Max Nettlau - Ein Rückblick auf die internationale Idee in der Arbeiterbewegung

Wenn der Syndikalismus die Zusammenfassung der Kräfte der Arbeiter bedeutet, um denselben unter dem sie erdrückenden heutigen System die besten erreichbaren Arbeits - und Lebensbedingungen zu erringen und sie zu dem kommen - den großen Kampf gegen ihre Ausbeuter geistig, moralisch und physisch vorzubereiten und zu befähigen, so erfordert dies intensive Tätigkeit nach zwei Hauptrichtungen hin: lokale Propaganda und Organisation, die in jede Arbeiterschicht eindringt und nationale und internationale Föderation aller Gruppen auf die den gegebenen Situationen entsprechendste und zugleich für die Zukunft die erfolgreichste, also freieste und solidarischeste Betätigung ermöglichende Weise.

Eine solche Einsicht hatten mehr oder weniger alle Organisationsbestrebungen der Arbeiter seit den ältesten Zeiten. Während die Besitzenden seßhaft waren, sich eng lokal und national entwickelten und mit ihrem Kapital oder ihren Handelsartikeln nach auswärts hin operierend nur Konkurrenten, also Feinde kannten oder selbst Eroberer von Märkten, Tyrannen auf ökonomischem Gebiet wurden und dadurch die staatlichen und nationalen Feindschaften, die heute die Welt zerrütten, zu schüren halfen, waren die besitzlosen Arbeiter beweglich, kamen durch die Wanderschaft überall hin und wurden so unwillkürlich Beförderer des Sich-Kennen-Lernens der Gegenden und Völker und ein moralisches Gegengewicht gegen die von der Konkurrenz der Besitzenden geschaffenen Feindschatten. Ebenso wurde den Arbeitern der internationale Charakter der Ausbeutung bewußt und fast jede ihrer ersten Bewegungen verbreitete sich über ihr ganzes Sprachgebiet und oft auch die benachbarten Länder.

Daher konzentrierte sich zwar stets die Hauptanstrengung auf den Ausbau nationaler Organisationen, aber die Wichtigkeit internationaler Solidarität, die ja auch in allerlei anderen internationalen Organisationen früherer Jahrhunderte Vorbilder fand, ebenso in dem durch die internationale Untrennbarkeit von Kunst und Wissenschaft allmählich entstehenden kosmopolitischen geistigen Milieu, — die Wichtigkeit internationaler Arbeitersolidarität wurde ebenfalls früh erkannt, wenn auch die Versuche, sie zu verwirklichen, längere Zeit brauchten, bis sie endlich eine tatkräftige Durchführung erlangten; dies geschah durch die Internationale Arbeiter-Assoziation (28. September 1864).

Zur Zeit ihrer Gründung war es in der sozialistischen Welt eigentlich sehr still indem von den vielen seit mehr als vierzig Jahren rivalisierenden sozialistischen Richtungen keine allgemein durchgedrungen war und die meisten sich eigentlich in resigniertem halb schlummerndem Zustand nach so vielen Kämpfen befanden. Die glänzende Idee der Internationale hatte zunächst freies Feld. Da aber ihre praktische Begründung in verschiedenen Ländern mit dem Wiedererwachen des Sozialismus zusammenfiel und die älteren Sozialisten aller Schulen und die ersten und einflußreichsten Internationalisten oft dieselben Personen waren, so wurde die Internationale immer mehr der unmittelbare Schauplatz theoretisch-sozialistischer Auseinandersetzungen und vielfacher Differenzen und die dem Syndikalismus voll entsprechende internationale Zusammenfassung großer organisierter und kämpffroher Arbeitermassen, die auch dem kriegerischen Ehrgeiz der Staaten ein donnerndes Halt geboten hätten, trat leider in den Hintergrund.

Bakunin sprach oft die wahre Idee der Internationale in voller Klarheit aus. Einige seiner Worte sind:

„Was ist notwendig, damit die Stunde der endgültigen Befreiung der Arbeit schlägt? Zwei Dinge, zwei untrennbare Voraussetzungen. Die erste ist die wirkliche und praktische Solidarität der Arbeiter aller Länder. Welche Macht der Welt könnte dieser furchtbaren Kraft widerstehen? Man muß sie also verwirklichen. Alle unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiter der Erde, sich über die Grenzen der politischen Staaten die Hand reichend und dadurch selbst die Grenzen zerstörend, müssen sich zum gemeinsamen Werk in einem einzigen Gedanken der Gerechtigkeit und durch die Solidarität der Interessen vereinigen: Alle für einen und jeder für alle. Ein letztes Mal muß sich die Welt in zwei verschiedene Lager, zwei Parteien teilen: auf der einen Seite die Arbeit unter gleichen Bedingungen für alle, die Freiheit eines jeden durch die Gleichheit aller, die Gerechtigkeit, die siegende Menschlichkeit — die Revolution; auf der anderen das Privileg, das Monopol, die Herrschaft, Bedrückung und ewige Ausbeutung. Sobald aber alle Arbeiter Europas und Amerikas vereinigt sein werden, wird der Kampf selbst unnütz sein: die feindliche Partei wird von selbst verschwinden ..." (Die andere Bedingung ist die Wissenschaft, nicht die offizielle, sondern die wahre menschliche ... Dezember 1868)

