Max Nettlau - Nie wieder Diktatur

Teil 1

Die Ausdehnung der von Einzelnen, in ihrem Kampf gegen die Diktatur der Vergangenheit errungenen Fortschritte auf allen geistigen und sozialen Gebieten auf die ganze Menschheit bildet die Aufgabe des Sozialismus, der also auf der Linie dieser Fortschritte vorwärtsschreitend mit allen Mächten der Vergangenheit gebrochen hat, und ihnen kampfbereit gegenübersteht; einige grössere Kämpfe und ein täglicher Kleinkrieg füllen bereits eine bisher hundertjährige Geschichte aus. Da es um die sehr materiellen Interessen der sozial bevorrechteten geht, so wird dieser Kampf zur unmittelbaren Machtfrage, und dies machte die feste Zusammenfassung der Anhänger der einzelnen sozialistischen Richtungen durch ihre geistigen Vorkämpfer zu der zunächst natürlichsten Folge; sie wurden Gläubige, Getreue, begeisterte Vertreter einer ihnen wertvollen Sache, die sie über alles stellten; die Partei wurde ihnen Religion und Vaterland, Haus und Heimat, und die Durchführung ihrer Ideen das Endziel eines heiligen Krieges, der mit ihrem ausschliesslichen Sieg, also unvermeidlich mit ihrer eigenen Diktatur enden sollte. So war es bisher bei den Religionen gewesen, und bei politischen sozialen und nationalen Kämpfen, stets unerbitterlicher Krieg der mit einer siegreichen neuen Diktatur oder gewaltsamer Aufrechterhaltung und Verstärkung der alten Diktatur endete.

Nun sind aber die Aufgaben des Sozialismus derart grosse, und die vorwärtsstrebenden Kräfte der Menschheit glücklicherweise derart mannigfaltige, dass es sinnlos war, zu erwarten, dass entweder nur ein Sozialismus entstehen würde, oder dass unter mehrfachen und vielfachen sozialistischen Richtungen grade eine bestimmte, - und welche - die einzigrichtige sein würde. Die einfachste ruhige Erwägung hätte gezeigt, dass der Sozialismus nur ein ungeheures Forschungsgebiet sein kann, innerhalb welches, wie in einer Wissenschaft, viele Sozialisten, jeder nach besten Kräften, auf s eine eigene Weise, wirken, aus der gegenseitigen Erfahrung lernen und allmählich zu mehr gesichterten Ergebnissen, wirklichen Erfahrungen, und fester begründeten Hypothesen gelangen. In diesem Sinne gingen auch wirklich die ersten Sozialisten vor, die ihre Utopien schrieben, jeder für sich, später ihre theoretischen Werke, die ihre Anregungen freiwilliger partieller Verwirklichungen gaben, von Plockboy und John Bellers im 17. Jahrhundert, zu Fourier's Phalanstères und Robeet Owen's sozialen Townships.

Diese Entwicklung zerstörte der verhängnisvolle Ersatz der Diktatur früherer Jahrhunderte, - statt sie endgültig zu zerstören und der Freiheit den Weg zu öffnen, - durch die verwirklichte oder intensiv angestrebte demokratische Diktatur gegen Ende des 18. Jahrhunderts; die französische Revolution und Napoleon I und alle englischen und kontinentalen demokratischen Bewegungen sind Ausdrucksformen dieser Tendenz, die noch heute, wenn man von den Anarchisten und wenigen andern freiheitlich denkenden absieht, die allgemein verbreitete ist.

Die sozialistischen Richtungen, seit Babeuf, wurde von ihren Anhängern im Sinn dieses jedes Parteileben regierenden Prinzips behandelt - jede war ein alleinrichtiger Glaubensartikel geworden. Andersdenkende waren Unwissende, die bekehrt werden mussten; oder wurden als hoffnungslos einsichtlos betrachtet und, wenn sie ihrerseits ihre Ideen vertraten, als Feinde, mit denen es nie zu einem Frieden kommen dürfe. Denn jedes Nachgeben war Verrat an der eigenen heiligen Sache.

