Max Nettlau - Nationalismus und Internationalismus

Auch wenn manche Textteile beim Lesen einen ziemlich fahlen Beigeschmack hinterlassen – beispielsweise einen positiven Bezug auf „kulturellen Nationalismus“ – sind die Schlussfolgerungen von Max Nettlau doch klar gegen jeden nationalen Wahn gerichtet. Der Autor plädierte 1932 – also kurz vor der Machtergreifung der NationalsozialistInnen für einen Internationalismus, der die Schranken der Nationalstaatlichkeit durchbricht und wendet sich gegen die nationalistische Verblendung und ihre Folgen. An die Stelle der Nationalstaaten solle eine freie Föderation ohne Grenzen und Staat treten, die global vernetzt zu einem solidarischen Ausgleich bevorzugter Gebiete (Rohstoffe...) und ärmere Gegenden führen soll. Oder mit einer alten Parole ausgedrückt: „ProletarierInnen kennen kein Vaterland!“ ;-)

Nationalismus und Internationalismus

Nationalismus und Internationalismus sind wie Individualismus und Sozialismus Teile des allgemeinen Problems der Menschheit, das Leben jedes einzelnen unbeeinträchtigt und möglichst gefördert durch das Leben seiner Mitmenschen sich abspielen zu sehen. Frühere Entwicklungsstufen ließen den einzelnen in der Gesamtheit untergehen oder nahmen Eingriffe des einzelnen in das Leben Schwächerer als unvermeidliche Tatsache hin, für die sich immer Apologeten fanden. Ersteres war das Schicksal der Tierwelt, wenn wir mit Recht vermuten, daß diese Unterwerfung unter einen überlieferten Gesamtwillen die individuelle Betätigung derart hemmte und verkümmern ließ, daß nur jener Gehorsam festen Regeln gegenüber, den wir "Instinkt" nennen, im Tier wirksam zu sein scheint, neben welchem eigenes Denken zwar die Wahl der zweckmäßigen Instinkthandlung bestimmt, sonst aber keine wirklich neuen Wege mehr sucht - soweit wir dies beurteilen können. In den Menschentieren aber gewann unter uns unbekannten Umständen dieses eigene Denken doch das Übergewicht über die Instinkthandlungen, setzte allmählich wirksamere Handlungen an deren Stelle und erwarb sich so Hilfskräfte, das Werkzeug und die Arbeit an erster Stelle, um dann in sehr langsamer Entwicklung, von der nur ein kleiner Zeitraum, wenige Jahrtausende, uns näher bekannt ist, die Menschen auf eine gewisse Höhe zu bringen, auf der sie sich "Herren der Schöpfung" nennen, weil sie allen übrigen Lebewesen überlegen zu sein glauben.

Im Lauf dieser Entwicklung spielte gewiß Differenzierung eine Hauptrolle, das heißt größerer Fortschritt unter besonders günstigen Verhältnissen, die Individualisierung einer Masse gegenüber, und daraus entstanden die materielle Vormacht von Kraft und Intelligenz und die Massenpsychose der Resignation und des Gehorsams, auch die geistige Passivität der großen Mehrheit, und diese Ungleichheit wurde mit allen Unterdrückungsmitteln verewigt, mit allen Betörungsmitteln eingeprägt und wird erst der vollständigen sozialen Revolution weichen, deren Kommen also mit dem Aufstieg der Menschheit untrennbar verbunden ist.

Bis dahin verkörpert jede uns umgebende von der heutigen Öffentlichkeit sanktionierte Einrichtung das Vorrecht der Stärkeren und sucht dasselbe zu erhalten und zu verstärken. Individualismus, höchste persönliche Entwicklung in dem wahren Sinn dieses Wortes, bedeutet unter solchen Umständen heute vor allem Egoismus und nach Möglichkeit Tyrannei und Ausbeutung, sowie Nationalismus unter den gleichen Umständen nationalen Dünkel und Haß, unbedingtes Vorrecht der eigenen Nationalität und Feindseligkeit gegen alle anderen Nationalitäten bedeutet, und zwar, da der Staat die unsozialste Zusammenfassung materieller Machtmittel ist, vorzugsweise in der Form des Nationalstaats. Es ist wesentlich, einzusehen, daß all diese uns umgebenden so vielfachen Unvollkommenheiten ein Ganzes bilden, eine Entwicklungsstufe, gegen die jetzt allerseits sie zu überwinden entschlossene Kräfte heranwachsen: diese Kräfte, deren Zahl noch beschränkt ist, müssen mit besonderer Klugheit eingesetzt werden. Die letzten 150 Jahre, in denen erst dieser Kampf in größerem Umfang aufgenommen wurde, zeigen, daß es nicht möglich war, die Vergangenheit zu überrennen, weder durch große Revolutionen, noch durch die wunderbare Blüte der Wissenschaft des neunzehnten, die Blüte der Technik des zwanzigsten Jahrhunderts, noch durch die geistige Aufklärung des achtzehnten, auch nicht durch den grandiosen Appell an alle Unterdrückten und Ausgebeuteten, den der Sozialismus in seiner ersten Blüte und Organisationsformen, wie die Internationale von 1864, und so viele Taten sozialer Empörung bilden. Es ist nötig, auf all diesen Gebieten fortzufahren, aber auch die Angriffskräfte zu spezialisieren, um ihre Wirkung zu vertiefen. Da hierbei manchmal das Gesamtziel aus dem Auge verloren wird, ist die richtige Verteilung dieser Kräfte sehr schwer. Manche schreiten vor, andere bleiben zurück, andere irren sich bezüglich der Richtung, in der das Hauptziel liegt oder überschätzen Teilerfolge und ruhen bei ihnen vorzeitig aus. Man sprach wohl schon von einer Internationale des Fortschritts, aber sie scheint jetzt praktisch in weiter Ferne zu liegen, während die internationale Reaktion die Welt beherrscht. So kam es auch, daß für uns selbst so viele Fragen noch nicht geklärt sind und immer wieder aufgeworfen und debattiert werden, so die des Verhältnisses von Individualismus und Sozialismus, von Kollektivismus und Kommunismus, die der verschiedenen Organisationsformen usw. und auch die von Nationalismus und Internationalismus, die ich hier betrachten möchte.

Spärliche Menschenhorden, nahrungssuchend und vor allem auf ihren Schutz bedacht, durchwanderten die ergiebigsten Gegenden, begründeten Siedlungen und wurden bei Begegnung mit anderen Horden Sieger oder Besiegte, Herren über sie oder ihre Sklaven, mit ihnen verschmelzend oder oft ganz ausgerottet. So wurden die Menschen ungezählte Jahrtausende hindurch gruppiert und umgruppiert, von erfolgreichen Despoten zusammengerafft, und bald wieder in Volksgruppen zerfallend, mit manchen Nachbarn sich allmählich befreundend, mit anderen beständig verfeindet. Die Geschichte dieser unsern wenigen Jahrtausenden gegenüber endlos langen Zeit ist nicht überliefert, und unsere Kenntnis beginnt mit der Kunde großer orientalischer Despotien, in welche die verschiedenartigsten Volksstamme hineingezwungen waren, und kleinere Gebiete die jenen Despotien noch Widerstand leisteten, und jenseits derselben vielleicht lockerer Bünde von Stämmen, bis ein Despot die Vormacht erlangte. Europa, das uns ja gerade für jene Zeit so wenig bekannt ist, bot noch Raum für Stammeswanderungen, die von ärmeren Gegenden in fruchtbarere führen sollten, wodurch die nach Süden dringenden Stämme dann mit dem| Orient in direkte Berührung kamen (Balkanhalbinsel), oder von ihm durch die Mittelmeerschiffahrt kolonisiert und in Handelsverkehr gezogen wurden.