"Die Erwägungsgründe (der Statuten, 1864) fügen diese weitere Erklärung hinzu, die Emanzipation der Arbeiter sei nicht ein einfach lokales oder nationales. Sie sei ein in eminentem Grade internationales Problem; woraus folgt, dass die ganze Politik der Assoziation nur eine internationale Politik sein kann, die absolut alle patriotischen und immer selbstsüchtigen Eitelkeiten der Bourgeois, alle exklusiv nationale Politik ausschließt. Das Vaterland des Arbeiters, der Mitglied der Internationale ist, ist von jetzt ab die große Föderation der Arbeiter der ganzen Weit, die sich im Kampf gegen das Bourgeoiskapital befindet. Für den Arbeiter kann es von jetzt ab keine anderen Landsleute und Brüder geben als die Arbeiter, welches immer ihr Land sei, keine anderen Fremden als die Bourgeois, es sei denn, dass diese Bourgeois, jede Solidarität mit der bürgerlichen Welt brechend, offen die Sache der Arbeit gegen das Kapital zur ihren machen wollen."

„Das ist das Programm der internationalen Arbeiterassoziation. Die Gleichheit ist Ziel; die Organisation der Arbeiterkräfte, die Vereinigung des Proletariats auf der ganzen Erde, über die Grenzen der Staaten hinweg und auf den Ruinen aller patriotischen und nationalen Beengtheiten, dies ist seine Waffe, seine große, seine einzige Politik mit Ausschluß jeder anderen" ... (Juli 1869).

"Die Gründer der internationalen Arbeiterassoziation handelten mit um so größerer Weisheit, als sie vermieden, politische und philosophische Prinzipien dieser Assoziation zugrunde zu legen und ihr zunächst als einzige Grundlage nur den ausschließlich ökonomischen Kampf der Arbeit gegen das Kapital gaben, — da sie die Gewißheit hatten, daß, sobald ein Arbeiter dieses Terrain betritt, sobald er, auf sein Recht wie auf die numerische Stärke seiner Klasse vertrauend, sich mit seinen Arbeitsgenossen in einen solidarischen Kampf gegen die bürgerliche Ausbeutung einläßt, er notwendigerweise durch die Macht der Tatsachen selbst und durch die Entwicklung dieses Kampfes dahin geführt wird, bald alle politischen, sozialistischen und philosophischen Grundsätze der Internationale zu erkennen, welche Grundsätze tatsächlich nur die richtige Auseinandersetzung ihres Ausgangspunkts und ihres Ziels sind." ... (August 1869).

„Die internationale Arbeiterassoziation hätte keinen Sinn, wenn sie nicht unwiderstehlich der Abschaffung des Staates zustrebte. Sie organisiert die Volksmassen in Hinsicht auf diese Zerstörung. Und wie organisiert sie die selben? Nicht von oben nach unten, indem sie der von der Verschiedenheit der Arbeit unter den Massen hervorgebrachten sozialen Verschiedenheit oder dem natürlichen Leben der Massen eine künstliche Einheit oder Ordnung aufzwingt, wie dies die Staaten tun, sondern im Gegenteil von unten nach oben, zum Ausgangspunkt nehmen d die soziale Existenz der Massen, ihre wirklichen Bestrebungen, und sie dazu aneifernd, sich zu gruppieren, Harmonie und Gleichgewicht unter sich herzustellen, entsprechend dieser natürlichen Verschiedenheit der Beschäftigungen und Lagen und ihnen dabei helfend. Dies ist das eigentliche Ziel der Organisation der Fachsektionen" ... (Juli 1871).

Leider entwickelte sich bekanntlich bei den intellektuellen Beherrschern des Generalrats der Internationale, Marx und Engels, immer mehr die Idee, die Gesellschaft sei ihre Privatdomäne zur Verwirklichung ihres persönlichen Programms, der sogenannten Eroberung der politischen Macht, in Wirklichkeit der Errichtung ihrer eigenen Diktatur über Das Proletariat. Die Londoner Konferenz (1871), der Haager Kongreß (1872) provozierten daher den vollständigen Bruch. Selbst dann wurde von James Guillaume, Bakunin und ihren Genossen ein letzter Versuch gemacht, die Einheit des Proletariats zu retten, der in der Erklärung der Haager Minorität, in den Beschlüssen des allgemeinen Kongresses von Saint linier, des italienischen Kongresses von Bologna, des Genfer allgemeinen Kongresses (1872 bis 1873) den klarsten Ausdruck fand: die Einheit und Solidarität im ökonomischen Kampf sollte alle übrigen Differenzen überbrücken.