So wurde das sozialistische Gebiet, statt sich an der reichen Fülle verschiedenartiger Initiative zu erfreuen, Schauplatz eines Kampfes Aller gegen Alle, und ist es noch heute. Es ist gänzlich ein Ringen um die Diktatur der eigenen Meinung geworden, und ein solcher beständig wütender innerer Kampf nimmt natürlich dem Sozialismus jede wirkliche Schlagkraft.

So fanden Volkserhebungen wie der französischer Arbeiter in den Dreissigern des 19. Jahrhunderts (Paris und Lyon) und die tiefgehende englische Chartistenbewegung von sozialistischer Seite immer nur sehr teilweise Unterstützung und viel Kritik. In den Jahren 1848-1849 war der Sozialismus trotz so vieler einzelner Talente aktionsunfähig, und die verzweifelten Junikämpfe in Paris waren eine dem Volke von seinen Feinden aufgezwungene Schlacht, die die Sozialisten weder gewinnen, noch in ihr vermitteln, noch sie verhindern konnten. Es gab Ende der Sechziger dem zweiten Empire gegenüber eine äusserliche Einmütigkeit in seiner Bekämpfung, aber innerlich die furchtbarsten Rivalitäten von Blanquisten, Kollektivisten, Proudhonisten, und mit dem Republikanismus alliierten Sozialisten. All diese Richtungen vereinigte wieder die Commune von 1871 zu einer äusserlichen Gemeinschaft, in der sich aber Majorität und Minorität immer schroffer gegenübestanden, bis der plötzliche gemeinsame Untergang in Mai wieder eine formelle Solidarität herstellte, der dann die endlosen Kämpfe innerhalb der Proskription folgten. Auch die grossen Strikes jener Jahre in Belgien, der Schweiz und Frankreich fassten Kräfte zeitweilig zusammen, die dann durch Differenzen über taktische Fragen und gegenseitige Kritik wieder zersplittert wurden. In allen Einzelheiten bekannt sind jetzt die Parteiungen innerhalb der Internationale, wo zum ersten Mal versucht wurde, eine bestimmte Theorie, die von Karl Marx, der Gesamtheit der Organisierten Arbeiter von oben herab, durch die dem Generalrat der Gesellschaft anvertrauten, rein verwaltenden Vollmachten und durch von dieser Seite her vorbereitete Majoritäten, obligatorisch aufzuzwingen (1871-72).

Letzteres führte zum ersten wohlüberlegten und wohlbegründeten Widerstand gegen diesen ersten direkten Vorstoss einer sozialistischen Diktatur, nämlich ein Vorgehen mit administrativen Machtmitteln, Ausschliessungen usw. von Sozialisten gegen Sozialisten, zu einem von Bakunin, James Guillaume, den Spaniern, Italienern, Belgiern und manchen Franzosen und Russen der Internationale geführten hartnäckigen Kampf. In diesem wurde von dem internationalen Kongress in Saint Imier (15-16 Sept. 1872) allen Arbeitergesellschaften der Erde ein ‘Pacte d'amitié, de solidarité et de défense mutuelle’ angeboten, beruhend auf der Solidarität aller im ökonomischen Kampf gegen das Kapital und der Autonomie Aller in Bezug auf ihre persönlichen sozialistischen Ideen und Taktik. Man fasste damals vollständig ins Auge, dass lokale Verhältnisse und die ganze Vergangenheit und Art und Weise eines Landes oder einer Gegend dieser verschiedene Auffassungsweisen des Sozialismus und seiner Taktik aufprägten und man wünschte nur, dass überall jede Richtung ungehindert zur Geltung gelange und nicht von einer, eine lokale Majorität besitzenden Richtung als Feind behandelt und unterdrückt werde. Dies war Bakunin's letztes Wort in der Streitfrage in der Internationale, dies wurde auf mehreren internationalen Kongressen in den Siebzigern proklamiert, an welchen auch einige Sozialdemokraten (Lassalleaner) teilnahmen, dies bekannten die italienische und spanische Internationale auf ihren Kongressen von 1872 und 1873 und auf dieser Grundlage reorganisierte man sich in Spanien nach 1888.