Diese Begegnung von so verschiedenen Völkergruppen, auf dem zu einer Massenbeherrschung nicht geeigneten Gebirgs- und Inselterrain des südöstlichen Europa, erlaubte weder jenen europäischen Stämmen, die ältere vorderasiatische und ägyptische Kultur zu zerstören, noch dem asiatischen Despotismus, sich dieselben zu unterwerfen, und sich selbst nach Europa vorzuschieben, und dieser erste und bekannte relative Gleichgewichtszustand, bei dem aber keine Erschlaffung eintrat, war wohl der erste Zustand, in welchem wenigstens kleine, sehr kleine Teile der Menschheit bedeutenden geistigen Fortschritt machten.

Wäre dies schon jemals früher geschehen, würde der Faden der Überlieferung wohl nicht abgerissen sein, wie er seit jener urgriechischen Zeit vor etwa 3000 Jahren nicht abgerissen ist. Aus früherer Zeit und von anderen Völkern kennen wir nur die primitiven religiösen Vorstellungen, ausgebildete Gesetz- und Verwaltungsnormen despotischer und monopolistischer Art und die Anfänge astronomischer Beobachtungen; daneben hatte jedes Volk seine Stammsagen, in denen seine Kämpfe verherrlicht wurden, analog der heutigen Verbreitung des Patriotismus durch Schule, Presse und so viele andere Mittel. Dies war eine der Quellen des Nationalismus. Als die griechischen Denker und Künstler zum ersten Male von der Religion und Tradition unabhängig zu denken und zu schaffen wagten, und die Künstler dem allgemein menschlichen Schönheitsideal so nahe kamen, und einiges von dieser Denk- und Schönheitsfreude sich auch in weitere Kreise eines Teiles dieses Volkes verbreitete, entstand daneben schon jener Bildungsstolz, der weniger begünstigte Teile dieses Volkes als Böotier oder ungebildete Spartaner verhöhnte und für den die übrigen Völker nur "Barbaren" waren - dies war eine zweite Quelle des Nationalismus und rächte sich schon innerhalb von Griechenland selbst, indem das hochmütige Athen von Sparta ruiniert wurde, und später kam ganz Griechenland unter die Faust der mazedonischen Halbbarbaren. Der schwere Kampf zur Abwehr des persischen Despotismus intensivierte den kriegerischen Patriotismus und den Stolz, relativ freie Einrichtungen gegen den Despotismus zu verteidigen. Eine Menschheitssolidarität kannte man in jenem Zeitalter des Sklaventums nicht, und jedes Volk glaubte aufrichtig, das beste zu tun, wenn es sich aufs äußerste verteidigte, da ihm sonst nur Plünderung Tod oder Sklaverei bevorstanden. Ein Lichtblick waren Föderationen wie die griechische und Bündnisse und Verträge, zu welchen die Sicherung des durch Städtegründungen usw. sich ausdehnenden Handelns einen Anstoß gab.

Bald wurde aber Griechenland ein Teil des Weltreichs Alexanders von Mazedonien, dann des römischen Weitreichs, und seine Patrioten fanden sich mit der verlorenen Unabhängigkeit ab, da ihnen ihre kulturelle Überlegenheit gute Behandlung und Einfluß sicherte wurden meist überzeugte Imperialisten und gelangten dadurch zum erstenmal zu einem falschen Internationalismus, der Völkersolidarität innerhalb dieser Weltreiche gegenüber den "Barbaren" außerhalb derselben und den aus der Menschheit gestrichenen Sklaven überall. Immerhin lag darin eine diskrete Zurückweisung des Standpunktes des römischen Bürgers, der eben nur eroberte und zum Frieden zugelassene Völker vernichtete und zu Sklaven gemachte Völker und "Barbaren" außerhalb der Grenzen kannte und für die beschönigende griechische Ideologie keinen Sinn hatte.

Das Christentum, als verfolgte Sekte allen Völkerschaften offenstehend und auch die Sklaven nicht ausschließend, gelangte bald unter die Kontrolle seiner Priesterschaft, die es verstand, die Völker innerhalb und außerhalb der römischen Grenzen unter ihr geistiges Joch zu beugen. Wieder entstand ein Weltreich mit gemeinsamem geistigen Patriotismus, der offiziellen Religion, und bitterster Feindschaft gegen Andersdenkende, innerhalb und außerhalb der religiösen Grenzen - Ketzer, freie Denker und Heiden, d.h. Andersgläubige, und im Interesse der alleinherrschenden neuen Religion wurde die alte Kultur preisgegeben, wurden West und Ost blutig getrennt, vollzogen sich die Greuel der Kreuzzüge und wurde noch nach vierzehn und fünfzehn Jahrhunderten diese Diktatur durch Inquisition und Jesuitengründung neu befestigt, und die endlich aus ihr flüchtenden, die protestantischen Richtungen, waren zu wirklicher, geistiger Selbstbefreiung unfähig und tragen freiwillig das religiöse Joch bis heute weiter.

Hierdurch wurden für mehr als ein Jahrtausend die antiken Keime allgemein menschlicher Anschauungen und beginnenden wissenschaftlichen Denkens zertreten. Das Altertum schien nur ein Erbstück hinterlassen zu haben: römische Machtgier, Härte, Grausamkeit, und jeder Barbarenstaat, groß oder klein, suchte ein neues Rom zu werden, allen anderen feindlich, beutegierig und nur die überall gleich mächtige Kirche respektierend, die eben - wie heute das Finanzkapital - jederzeit überall eine Krise erregen, eine Katastrophe herbeiführen konnte. Die Völker waren da nicht nationalistisch und nicht internationalistisch, weil sie einfach gar nichts bedeuteten; sie hatten zu gehorchen und führten die Kriege aus, die weltliche und geistliche Macht- und Beutegier ihnen diktierten. Gewiß versuchten die Städte ihr eigenes Leben zu führen und wurden zeitweilig ein Machtfaktor durch Städtebünde, und die Bauern empörten sich an vielen Orten, aber all dieser Widerstand wurde blutig unterdrückt, und die modernen Staaten, auf den Trümmern kleinerer Staaten und lokaler Unabhängigkeiten errichtet, gingen als Sieger hervor. Das immer methodischere Gewaltregime des sechszehnten bis achtzehnten Jahrhunderts wurde begründet.

So wurde also wieder unzähligen Menschen ihre engere Heimat genommen, um sie von der Beamtenschaft ferner Staatszentren regieren zu lassen. Dies gereichte manchen den Zentren nahen oder aus diesem oder jenem Grund gefügigen Bevölkerungen zum Vorteil, und bei diesen bildete sich das sogenannte Staatsgefühl aus, und sie verschmerzten und vergaßen das verlorene lokale Leben. Für andere blieben die Wunden offen, und ihre Sehnsucht oder ihr Wunsch nach Rache war eine neue Quelle des Nationalismus.