Bakunin sah, wie unabänderlich die freiheitliche und die autoritäre Richtung getrennt waren und im Oktober 1872 schrieb er in einem erst 1894 veröffentlichten Manuskript: „Tatsächlich ist zwischen den beiden erwähnten Tendenzen heute keine Versöhnung möglich." Er fügt aber hinzu: „Nur die Praxis der sozialen Revolution, große neue historische Erfahrungen können diese Tendenzen früher oder später zu einer gemeinsamen Lösung führen"

Aber was soll man heute tun? Heute muß man, da die Lösung und Versöhnung auf dem politischen Terrain unmöglich ist, sich gegenseitig dulden, indem man jedem Land das unbestreitbare Recht läßt, den politischen Tendenzen zu folgen, die ihm besser gefallen oder ihm seiner eigenen Lage besser angemessen erscheinen. Man muß also unter Verwerfung aller politischen Fragen aus dem obligatorischen Programm der Internationale die Einheit dieser großen Assoziation einzig und allein auf dem Terrain der ökonomischen Solidarität suchen" ... „Mögen sich also die deutschen, amerikanischen und englischen Arbeiter bemühen, die politische Macht zu erobern, da ihnen dies gefällt. Aber mögen sie den Arbeitern der anderen Ländern erlauben, mit derselben Energie an die Zerstörung aller politischen Gewalten heranzugehen. Freiheit für alle und gegenseitige Achtung dieser Freiheit ... sind die Grundbedingungen der internationalen Solidarität."

Diese Ideen, die noch lange von den antiautoritäten Internationalisten offen vertreten wurden, begegneten tauben Ohren. Die sich überall bildenden sozialdemokratischen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen waren kaum noch dem Namen nach international, wurden ausschließlich Vertreter, genauer Leiter und Bevormunder, der nationalen Arbeit jedes Landes, deren unmittelbares Interesse mit der Macht der Bourgeoisie und des Staates verbunden ist. Dadurch wurden sie unaufhaltsam in den Bannkreis der staatlichen Ausdehnungspolitik, des Imperialismus und des Nationalismus gezogen und kämpften auf Seiten der Bourgeoisie ihres Landes, für dieselbe also, im Weltkrieg. Der internationale Gedanke war eben zum Schatten herabgesunken. Bakunins Worte bewahrheiteten sich: „Wer Staat sagt, sagt also notwendigerweise mehrere Staaten — Unterdrücker und Ausbeuter im Innern, Eroberer oder wenigstens gegeneinander feindlich nach außen hin, — sagt Verneinung der „Menschheit" ...

Nach meiner unmaßgeblichen Ansicht hat auch der in den Neunzigern sich so lebensfrisch wieder erhebende revolutionäre Syndikalismus dieser Frage des wirklichen Internationalismus nicht die richtige Aufmerksamkeit geschenkt; er nahm die vorhandenen Gegensätze als unvermeidliche Tatsachen hin und diese Gegensätze waren bereits die beiderseitigen Positionen im kommenden Weltkrieg, der — möchte ich sagen — schon durch die Spaltung der Internationale durch den Haager Kongreß, 1872, angebahnt und ermöglicht wurde. Denn hätten sich von damals an, wie bis 1869 wenigstens, die vorgeschrittenen und organisierten Arbeiter ernstlich um Ausdehnung und Vertiefung des wirklichen Internationalismus bekümmert, hätte die Bourgeoisie nicht immer freieres Spiel gehabt, bis sie leichten Herzens den Krieg wagte.

Darin liegt nach meiner Überzeugung eine furchtbare Lehre, die aber so wenig beherzigt wird, daß wir nach dem Krieg bereits eine Dreiteilung statt einer einfachen Spaltung der Arbeitermassen haben: Reformisten, Kommunisten und freiheitliche Richtungen. Wenn der sich daraus ergebenden steigenden Ohnmacht der Arbeiter den Zielen ihrer Ausbeuter gegenüber entgegengewirkt werden soll, kann dies vor allem durch Verständnis, Ausbildung und Vertiefung des wirklichen Internationalismus geschehen: derselbe muß in höherem Grade auf die Massen eines jeden Landes anziehend wirken, als der heute und seit lange mit den tausendfachsten Mitteln genährte Nationalismus. Nur wenn diese größere Anziehungskraft wirkt, nur dann wird dem immer steigenden Unheil Einhalt getan werden. Von den drei Arbeitersinternationalen wird diejenige siegen, die imstande ist, den wirklichen Internationalismus neu zu beleben, so daß der nationalistische Trug neben ihm verblaßt. Eine Schwere Aufgabe, zu der es noch so ziemlich an allem fehlt; aber ohne sie zu lösen, ist an eine machtvolle, selbständige, freiheitbringende Aktion der Arbeiterklasse auch nicht zu denken.

Möge die I.A.A. diesen Weg entschlossen betreten und all ihre übrigen Ziele werden sich der Verwirklichung nähern, wie sie es verdienen!

Aus: "Die Internationale" Nr. 1, 1. Jahrgang (1924). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.