Inzwischen waren innerhalb des Anarchismus zwischen der älteren kollektivistischen und der neueren kommunistischen Richtung Differenzen entstanden; auch diese wurden in Spanien, Ende der Achtziger auf Grundlage der Gleichberechtigung beigelegt, indem jede Richtung das gleiche Recht besitzt, ihre Ideen zu verwirklichen, und man überdies mangels einer Verwirklichung einer derselben, gänzlich im Ungewissen ist, für welche derselben, (oder welche andere) die zukünftige Erfahrung sprechen wird. Dieser ökonomische Agnostizismus wie ich dies nennen möchte, war die Auffassung vieler damaligen Anarchisten - leider nicht aller,- und auch der damalige Aufruf von Malatesta, (Nizza, September 1889) das bedeutendste und wohlerwogenste anarchistische Dokument jener Jahre, trägt ihm vollständig Rechnung mit Worten wie diese, dass die zukünftigen, sozialen Einrichtungen ‘weder gleichförmig sein werden’, noch heute vorausgesehen und festgesetzt werden können und dass es ‘zum mindesten nicht angehet, dass wir uns spalten wegen reiner Hypothesen’. Dies von einem der geistigen Begründer (1876) und glühendsten Vertreter des kommunistischen Anarchismus.

Es war also seit 1872, seit unmittelbar nach der Proklamierung der geistigen Diktatur der Ideen von Marx und deren obligatorischer Akzeptierung durch alle Mitglieder der Internationale seit zehn Tagen nach dem Haager Kongress, der dies getan hatte, dieses Angebot von Friede, Gleichberechtung, Solidarität innerhalb des Sozialismus vor der sozialistischen Welt, aber es wurde von der autoritären Richtung gänzlich missachtet und ignoriert. So ist die Lage noch heute. Es ist seitdem in der Regel dahin gekommen, dass die sozialistischen und organisatorischen Richtungen, sich entweder ununterbrochen bekämpfen, in ununterbrochenem indianischem Kleinkrieg, oder dass sie sich gänzlich aus dem Gesicht verlieren, wie man z.B. Sozialdemokraten deutsch sprechender Länder finden kann, deren abgrundtiefe Unwissenheit über die freiheitlichen Richtungen des Sozialismus, wie man sich ausdrücken könnte, jeden Botokuden beschämen würde. Sie laufen mit prinzipiellen Scheuklappen herum und mögen es nicht übel nehmen, wenn ich ihnen erzähle, dass ich in Spanien, als eine Herde Schafe einhergetrieben wurde, sagen hörte: ‘Da kommen socialistas (Sozialdemokraten)’: so sehr wird ihre progressive geistige Unmündigkeit bereits sprichwörtlich.

Leider arbeiten nun immer stärkere Faktoren zusammen, diese absolute Intoleranz, Einseitigkeit, und den Willen zur Diktatur der sozialistischen Parteien und Organisationen zu verstärken. Denn Wählermillionen und viele hunderttausende Organisationsmitglieder stellen ein sehr materielles politisches Kapital vor, das nicht nur hunderten, sondern tausenden eine gesicherte und oft glänzende Existenz verbürgt, wie nur je den leitenden Personen irgend einer anderen Partei, einer Religion oder eines bürokratischen Organismus.

Der Sozialismus als menschenerlösende Idee und Tat ist dadurch gänzlich ausgeschaltet, und eine minimale Menge von Anregungen kleiner und kleinster Reformen verteilt sich über Jahre hinaus. Dem gegenüber hat natürlich der Kapitalismus immer freiere Hand; so stand der Sozialismus dem Weltkrieg gänzlich ohnmächtig gegenüber, und gewann auch nach Jahren des Krieges, auch nach allem, was nachher geschehen ist, noch nicht den Mut zu offener Sprache, da er durch die tausenderlei Vorurteile der Wählermillionen gebunden ist, und so treibt er dahin wie ein Wrack, äusserlich blühend, im Inneren gebrochen und hohl.