Dynastische Interessen, Diplomatenränke und die allseitige Gier nach Besitz- und Machtvermehrung auf Kosten Schwächerer begründeten also die modernen Staaten, neben ihnen aber auch der wachsende Einfluß ökonomischer Verhältnisse, sobald nur die Produktion und der Handel den mittelalterlichen Verhältnissen lokaler Kleinproduktion und Selbstversorgung entwuchsen. Von da ab waren Gebiete von gewisser Größe zweckmäßig und mußten für jeden Staat geschaffen werden, der lebens- und verteidigungsfähig bleiben wollte. Dies wurde für Frankreich, für Österreich-Ungarn, für England – Schottland - Irland, im neunzehnten Jahrhundert für Deutschland und Italien verwirklicht und hatte sich auch für Spanien und Rußland längst ergeben, während die Türkei nach einer Eroberungsperiode in eine kontinuierliche Verlustperiode eintrat, die skandinavischen Staaten schließlich auf ihr eigenes Territorium beschränkt wurden und Polen durch mehr als ein Jahrhundert als Staat eliminiert wurde. Dazu kamen die ungeheuren amerikanischen Wirtschaftsgebiete, die sich erst mit Europäern füllten und lange die europäischen Verhältnisse nur wenig beeinflußten.

Diesen Entwicklungen gegenüber schwieg der Nationalismus, denn sie kamen ökonomisch auch den national unbefriedigsten zugute. Ja, er stimmte mit allen Einigungsbestrebungen überein; das geeinte Deutschland und Italien waren seine Ziele, wie vorher das unteilbare Frankreich und die nordamerikanischen Vereinigten Staaten. Im achtzehnten Jahrhundert schien die Existenz der ökonomischen staatlichen Einheiten so gesichert, daß freundliche internationale Gefühle die vorgeschrittensten Kreise beseelten - Freimaurer, Illuminaten, Kosmopoliten (Weltbürger), eine Strömung, die in der entstehenden internationalen Naturforschung des siebzehnten und im philosophisch-historisch-ästhetischen Humanismus des fünfzehnten und sechszehnten Jahrhunderts Vorbegründer hatte.

Dann wurden die fortschrittlichen Entwicklungen jäh gestört durch das Entarten der französischen Revolution zur militärischen Diktatur Napoleons und die französische Eroberung großer Teile des europäischen Festlandes. Diese gewaltsame Beeinträchtigung des nationalen Lebens erweckte den kulturellen Nationalismus, der zunächst in romantischer Pflege der lokalen Geschichte, Tradition und Eigenart z.B. der Wachrufung früherer Blüteperioden der Kunst und der Literatur, des verklungenen Volksliedes und der Märchen, Trost suchte. Hieraus entwickelten sich später und besonders da, wo eine solche Vergangenheit nicht die erhoffte Reichlichkeit bot, viel einseitigere nationale Reklamationen, besonders die nach der Wiederbelebung von Sprachen, deren Geltungskreis beschränkt geblieben war, auf dem Fuß der Gleichheit mit allgemein verbreiteten Sprachen. Mit einem Wort, der kulturelle Nationalismus wurde zum politischen Kampfmittel gemacht, und dies erregte auf der anderen Seite Erbitterung, da es in das praktische Leben der Gegenwart um jeden Preis störende, d.h. den allgemeinen Verkehr erschwerende Faktoren aus der Vergangenheit hineinbrachte, die man als der fernen Vergangenheit angehörend zu betrachten gewohnt war.

Hier stießen eben notwendigerweise verschiedene Auffassungen zusammen, diejenige großer Völker, welche kaum begriff, daß man die durch zunehmende Bildung erleichterte Verständigung über weite Gebiete hin durch besondere Pflege lokaler Sprachen wieder erschweren wollte, und diejenige der Angehörigen dieser lokalen Sprachen, deren nationale Bewegungselemente wenigstens unermüdlich diese Sprachen neu beleben und ihnen öffentliche Gleichstellung usw. verschaffen wollten, und die zu diesem Zweck allmählich für Separatismus und nationale Einheitsstaaten eintraten, was diese Fragen zu allgemein politischen, und was man lange Zeit wenig beachtete und zu spät in seiner vollen Bedeutung erkannte, auch wirtschaftlichen Fragen machte.

Es war den Nationalisten sehr leicht, sich als Opfer früherer geschichtlicher Niederlagen, manchmal vor vielen Jahrhunderten, zu betrachten, und ebenso vom abstrakten Gleichheitsstandpunkt aus die Gleichberechtigung aller Sprachen zu erklären. Wenn dagegen behauptet wurde, daß die jetzige Menschheit ihren eigenen Weg zu gehen habe, Gerechtigkeit unter sich selbst herstellend - eine ungeheure Aufgabe, die nicht noch durch die Wiedergutmachung aller in der früheren Geschichte begangenen Irrtümer kompliziert werden könne -, erschien dies natürlich als grausame Abweisung. Ebenso konnte geltend gemacht werden, daß die Sprachen als Verständigungsmittel je nach der Zahl der von ihnen erreichten Menschen einen verschiedenen Nutzwert besitzen, und daß der Ausbau von Sprachinseln für kleine Sprachen der allgemein angestrebten Verkehrserleichterung zuwiderlaufe; dem wurde manchmal mit der Drohung des Anschlusses an andere Weltsprachen geantwortet, einer politischen Kampfhandlung also, die das Fehlen des Verständigungswillens zeigte. Kaum beachtet blieb die Tatsache, daß auch die größten Sprachen seinerzeit dadurch entstanden, daß von zahlreichen Dialekten sprachlich gleichen Werts und Rechts durch historische Verhältnisse ein einziger allmählich die Hauptgeltung bekam, und daß alle anderen Dialekte längst ihm gegenüber auf öffentliche Gleichstellung usw. verzichtet haben, ohne dadurch ihr eigenes lokales Leben und manchmal ihre literatische Ausübung aufzugeben. Wenn die englische, französische, spanische, italienische, deutsche, russische und andere Weltsprachen so durch den Verzicht unzähliger Dialekte ihre jetzige Form erhielten, dann konnte von den Angehörigen kleiner Sprachen, die sie ja ohnedies praktisch benützen, auf diesem Gebiet ähnliche Rücksicht verlangt werden.

So ist z.B. die bis zum siebzehnten Jahrhundert auch im Druck vielfach gebrauchte niederdeutsche Sprache seit damals dem Hochdeutsch im öffentlichen Leben, im Druck usw., vollständig gewichen, ohne daß sie in den vielen Formen des Plattdeutsch je sprachlich zurückgewichen wäre. Das Hochdeutsch selbst beruht auf dem Verzicht der südlichen Mundarten zugunsten eines von ihnen allen ziemlich entfernten Mitteldeutsch, während die Mundart von der Schweiz und dem Elsaß bis zu den östlichen Sprachinseln hin ungestört weiterblüht.

Ebenso sind die schottische Form des Englischen, alle italienischen Dialekte, die südfranzösischen und katalonischen Schwestersprachen des Nordfranzösischen und des kastilianischen Spanisch zurückgetreten, ohne dadurch ihr Eigenleben zu verlieren; kurz, überall wo heute fünf Sprachen sind, sind gewiß fünfzig Dialekte und Dutzende darunter, aus denen mit Leichtigkeit lokale Sprachen werden könnten, die dann einen lokalen Nationalstaat erfordern würden. Da die Menschen aber sich nicht als ethnographisches Museum gruppieren, sondern frei auf der Erde bewegen wollen, so werden in der Regel für Dialekte und kleine Spracheinheiten keine Staaten gegründet. Jedes Kind in allen Ländern lernt zum Dialekt und zur häuslichen Umgangssprache die Schriftsprache dazu, und eine grosse Welt eröffnet sich ihm auf Kosten einiger Mühe im meist arbeitsfreien Schulalter. Statt dessen Heranwachsende in kleine Sprachen einzusperren, wie es z.B. jetzt mit dem Litauischen und dem Irischen geschieht, empfinden viele als Rückschritt, ohne der lokalen Pflege solcher Sprachen nahetreten zu wollen.

