sind für ihn weitere Schlüsselbegriffe, die anthropologische Merkmale des Menschen beschreiben. W. Holtmann definiert diese Essenz Readschen Denkens als einer "Organische Gesellschaftstheorie" (1976), die der Kern seiner Philosophie des Anarchismus ist. W. Holtmann: "Sie (gemeint sind Reads Beiträge zur Diskussion von Kunst und Gesellschaft) stellen keine neutralen und objektiven Erörterungen dar, sondern Eingriffe in weltanschauliche Kämpfe um leidenschaftlich erfaßte Werte. Ihr Ziel ist die Sicherung des menschenwürdigen Lebens. Die Bedingungen dazu sind nach Read nur in organischen, d.h. anarchistischen Gemeinwesen gegeben. Nur in ihnen lassen sich Freiheit und Gemeinschaft zu einer Synthese bringen" (1976, S.138f.)

Zusammengefaßt ist festzustellen, daß Read auf der Suche nach einer Erneuerung anarchistischer Philosophie zur Erklärung bzw. Begründung bestehender autoritärer und zukünftiger libertärer gesellschaftlicher Verhältnisse war. Er unternahm den schweren Versuch, aus der Sicht eines Anarchisten philosophisch, psychologisch und soziologisch die Postmoderne in ihrer ganzen Vielfalt und Verflochtenheit zu beschreiben. In seinem ersten größeren Werk über Anarchismus mit dem Titel "Dichtung und Anarchie" lesen wir 1938 sein libertäres Credo:

"Ich sage nicht, daß wir auf Bakunin zurückgreifen müssen. Man findet viele edle Gefühlsregungen in seinen Schriften und sein Leben war ungeheuer heldenhaft, aber er hat unserer heutigen Zeit nichts Praktisches mitzugeben. Kropotkin, auch er ein großartiger heldenhafter Mensch, ist mehr praxisorientiert, aber auch seine Pläne sind überholt angesichts der intensiven Weiterentwicklung moderner Produktionsverfahren. Seit Kropotkin ist der Anarchismus langsam modernen Erfordernissen gerecht geworden. In seiner politischen Wirklichkeit ist er als Syndikalismus bekannt. Überall, wo der Anarchismus eine bedeutende politische Kraft darstellt, wie z.B. in Spanien, hat er sich mit dem Syndikalismus verbunden. Anarcho-Syndikalismus ist ein schwerfälliger, langer Ausdruck, beschreibt jedoch gut die anarchistische Doktrin in ihrer heutigen Form" (1980, S.198f.)

Anmerkungen:
(1) Eine vollständige Bibliographie seiner Werke liegt noch nicht vor. Auswahlbibliographien vgl. G. Woodcock: Herbert Read - The Stream and the Source, London: Faber & Faber 1972; H. Gerwin: A Checklist of the Herbert Read Archive in the McPherson Library of the University of Victoria. In: R. Skelton (Ed.): Herbert Read. A Memorial Symposium. London: Methuen 1970, S. 192-258; dt. Übersetzungen sowie internationale Auswahlbibliographie befinden sich in Vorbereitung: H. Read: Kunst, Kultur und Anarchie. Essays wider den Zeitgeist. Mülheim: Trafik 1990.
(2) Ausführlichere Biographie vgl. G. Woodcock: Herbert Read...
(3) Adolf Konrad Fiedler, 1841-1895; Kunsttheoretiker und Mäzen. Werke: Konrad Fiedlers Schriften; 2 Bände. München: Piper 1913.
(4) Der Brief Reads steht im Zusammenhang mit seinem Engagement bei der Verteidigung von vier Mitgliedern des "Freedom Press" Verlages in London 1945, die gegen das Kriegspresserecht verstoßen hatten und verhaftet worden waren. Abgedruckt als Faksimile ist dieser Brief bei G. Woodcock: The Philosophy of Freedom. In: Robin Skelton (Ed.): Herbert Read. A Memorial Symposium London: Methuen 1970, S.71 (erstmals in: The Malahat Review. Ja-nuary 1969 (University of Victoria, Ganada). Die Übersetzung ins deutsche besorgte der Autor.
(5) Anmerkung des Übersetzers: Road to Freedom: Socialism, Anarchism and Syndicalism. London 1918; dt.: B. Russell: Wege zur Freiheit. Sozialismus, Anarchismus, Syndikalismus. Frankfurt/ M.:Suhrkamp 1971.
(6) Kritik an Herbert Read's Philosophie des Anarchismus. In: Befreiung. Blätter für anarchistische Weltanschauung. Oktober 1952, auch in: H. Read: Philosophie des Anarchismus. Berlin: Ahde 1982, S.26-32.
(7) Anfang 1990 erscheint unter dem Titel "Herbert Read - Kunst, Kultur und Anarchie" ein Sammelband, hrsg. von U. Klemm, in der Edition Trafik (Mülheim).

Literatur:


Aus: Schwarzer Faden Nr. 34 (1/1990)

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