In Russland brach nach hundertjähriger revolutionärer Arbeit der verschiedensten Richtungen, unter den Wechselfällen eines fast dreijährigen schweren Krieges der Zarismus verhältnismässig mühelos zusammen, und nun war, nach Beiseiteschiebung der Bourgeoisie, die zuerst die Früchte des Zusammenbruchs allein geniessen wollte, eine gigantische Gelegenheit gegeben, in dieser Hälfte Europas und Hälfte Asiens, den sozialistischen Kräften freies Spiel zu lassen, die alle seit vielen Jahren mit den grössten Opfern den Sturz des Zarismus vorbereitet hatten, so dass niemand imstande ist, zu sagen, welche Richtung eine grössere Rolle spielte, - vermutlich gar keine, da viele andere Umstände und deren einzigartiger zeitlicher Zusammenfall wohl am ausschlaggebendsten waren.

Trotzdem sehen wir im Jahre 1917 keine Spur von sozialistischer Solidarität, wir sehen nur die einen nach einer Diktatur durch eine parlamentarische Majorität streben, - und die anderen, die Bolschewisten, diese übertrumpfen, indem sie, nach dem Muster des Staatsstreiches von Louis Napoleon, vom 2 Dezember 1851, das Parlement vertrieben, und sich durch die direkte diktatorische Usurpation der Macht bemächtigten, die sie noch besitzen, wie auch Louis Napoleon sie neunzehn Jahre hindurch, bis 1870 besass. Diese Usurpation entfachte den Geist der Diktatur in anderen Ländern; fünf Jahre nach Lenin's Staatsstreich, im November 1922, marschierte Mussolini, der gleichfalls durch die Schule des autoritären Sozialismus ging, in Rom ein. Seitdem herrscht Pilsudski, ein alter autoritärer Sozialist, in Polen, anderswo herrschten und herrschen Politiker, und Generale, in Griechenland, Portugal, Cuba, Litauen, usw.

Der internationale Sozialismus ist im innern so selbst Diktatur-lüstern, dass es lange dauerte, bis er gegen die bolschewistische Usurpation protestierte; vom Syndikalismus und auch von nicht wenigen Anarchisten gilt das gleiche, nämlich dass es lange dauerte bis sie sich besannen, und auch heute ist das wirklich sehr banale Argument, der Bolschewismus sei doch besser als gar nichts, nicht ganz verschwunden. Man klagt über die grenzenlos rohen und gewaltsamen Verfolgungen von andersdenkenden Sozialisten in Russland, aber man erhebt nicht den offenen Anspruch, auf gänzlich freie sozialistische Betätigung in Russland im Sinn der eigenen Richtung, und mit Nutzniessung adäquater Teile des allgemeinen sozialen Besitzes, also von Land, Rohstoffen, Arbeitswerkzeugen, Transportmitteln, und persönlicher Selbstverwaltungs- und Bewegungsfreiheit. Diesen, nach meiner Auffassung ganz elementaren Anspruch auf gleiche Möglichkeit sozialer Betätigung, wie die alleinherrschende Richtung, hütet der autoritäre Sozialismus sich zu erheben, entweder weil ihm etwas ausserhalb der Routine gelegenes bereits gänzlich fremd und unsympatisch ist, oder um keinen Präzedenzfall zu schaffen, da er selbst ja auch nur eine ungeteilte Herrschaft, also die Diktatur anstrebt. Ich scheine beinahe allein diesen Standpunkt seit Jahren zu vertreten, und kann nur noch auf etwas aus dem letzten Winter Gustav Landauer's in München bekannt gewordenes verweisen (1918-19), dass nämlich ein Plan desselben bestand, von dem damaligen Volksstaat Bayern, der eine sozialistische Regierung hatte, die noch auf die Unterstützung revolutionärer Kreise Wert zu legen schien, ein entsprechendes Terrain, und Arbeitsmittel für den anarchistischen ‘Sozialistenbund’ zu autonomer Betätigung zu erhalten. Dies soll nicht prinzipiell verweigert worden sein, die Anführung sollte aber durch die sozialdemokratischen Machthaber in so knickerischer und hinterhältiger Weise vorgenommen werden, - sie mögen sich zum Vorbild genommen haben, wie 1848 die Pariser Arbeiter mit den ‘Nationalwerkstätten’ genarrt wurden - dass Landauer sah, mit was für Leuten er zu tun hatte und seinen Plan fallen liess.