Wir sahen auch, daß man z.B. in Frankreich den tatsächlich bescheidenen Wünschen der Bretonen nie entgegenkam, und ebensowenig hatte man im früheren Großbritannien für die ganz künstliche Wiederverbreitung des lokal sehr begrenzten und beinahe schriftlos gewordenen Irländischen Sympathien, und das noch lebende schottische Gälisch blieb auch tatsächlich in diesem schlummernden Zustand, während mit dem Irischen Freistaat das Irische jetzt dem Englischen im öffentlichen Leben gleichsteht. Die verbreitetste keltische Sprache, das Cymrische in Wales, ist eine der wenigen kleinen Sprachen, um die nie Kämpfe ent- standen, weil ihr öffentlicher Gebrauch und der dortige Gebrauch des Englischen nach dem praktischen Bedürfnis geregelt wurde und nicht im Sinn weder des Nationalismus noch der unbedingten Vorherrschaft der großen Sprache, wie sie in Frankreich dem Bretonischen gegenüber besteht.

Manche kleineren Sprachen traten im neunzehnten Jahrhundert erfolgreich in die öffentliche Sprachwelt ein, nachdem die erwähnte romantische Periode den Geist der Vergangenheit neu belebt und nachdem auch örtliche Hindernisse, nicht nur staatlicher Druck oder Fremdherrschaft, sondern auch in manchen Fällen weitverbreiteter Bildungsmangel weggefallen waren oder sich vermindert hatten. So die Neugriechische, Rumänische, Serbisch-Kroatische, Slovenische, Tschechische, die Vlämische und die Katalonische, ebenso die Magyarische, Finnische und das ferne Isländische, auch das Kleinrussische. Daß sie dies konnten, zeigt, daß sie in früheren Jahrhunderten nichts weniger als Ausrottungsprozessen ausgesetzt waren; sie waren und sind jederzeit die lokalen Volkssprachen, die durch Unterrichts- und andere Beschränkungen nur um so fester im Volk wurzelten und bei dem geringen Verkehrsleben jener Jahrhunderte in ihrem Wachstum wenig gestört wurden.

Das zwanzigste Jahrhundert belebte nun die letzten, noch Generationen länger schlummernden kleinen europäischen Sprachen mit nationalen Geltungswünschen, und gab manchen derselben Nationalstaaten - das Estnische, Lettische, Litauische, Albanische, das Bretonische, das Irische (das Cymrische hatte nie eine Unterbrechung seiner literarischen Ausübung erfahren), das Baskische, das Galizische (Galaico, in Nordwestspanien). Ich sehe hier von den nicht wenigen im heutigen Rußland, vom Weißrussischen zu den vielen innerrussischen und Kaukasussprachen, zu lokaler Geltung gekommenen Sprachen ab, ebenso vom Armenischen. Lokal sich betätigend, aber ohne nationalstaatliche Ambitionen sind noch die keltischen Sprachen der Insel Man und des schottischen Hochlands, die rhaetoromanischen Dialekte, das Jiddische, das Slawische der Slowakei und der Lausitz, das Lappländische, die Zigeunersprache, Maltesische usw. War es nun wirklich von der europäischen Menschheit, die im neunzehnten Jahrhundert ins Weite hinausstrebte, und die übrigen Weltteile durch die neuen Verkehrsmittel (Eisenbahn und Dampfschiff) an sich heranrückte, zu erwarten, daß sie zugleich den extrem lokalen Wünschen all dieser Angehörigen kleiner Sprachen gerecht wurde und Zersplitterungen eintreten ließ, die nur an die Vergangenheit erinnern konnten, der man entwachsen zu sein sich freute? Frankreich hatte sich straff zentralisiert, Italien strebte nach dem Einheitsstaat, Deutschland wendete sich von der Kleinstaaterei ab, die Vereinigten Staaten verhinderten die Sezession der Südstaaten durch Jahre des schwersten Bürgerkrieges, England verweigerte Irland die einfachste Selbstverwaltung (home rule) - war es da ein für die öffentliche Meinung damals faßbares Vorgehen, etwa diesen dreißig bis vierzig kleinen Sprachgebieten wenn möglich Nationalstaaten zu geben? Soviel für einzelne sich direkt unterdrückt fühlende und empörte Völker geschah - die Griechen, Polen, Italiener usw. - so wenig Interesse hatte die liberale öffentliche Meinung an den meisten anderen dieser Kleinvölker, die eben durch ihre Abgeschlossenheit Stützpunkte der Reaktion bildeten, das verläßlichste Militär gegen die radikalen Städte lieferten, dem Klerikalismus Untertan waren usw. Oder man wußte, daß die politischen Führer eines Teils derselben mit dem Zarismus und ändern ausländischen Machtfaktoren, von denen sie Unterstützung erwarteten oder erhielten, in Verbindung standen.

So kam es, daß Bakunin, der die Losreißung der Slawen durch eigene Kraft und ihre freie Föderation wünschte, so vereinzelt blieb (1848 bis 1849, 1862 bis 1863), weil eben alle vorhandenen nationalistischen Kräfte schon ihre anderweitigen Hoffnungen oder Verpflichtungen hatten. Wurde denn je eine der nationalen Fragen dieser Art ohne Krieg oder ohne Verbindung mit einem Krieg gelöst? Ich kenne nur eine einzige Ausnahme - die Lostrennung von Norwegen von Schweden, nach welcher Schweden so klug war, nicht in eine Kriegsfalle zu gehen (1905). Griechenland - durch die englische Seeschlacht von Navarino (1827), Belgien - durch den französisch-holländischen Krieg, seit 1830, Bulgarien - durch den russisch-türkischen Krieg (1877 bis 1878), Cuba - durch den amerikanisch-spanischen Krieg (1898), die neuen Nationalstaaten - durch den Weltkrieg, ganz abgesehen von den Kriegen der deutschen und italienischen nationalen Einigungen, - immer waren die sogenannten nationalen Befreiungen oder Einigungen mit Kriegen verbunden, deren Ausgang sie ermöglichte und ihnen jene Form aufprägte, die den Intentionen, den Interessen also, der siegenden Staaten entsprach. Anders kann es wohl nicht sein, weil solche Veränderungen in vorhandene Interessensphären so sehr eingreifen, daß sie in dem verlangten Ausmaß freiwillig nicht gewährt werden. Ob die nationalen Autonomien in Spanien (die Katalonische, Baskische, Galizische) kampflos in ausreichendem Grade errungen werden, ist noch unbekannt.

Machtwille, Eigensinn, Selbstsucht sind Ursachen des Widerstandes, manchmal aber auch die Empfindung, daß eine Trennung eine wirkliche Schädigung bedeuten würde, wie zweifellos die vielen Millionen Nordamerikaner empfanden, die dem Austritt der Südstaaten Jahre des intensivsten Krieges entgegensetzten. Wie immer dies sein mag, das Resultat bleibt dasselbe. Die Dezennien österreichischer Versöhnungspolitik mit den Slawen seit 1879 (System Taaffe) führten zu nichts. Friedliche Lösungen, mit einem Wort, sind hier nicht möglich, weil keine Seite je ihr Spiel ganz verloren gibt und jede einen moralischen Rückhalt zu besitzen glaubt: daher kann nur die Macht Entscheidungen diktieren, und da dies unendlich selten die alleinige eigene Macht der Nationalisten ist, ist ihr Sieg kein reiner und voller, sondern verwickelt sie in neue Bindungen. Dadurch entsteht wohl die Frage, si le jeux vaut la chandelle, ob die ganze nationalistische Aktion der Mühe wert ist.

Als Wesen des Nationalismus ergaben sich in den vorhergehenden Ausführungen sein äußerst sympathischer Inhalt, die besondere Vorliebe für ein gewohntes und befriedigendes Milieu und die Tatsache, daß die Erreichung eines solchen Ziels, wie die Frage in der gegenwärtigen Gesellschaft gestellt ist, nur durch Gewalt, Krieg und im isolierten, unvermeidlich von Feindschaft umgebenen Nationalstaat möglich erscheint. Wir kennen alle Schönheiten des kulturellen Nationalismus und alle Häßlichkeiten und Greuel der Nationalstaaten. Gibt es da keinen Ausweg?

Wenn jemand in sich den feinsten intellektuellen gefühlsmäßigen und ästhetischen Individualismus kultiviert, wenn er dann aber dazu gelangt, sich die Mittel diesen Individualismus zu pflegen, durch grenzenlosen Egoismus und Unsolidarität zu verschaffen, wird man den Wert seines "Individualismus" gering schätzen und auch objektiv feststellen, daß seine Leistungen sinken, weil er den freundlichen sozialen Kontakt mit der Menschheit abgebrochen hat. Menschlich und menschenwürdig ist nur eine Synthese individueller und sozialer Faktoren, so für den Sozialismus, den Nationalismus und für jede Lebenstätigkeit irgendeines Wesens überhaupt, bei welcher immer die in ihm tätigen Kräfte mit den Kräften seiner Umwelt in eine Art Gleichgewicht gebracht werden müssen - oder es tritt ein Krisen- und Kampfzustand ein, der das Leben verbraucht und vorzeitig zerstört, eine in letzter Linie impotente Isolierung.

Der Nationalismus kann also nur sozial leben und, ebensowenig wie der Egoismus, all seine Ziele hemmungslos zu erreichen beanspruchen, oder er fordert die gesamte Menschheit heraus, deren Geduld Grenzen besitzt. Wenn daher durch nationalistische Wünsche ein sozialer Schaden entstehen würde, kann eine Berufung auf die Freiheit die rücksichtlose Durchführung solcher Wünsche nicht rechtfertigen; die dadurch Geschädigten würden stets die gleiche Freiheit besitzen, sich zu wehren, und die Folge wäre ein ihnen aufgezwungener Kampf.

In Diskussionen wurde früher nicht selten Anarchisten die Frage vorgelegt: Was würde in einer Gesellschaft ohne Autorität geschehen, wenn es jemand einfallen würde ein Haus quer über die Straße zu bauen - wer könnte ihn daran hindern? Man erwiderte, es werde niemand so dumm sein; ein anderer meinte, man werde solange mit jenem sprechen, bis er von seinem Unrecht überzeugt ist; man sagte auch, man werde die Straße verlegen und das Haus umgehen, aber ich hörte auch sagen, wenn nicht anderes hilft, wird eines Tages das Haus dem Erdboden gleichgemacht sein, worauf jener die Frage aufwerfen möge, ob man das Recht habe, eine Straße zu säubern oder nicht. Heute hat z.B. der Nationalismus durch eine breite Landstrecke, die man sehr euphemistisch den polnischen "Korridor" nennt, Deutschland in zwei Teile zerschnitten; das ist das quer über die Straße gebaute Haus, durch ewige Verträge sanktioniert und von deren Anhängern als unantastbar angesehen. [1] Dies ist ein Beispiel unter vielen dafür, daß nationalistische Lösungen das Maximum an Unsozialität und Egoismus bieten. Jede andere Erwägung soll stets ihnen gegenüber zurückstehen, verlangen sie.

Die Menschheit ist weder so schwach, noch so unklug, sich vom Nationalismus ihre Wege diktieren zu lassen, und wenn derselbe zeitweilig freies Spiel hatte und hat so durfte er nur eine ihm von Stärkeren jeweils gestattete Rolle spielen, etwas tun, was diese direkt zu tun nicht für klug hielten, wozu sie aber dem entfesselten Nationalismus freie Hand zu lassen für zweckmäßig befanden. Historische Beispiele hierfür sind bekannt, um die Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit wimmeln von den Taten des entfesselten Nationalismus. Die Erfahrungen aber sind derart, daß dies nicht wieder geschehen kann, da das zerstörte Wirtschaftsleben eine Mahnung ist, die zu Versuchen den Schaden gutzumachen, führen muß. Wir durchleben jetzt die Jahre eines Sozialismus ohne Freiheit, eines ausschließlich egoistischen, antisozialen Nationalismus, immer unerträglicher empfundener Belastung durch die Staatsapparate, wachsender Unsicherheit des Finanzkapitals, von Ratlosigkeit, Ohnmacht und Staatsanschmiegung der sozialdemokratischen Parteien, von nie geahnter fascistischer Brutalisierung - einen Zusammenbruch also geradezu aller Machtstützen des gegenwärtigen und des geplanten künftigen autoritären und privat- und staatsmonopolistischen Systems -Jahre der eindringlichsten Lerhre für die Menschheit in denen aller Hochmut vor dem Fall kommt. Wie stark auch die reaktionären Faktoren sind, die Zahl der durch diese Zustände Belehrten muß im Anwachsen sein, und der Selbsterhaltungstrieb beginnt sich zu regen. Die Schicksale der Völker sind so unter sich verknüpft, daß der gewöhnliche Ausgang, der Sieg der Stärksten auf Kosten der Schwachen, nicht mehr so ganz selbstverständlich ist: es ist Amerika nicht gelungen, die Krise von sich fernzuhalten, und England hat schwere Sorgen, und niemand erwartet, daß Frankreich allein aller Sorgen überhoben bleiben wird. In dieser Lage erscheint die Bewegungsfreiheit des internationalen Wirtschaftslebens eine immer dringendere Notwendigkeit, und der Nationalismus, der seine Zollhäuser quer über die Wirtschaftsstraßen baut, kann nicht erwarten, daß sein Egoismus dauernder Nachsicht begegnen wird: er hat zu bestimmten Zwecken seine Aufgabe erfüllt und bildet jetzt in steigendem Grade ein Hindernis auch nur der normalen Entwicklung, um von fortschrittlicher und aufblühender Entwicklung gar nicht zu reden.

So ebnen sich die Wege für den Internationalismus, den die besten Männer seit langem in ihrem Geistesleben und persönlichen Beziehungen pflegten, von den Humanisten zu den Weltbürgern, der für die ersten Sozialisten einen weltumspannenden Traum bildete, den dann Arbeiter unter sich in so schöner Weise zu verwirklichen begannen, von 1862 bis 1869, bis dann in dieses Milieu die Rivalität der Dogmen, der Kampf der Temperamente und sogar der böse Geist des Nationalismus eindrangen und der Aufstieg der Internationale gebrochen wurde. Auch einige Männer der Französischen Revolution blieben dem Weltbürgertum treu, von Condorcet zu Anacharsis Cloots, die beide Opfer der autoritären Patrioten wurden. Die Christlichen Friedensfreunde in Amerika, dann die internationalen Friedenskongresse von 1848 bis 1851, dann die Friedens- und Freiheitskongresse von 1867 und 1868, als Bakunin an ihnen teilnahm, hatten ernstlich Friede und Völkerfreundschaft im Auge, wobei sich allmählich der Föderationsgedanke entwickelte, dem Proudhon und Pi y Margall so klassischen Ausdruck gaben, auch G. Ferrari und andere Italiener, und besonders Bakunin. Letzterer wies nach, daß Staaten und Krieg untrennbar sind, da jeder Staat Rivale und Feind der anderen Staaten ist; daher kann nur die Föderation autonomer Gemeinden, Provinzen und sich aus Provinzen zu einer größeren Einheit föderierender Territorien mit anderen ebenso konstituierten Territorien einen Friedens- und Freiheitszustand herstellen; in diesem Rahmen würden die produzierenden und Verbrauchergruppen sich nach ihren Wünschen territorial und interterritorial föderieren oder durch Verträge in Beziehungen untereinander treten. Der zur zweckmäßigen Besorgung allgemein nützlicher Angelegenheiten geschaffene Föderationsapparat, aus dem einzelne Teile das Recht haben  auszutreten, allein zubleiben oder sich anders zu gruppieren, die für ökonomische Zwecke getroffenen Abmachungen und das Netzwerk aller übrigen dauernden oder vorübergehenden menschlichen Beziehungen stünden also nebeneinander und böten beweglichen Spielraum für jede Art friedlichen und freiwilligen, Gleichheit und Gegenseitigkeit garantierenden menschlichen Verkehrs mit Achtung des Grades von Intensität, Eigenart usw., mit dem jeder in solchen Verkehr eintreten will.