Nach all den Erfahrungen seit 1917 müssten also Sozialisten, Syndikalisten, Anarchisten sich doch ganz klar darüber sein, dass nach irgend einem Zusammenbruch in irgend einem Lande, - wenn an der üblichen Handlungsweise nicht geändert wird - unfehlbar entweder sofort oder nach einem Kampf um die Vormacht, eine einzige Richtung (oder Koalition solcher Richtungen) ihre Diktatur durchsetzen, und die anderen Richtungen nach russisch-italienischem Muster entrechten, verfolgen und nach Möglichkeit vernichten würde. Heute war noch die Flucht vieler in kapitalistische Länder möglich, bei einer allgemeineren sozialen Bewegung würde auch das erschwert werden.

Dieser vernichtenden und niederdrückenden Aussicht gegenüber sehe ich keinen anderen Ausweg, als den für den unbefangenen Menschen selbstverständlichen, für Parteien mit ihrer Alleinherrschsucht aber unfassbaren, - den einer Verständigung aller nicht auf Diktatur, sondern auf autonome eigene Betätigung reflektierenden unter sich, um gegebenenfalls einen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen jeder auf seine Weise leben würde. Dies gelingt, seit Dörfer und Städte bestehen, den Einwohnern überall, indem die verschiedenartigsten Leute ruhig nebeneinander leben: sollten Sozialisten allein so verblendet sein, nur als Diktatoren, herrschend, unterdrückend, unverträglich, leben zu wollen, und zu können?

Sie können tausend Einzeleinwände erheben und Schwierigkeiten konstruieren, nichts überwiegt aber die einfache Tatsache, dass die Diktatur die Entrechtung aller die nicht Diktatoren sind, bedeutet; braucht man da wirklich den Absolutismus, die Tyrannei, das durch Bonapartismus, Bolschewismus und Faschismus hinlänglich karakterisierte System Sozialisten gegenüber noch zu widerlegen? Also - entweder ein solches System - oder der Zusammenschluss zu einer Welt der gegenseitigen Duldung und autonomen, nicht- invasiven Betätigung Aller.

Teil 2

Die Diktatur kann nur von solchen Vertretern sozialer Ideen ernstlich bekämpft werden, in denen selbst der Wille zur eigenen Diktatur nicht mehr lebt, dieses atavistische Produkt urzeitlicher Gewaltätigkeit, verstärkt durch die Hysterie des gläubigen Fanatikers. Die Menschheit als ganzes, entwickelte nie eine einheitliche und einzige Sprache, Rasse, Nation, Religion, Rechtsvorstellungen, Moral und künstlerische Ideale, sondern deren bunteste Vielartigkeit. Überall liegen alte Reste neben neuen Anfängen, und gar das Leben selbst ist fast für jeden voll von Hoffnungen, Möglichkeiten, Wechselfällen. Wenn heutzutage der kapitalistische Imperialismus eine Nivellierung anstrebt, um zur Massenproduktion die dazugehörigen Massenkäufer heranzuzüchten, wird dies doch von freien Menschen als Mahnung empfunden, die Menschheit dieser Diktatur zu entreissen, deren Ideal wie van Doren einmal schrieb, dies ist, dass jeder Amerikaner die gleichen Kleidertypen trägt, die gleichen Lebensmittel verbraucht, die gleiche Durchschnittsmentalität besitzt, so dass er, wie die Bestandteile standardisierter Maschinen, mit jedem andern Amerikaner austauschbar (interchangeable) sei. Ebenso wünschen seit jeher die Beamten, dass der Staatsbürger sich ihren Vorschriften und Formularen angleiche, um ihnen die geringste Mühe zu machen, und für die Statistik glatte Zahlen zu liefern.