Föderalismus, Freiheit und Friede bedingen sich gegenseitig, ebenso wie Staatssouveränität, Zwang und Krieg. Der ersteren Serie liegt Gleichheit zugrunde - Gleichheit der Vertragspartner, Achtung vor der Freiheit anderer wie vor der eigenen, Achtung des fremden Menschenlebens wie des eigenen. Die zweite Serie ist die Frucht des Kults der Ungleichheit, des Monopols, der Vergewaltigung, der Durchsetzung des "Rechts" des Stärkeren mit allen Mitteln. Die bisherige Geschichte und die heutige erst recht spielt sich im Rahmen der zweiten Serie ab, in den der Nationalismus sich wunderbar einfügt und die Kriege hervorruft, die Nationalstaaten bildet und in nationalem und jedem sonstigen Zwang sein Wesen sieht. Das Staatstum wurde bald sein Verbündeter - neue Staaten, neue Beamte, eine neue staatsleitende Politikerkaste, was will man mehr! Das Kapital versuchte es mit ihm, um lokale kapitalistische Vorherrschaft zu begründen und mit allen Zwangsmitteln des Staates gegen die Konkurrenz stützen zu lassen. Die Arbeiterklasse und die radikalen Richtungen wurden mit dem Unabhängigkeitsideal geködert und ließen sich freudig in den neuen Staat einsperren, der sie dann um die Wette mit jedem alten Staat drangsalierte.

Einen Ausweg suchten Proudhon und Bakunin voll und ganz, während die eigentlich als Föderalisten bekannten Denker meist das Gleichheitsprinzip unvollständig verstanden oder bewußt beiseite ließen, anders ausgedrückt sich Föderalismus und Friede ohne Sozialismus und daher auch ohne wirkliche Freiheit vorstellen zu können glaubten und dadurch ihren Vorschlägen die Schwung- und die Durchschlagskraft nahmen. Ausnahmen bilden vor allem Pisacane und Pi y Margall. Proudhon und Bakunin, ersterer in den Jahren 1859 bis 1863, letzterer besonders seit Ende 1863 bis zum Herbst 1868, sahen sich den auf den Krieg hinarbeitenden staatlichen Vertretern des Nationalitätenprinzips gegenüber, denen sich in jenen Jahren Proudhons die Demokratie vollständig anschloß, während 1867 bis 1868, als Bakunin mit dem öffentlichen Leben neuen, direkten Kontakt suchte, eine Anzahl demokratischer Elemente föderalistische Neigungen bekundete, ohne jedoch die Grundlage, soziale Gleichheit, anzuerkennen, weshalb Bakunin sich von ihnen trennte und von nun ab ausschließlich der durch die Internationale vertretenen Arbeitersache widmete. Auch Proudhon, der von den Nationalisten gesteinigt wurde und sah, daß die Demokratie diesen verfallen war, wendete in seinem letzten Lebensjahr, 1864, der neubeginnenden Arbeiterbewegung sein volles Interesse zu, wie sein bekanntes nachgelassenes Werk zeigt.

Die Idee einer Arbeiter- oder einer sozialistischen Internationale hat ihre Vorläufer teils in Begrüßungsadressen englischer, französischer, belgischer Arbeiter untereinander seit den Dreißigern, teils in geheimen proletarischen Verbindungen, die den früheren politisch-republikanischen konspiratorischen Geheimbünden folgten. Das Londoner Exil so vieler Militanten führte gleichgesinnte Elemente verschiedener Länder zusammen, und den Londoner Fraternal Democrats, der Brüsseler internationalen Association democratique folgte die International Association (1855 - 1858), und 1862 begannen die Paris-Londoner Arbeiterbeziehungen, die zur Gründung der Internationale von 1864 führten. Hier wirkten die Wünsche organisierter Arbeiter, gegen die billige Arbeit Unorganisierter in anderen Ländern geschützt zu sein, und das Bestreben, die französischen Arbeiter endlich wieder sozialrepublikanisch zusammenzufassen, zusammen, und alte Sozialisten halfen überall den neuen Sektionen sozialistischen Geist zuzuführen. Es war vielmehr ein sozialistisches Neuerwachen in einer Reihe von Ländern als Zusammenarbeit in irgendeinem internationalen Sinn, und freundlicher Wetteifer, sympathische gegenseitige Gefühle in der neugeschaffenen kleinen Solidaritätssphäre charakterisierten die ersten fünf Jahre, bis zum Basler Kongreß, im Herbst 1869. In dieser Zeit geriet die polnische Frage, für die man sich 1864 so interessierte, gerieten Marx`antirussische Politik und der Mazzinismus ganz in den Hintergrund, und die Kongresse galten immer mehr der Ideenausarbeitung, d.h. dem Versuch der recht verschiedenen Richtungen, sich über gemeinsame sozialistische Theorien und unmittelbare Forderungen und Anregungen zu verständigen.

Dies führte zur Zurückdrängung der Proudhonisten, für deren damalige Ideen und Taktik man natürlich den Anfang 1865 gestorbenen Proudhon nicht verantwortlich machen kann. Dann standen sich aber autoritäre und antiautoritäre Sozialisten unvereinbar gegenüber, 1869, und während der Basler Kongreß noch mit einem in Aussicht genommenen theoretischen Nebeneinandergehen beider Richtungen endete, traten von da ab schon bestehende persönliche Spannungen immer mehr hervor; und der nächste Kongreß, in Haag, im September 1872, brachte völlige Spaltung und von damals bis heute dauernde, nie wesentlich gemilderte, vielmehr immerzu verschärfte Feindschaft. Das von den Antiautoritären angebotene Nebeneinandergehen in Ideen und Organisation bei Solidarität aller im ökonomischen Kampf wurde von den Autoritären, die sich für die einzigen Vertreter des Sozialismus halten, - von einigenÄußerungen in den Jahren 1876 und 1878, die ohne praktische Folgen blieben, abgesehen - immer verschmäht. So endete die Internationale als Vereinigungsorgan der Arbeiter schon 1872 und hinterließ einen tatsächlichen Kampfzustand, für den es bis heute noch keinen Frieden gibt. Fundamentale Ideenunterschiede, unvereinbare Persönlichkeiten und unverkennbare Nachwirkungen der durch den großen Krieg von 1870 - 71 erweckten nationalen Leidenschaften, brachten die damalige Spaltung hervor, und ihre Fortdauer bis heute, fast 60 Jahre später.

Der Internationalismus der Internationale hatte also wenig Zeit und Gelegenheit zu tiefer Begründung und weiter Entfaltung. Er hinderte nicht die allseitige leidenschaftliche Parteinahme in nationalen und Kriegsfragen und verminderte nicht die gewohnte sozialistische Reizbarkeit und Streitbarkeit in Ideen- und Organisationsfragen. Auch die Arbeiterklasse in ihren besten Vertretern und mit dem sozialistischen Ideal vor sich war und ist zu jeder Stunde das Kind ihrer Zeit, und nur wenige verstehen es, sich über das geistige Niveau einer Epoche wirklich zu erheben und vorwärtszudenken. Gerade in diesen besten Denkern wirkte zugleich die Vergangenheit und das allgemeine Milieu am meisten mit, da sie diese durch Studium und Erfahrung am besten kannten. Wie sehr lebte diese Vergangenheit in Bakunin und Marx und Kropotkin! Am meisten wurde sie wohl in Elisée Reclus durch seinen Einblick in die geographische Weite ergänzt, wodurch seine Ideen die humanitärsten und freiesten seiner libertären Zeitgenossen wurden. Der Föderalismus verschwand unter solchen Verhältnissen fast aus dem Gesichtskreis der Arbeiter - Spanien ausgenommen - oder haftete an der mehrfacher Auffassung fähigen Idee der Kommune.

Später fühlten sich viele Anarchisten durch jeden organisatorischen Rahmen beengt und verloren das Interesse an jeder Form der Zusammenarbeit, die irgendeine wenn auch freiwillig übernommene Verpflichtung auflegte. Die autoritären Sozialisten gerieten durch ihr Ziel, die Eroberung der politischen Macht im Staat, in Abhängigkeit von der Mentalität der großen Masse ihrer Wähler, bildeten sich also zu Landespatrioten zurück, welche die staatlichen Interessen ihres Landes wahrnehmen, da die Interessen der Arbeiter, der Wähler und der Großgewerkschaftlich organisierten ja mit der Macht, im Kriegsfall mit dem Sieg des betreffenden Staates verknüpft sind - wenigstens in der landläufigen Vorstellung, an der zu rütteln für Wahlbewerber nicht ratsam ist.

Was blieb also da von internationalem Gefühl, Verständnis und Willen übrig? Wer hätte sich da dem Nationalismus ernstlich entgegengestellt? Wer - außer solchen, die selbst ihre nationalen Wünsche und Vorlieben hatten - folgte auch nur der sogenannten großen Politik mit Sorgfalt? Man ließ "die Bourgeoisie unter sich", begnügte sich mit Pauschalverurteilungen aller Diplomatenränke und dem Hinweis auf ökonomische Ursachen, gegen die nur der Sozialismus helfe. So hatten Kapital und Finanz, Imperialismus und Nationalismus wirklich durch viele Jahre freie Hand und hatten nur eine wenig eindringende oder selbst parteinehmende sozialistische und anarchistische Kritik vor sich, und so ist es leider noch. Manche von uns glauben, es sei schon alles verloren, wenn man in eine aktuelle innen- oder außenpolitische Angelegenheit sachlich einzudringen versucht, weil dies bedeute, Politik zu machen, weil es von der Revolution ablenke, weil es die Arbeiter nichts angehe und Sache der Kapitalisten unter sich sei usw. Dadurch bleibt dann jedes Volk trotz der schon erwachten, manchmal revolutionären Kräfte im Schlepptau der Staatspolitik, wird stets vor vollendete Tatsachen gestellt und merkt seine dauernde Unmündigkeit kaum, weil ihm auf die vielfachste Weise die dem Staatswillen entsprechende Denkweise beständig suggeriert wird.

Nach dem Versagen aller Parteien findet sich nun endlich doch ein Faktor, der aus diesem Sumpf herausführen muß: die harten Tatsachen selbst, vor die jetzt unaufhaltsam und mit schwindelnder Eile die ganze Welt gestellt wird. Vor kurzem noch waren die Krisen anscheinend vereinzelt, seit einigen Monaten fügen sie sich zusammen. Diese Vorgänge und was noch kommen muß zeigen auf einmal , wie klein die Erde ist, wie alles unter sich verknüpft ist, wie bei Überfülle von Produktionswerkzeugen (Maschinen), von Arbeitskräften (Arbeitslose!), von Rohstoffen (Preissturz) auf einmal jene große Quelle der Bereicherung, der Handel, sich abschwächt, die Staatskosten als unerschwinglich befunden werden und man den Militarismus als unerträgliche Last empfindet.

Sachlich liegt in diesen Vorgängen ein großer Fortschritt, denn bei aller Achtung vor lokalen Verschiedenheiten sind diese doch den überwiegenden gemeinsamen Faktoren unter den Menschen gegenüber keineswegs die Hauptsache, wozu sie die Vertreter lokaler Interessen, die Nationalisten und Staatsgläubigen, gemacht haben. Alles geschieht nach internationaler wissenschaftlicher und technischer Erfahrung, und alles lokale muß näheren und ferneren dadurch berührten Verhältnissen angepaßt werden und umgekehrt, wie es die sachlich richtige Ausführung erfordert. Es gibt lokale Gebräuche, aber eine internationale Logik, Mechanik und intersoziale Verpflichtungen. Die einstmalige Technik konnte in einer kleinen Sphäre wirken, der mittelalterlichen dörflichen und kleinstädtischen Selbstversorgung; dieser Kreis erweiterte sich, sprengte auch die staatlichen Grenzen und ist längst weltumfassend - und so ist es auf allen Gebieten, und der Rückfall in die Nationalstaaten seit 1919 war sachlich in jeder Hinsicht ein Anfall kollektiver Störung des Weitdenkens und des Weltlebens, dessen Folgen jetzt zutage treten und dessen Heilung im Internationalismus liegt, der freilich viele Möglichkeiten zuläßt, je nach den Kräften, die in ihm vorherrschen - und hier liegt für das Proletariat wie für den Kapitalismus die Frage ihrer Zukunft.

Wir brauchen hier nur in Erwägung zu ziehen, was das Proletariat tun könnte, sollte und kann. Seit der Blockade von 1914 und den Länderzerstückelungen von 1918/19 und den Zollschranken, Einwanderungsverboten usw. von damals bis heute liegen die Wirkungen lokaler wirtschaftlicher Vorteile, wenn sie rücksichtslos benutzt werden, vor aller Augen. Rohstoffe, Bodenschätze sind lebenswichtige Faktoren in vielen Fällen erst nach der modernen Verteilung der Bevölkerung über die Weltteile und nach deren großer Zunahme und den die lokale Selbstversorgung meist ausschließenden neueren Verhältnissen geworden. Kohle, Petroleum, tieferliegende Erze usw. sind erst spät erkannte Werte, die lokalen Bevölkerungen zufällig in den Schoß fallen, ganz wie Goldfelder und Diamantengruben und Gegenden mit früher unbenutzten Tropenprodukten. Will man die Verewigung der Ungleichheit, dann rüttle man an diesem Zustand nicht, dann möge das arme Land neben dem durch solche Naturprodukte Begünstigten dahinleben, wie der Arme neben dem Reichen dahinlebt. Sozialisten können das nicht wollen, aber seit sie an ihre Wähler gebunden sind, gehen sie dieser Frage aus dem Weg. Ich habe sie oft berührt und freue mich, daß endlich in der Resolution Zur nationalen Ideologie des Madrider Kongresses der IAA, 1931, erklärt wurde:

"...Der Kongreß ist der Meinung, daß für die organisierte Arbeiterschaft aller Länder die ganze Erde nur als ein Wirtschaftsgebiet zu betrachten ist, dessen nationale Reichtümer allen wirtschaftlichen und sozialen Gruppen zur Verfügung stehen müssen, und zu dem jede Volksgruppe freien Zutritt hat. Aus diesem Grunde tritt die IAA für eine Internationalisierung aller Rohstoffgebiete ein und sieht in dieser Maßnahme das einzige Mittel für die praktische Verwirklichung des Sozialismus und gegen die Verhinderung neuer Monopole und Klassenabstufungen in der menschlichen Gesellschaft ..."

Die Worte "das einzige Mittel" bedeuten hier sinngemäß, daß der Sozialismus nur international wirklich lebensfähig sein wird und daß er in sich keine Grenzen, Unterschiede, Vorteile und Nachteile kennen darf. Es soll damit nicht ausgesprochen werden, daß nicht in einem Lande allein eine Verwirklichung der besten Absicht nach stattfinden könne - ein Anfang muß ja immer gemacht werden - nur würde eine solche isolierte Bewegung mit ganz besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, die selbst dem ungeheuren, grade an Rohstoffen und Bodenschätzen reichen russisch-sibirischen Gebiet nicht erspart blieben. Wenn Malatesta, der diesen Einwand erhob, von den Selbstversorgungsmöglichkeiten eines revolutionären Italien (1919/20) schrieb, wie sie von Professor Molinari (Epifane) damals so scharfsinnig nachgewiesen wurden, erinnert dies doch etwas an Kropotkins an ein sich selbst versorgendes revolutionäres Paris geknüpften Hoffnungen. Es muß dahin gearbeitet werden, daß eben eine solche Zwangslage gar nicht eintritt, eine ökonomische Belagerung, die die Kräfte der Revolution vor die doppelte Aufgabe stellt, den Feind zu bekämpfen und sich gegen Hunger und Not zu wehren, wie dies der grausamste aller Kriege den eingeschlossenen Völkern auf zwang. Wozu wären die Sozialisten aller Länder da, wenn sie soetwas nicht verhinderten!

Freilich muß in ihnen dieses Verständnis erst geweckt werden. Sie schmieden ja mit ruhigem Gewissen als Arbeiter Waffen und befördern sie als Arbeiter, wie sollten sie da auf den Gedanken kommen, die Zufuhr aller lebensnotwendigen Produkte in ein im Revolutionskampf stehendes Land unbedingt zu sichern? Hier ist noch alles zu tun, um auch die vorgeschrittensten unserer Genossen - und die zahllosen Millionen des Proletariats - auf diesen Gegenstand aufmerksam zu machen, der den entscheidenden Schritt vom Nationalismus zum Internationalismus bedeuten würde, wenn er in seinem wahren Sinn erfaßt und durchgeführt würde.

Der internationalen Wissenschaft, Technik, dem Rechtsgefühl, moralischen und ästhetischen Vorstellungen und allem, das die Menschheit bereits eint - bei unendlicher lokaler und individueller Differenzierung - wird sich das Gefühl und die Praxis der wirtschaftlichen Solidarität anreihen, deren Fehlen die Ungleichheit verewigt und jedem anderen Fortschritt in den Weg tritt.

Es wird schwer sein, die Internationalisierung der Naturprodukte als Gesamtproblem der heutigen zersplitterten Menschheit vorzulegen. Dieses Problem steckt aber schon in jeder heutigen Stellungnahme der Arbeiter, wenn es sich um den sogenannten "Schutz der nationalen Arbeit" handelt. Da herrscht das: "Jeder ist sich selbst der Nächste" noch unumschränkt, und der Schutz des nationalen Staates, folglich dessen Macht, der politische und militärische Apparat, nationale Industrie und Handel sind also Gegenstand der Arbeiterinteressen selbst, d.h. das heutige System wird gestützt. Nur eine neue Ideenentwicklung, solidarischer weltumfassender Geist, kann diesen Bann brechen - oder das beginnende Fiasko der Einzelstaatswirtschaft, für das auch die imperialistische Länder Zusammenfassung und ungeheure Wirtschaftsgebiete (das britische Weltreich, die Vereinigten Staaten, Rußland-Sibirien), wie sich jetzt zeigt, keine Heilung begründen kann, sondern nur, meinen wir, die solidarische Weltwirtschaft. Ob diese die Form neuer kapitalistischer Weltverknechtung annehmen wird oder die Form freundlich verbundener, wirtschaftlich solidarischer Verwirklichungsgebiete der verschiedenen Auffassungen sozialistischen Lebens- das haben die Arbeiter zu entscheiden. Sie sind heute beinahe nirgends mehr nicht aufgeklärt; der ihnen vor fünfzig und hundert Jahren nur mühsame zugängliche Sozialismus ist allen in gewissem Grade bekannt, und wenn sie ihn ablehnen oder nur gelegentliche Gesten, Stimmzettelabgabe usw. für denselben machen, so wissen sie, was sie tun: sie glauben nicht daran, halten die Sache nicht für der Mühe wert, leben lieber auf die gewohnte Weise dahin... Wie sich die wirklich vorgeschrittenen und opferwilligen Arbeiter zu all diesen Fragen stellen, darauf kommt es also einzig an, denn man kann nicht erwarten, daß die zurückgebliebenen Teile des Proletariats, Indifferente, Klerikale und Sozialdemokraten, in irgend- etwas vorangehen.

Zwischen Nationalismus und Internationalismus liegen für den Kapitalismus natürlich allerlei Zwischenstufen, so die Vormacht starker Staaten, die nach beiden Richtungen hin auf der Entwicklung lastet, indem die Nationalstaaten zu reinen Satelliten der Machtstaaten werden und die internationale Solidarität diesen gegenüber ein leeres Wort bleibt. Ohnmächtig verhallen die Klagen von gegen vierzig in Europa preisgegebenen nationalen Minoritäten. Die internationalen wirtschaftlichen Maßnahmen bestehen vor allem darin, daß in erster Linie die reichsten Mächte für sich selbst sorgen. Ein ungeheures Tätigkeitsfeld liegt vor den  freiheitlich-sozialen und revolutionären Kreisen, wenn sie es endlich über sich bringen würden, ihr historisch erklärbares Schwanken zwischen Nationalismus und Internationalismus aufzugeben und dem ihnen meist noch ungewohnten, wirklich solidarischen Internationalismus offen ins Auge zu blicken, in dem die Zukunft der Menschheit liegt.

Fußnoten:
[1] In der "Neuen Freien Presse" (Wien, 5. Juli 1931) wird aus Warschau, 4. Juli, mitgeteilt: "...Paderewski...veröffentlicht Erinnerungen an Wilson. Wilsons Stellungnahme zur polnischen Frage...sei auf Grund einer einzigen Unterredung mit Paderewski und eines Memorandums erfolgt, das Paderewski dem Obersten House überreicht habe. Das Memorandum habe er auf Grund eines alten polnischen Nachschlagebüchleins in acht Nachtstunden niederschreiben müssen, da anderes Material damals nicht zur Verfügung gewesen sei. House habe die Niederschrift Paderewskis teilweise auswendig gelernt und Wilson beim Essen vorgetragen. Das Ergebnis sei der polnische Korridor zum Meer gewesen."

Originaltext: Max Nettlau: Nationalismus und Internationalismus; aus: „Die Internationale“, herausgegeben von der FAUD, Februar 1932. Nachdruck in: Max Nettlau: Gesammelte Aufsätze, Band 1. Verlag die Freie Gesellschaft 1980. Gescannt von anarchismus.at