Diese Grotesken werden zu einer traurigen Wirklichkeit, wenn einstmals alles sozial-demokratisch, sovietistisch, oder selbst syndikalistisch oder sogar anarchistisch werden müsste. Erzwungenem begegnet stets Hass und Widerstand, die es früher oder später zu Fall bringen. Nur auf Grund von Erfahrungen sich als zweckmässig erweisende Einheitlichkeit kann, im sachlich erforderlichen Umfang verwirklicht werden; ein Sprung aus der Vielartigkeit in eine Einheitlichkeit, erzeugt nur Diktatoren und Beherrschte. Tiefere sozialistische Denker sehen im Sozialismus vor allem eine Gleichartigkeit der Lebensbedingungen, nur gänzlich autoritär eingestellte Sozialisten verkündeten eine allgemeine Nivellierung. Was ich hier anrege ist nichts anderes als diese Gleichheit der Lebensbedingungen für jede Art des Socialismus selbst. So wie ein hinlänglich erzogener und ausgebildeter, mit freiem Zutritt zu den Produktionsmitteln ins Leben hinausstretender Mensch sich sein eigenes Leben ohne gegen andere aggressiv und ausbeutend vorzugehen gestalten kann, so würden die sich zur Verwirklichung einer bestimmten Nuance des Sozialismus zusammenschliessenden Massen, neben anderen sozialistischen Kollektivitäten nicht aggressiv und nicht invasiv, jede ihr eigenes Lebensideal zu erreichen suchen.

In jedem andern Fall würde doch eine irgendwie zur Macht gelangende Richtung ihr System allen aufzwingen, so dass alle andern sozialistischen Richtungen auf ihre eigenen Ziele und Wünsche verzichten müssten. Sollte nun dem Zufall überlassen werden, welche Richtung zur Diktatur gelangt? Dies wäre eine grenzenlose Gewissenlosigkeit, und bedeutete, dass auf diesem lebenswichtigen Gebiet die sonst bewährte Methode, durch Übung und Erfahrung Resultate vou wirklichem Wert zu erzielen, ausgeschaltet würde. Der Fall des kapitalistischen Systems wird, wie der des Zarismus im Frühjahr 1917, nie einer einzigen sozialistischen Richtung als Verdienst zugeschrieben werden können. Um also einen nichtswürdigen Erbschaftsstreit zu vermeiden, ist dringend notwendig, die sozialistische Mentalität auf die Gleichberechtigung aller nicht invasiven Arten des Sozialismus gründlich vorzubereiten. Dies kann am ehesten geschehen durch einen Solidaritätspakt aller nicht diktatorischen Richtungen für den Fall, dass eine wirkliche Revolution die Staatsmacht bricht und das Volk den Tribut an das Kapital verweigert, und das Grundbesitzmonopol nicht mehr anerkennt. Würde dann eine einzige Richtung ihr System universell durchzuführen suchen, würde ein blutiger Szenenwechsel folgen, wie 1798-1794 und 1848-1849. und 1917 März-November, oder sofort eine Diktatur, wie im November 1799, im Dezember 1851, und im November 1917. Der Solidaritätspakt soll dem vorbeugen, denn am Tage der Revolution ist es bereits zu spät, da fallen links noch die letzten Freiheitkämpfer, während rechts schon die Revolutionsprofiteure sich in die Ministerfauteuils hineinwühlen, und ihnen entgegen zu treten von dieser Minute ab Hochverrat wird. Ein solcher Pakt würde alle sozialistischen Richtungen zu solidarischer Abwehr jeder Diktatur verpflichten, und würde jeder zu sozialem und nicht invasivem Leben bereiten sozialen Richtung, in Proportion zu ihrer Grösse, Land, Rohstoffe und Bodenschätze, Arbeitswerkzeuge, motorische Kräfte, Wohnungen usw. garantieren. Jede Richtung, mag dann durch ihre Leistungen anziehend wirken oder nicht, woraus sich neue Formen usw. ergeben können, deren Lebensbedingungen durch neue proportionelle Zugänglichmachung von Produktionsmitteln usw. gesichert würden.

Nichts wäre einfacher, bei etwas gutem Willen. In geräumigen ländlichen Gegenden und in neuen Siedlungen mag vollständige Trennung bestehen, während in Städten alle unbekümmert neben einander leben würden, ohne dass sich einer um den Nachbarn kümmert. Wüssten nur die Menschen, dass der Sozialismus ihnen so ein ungestörtes Eigenleben garantiert, und sie nicht in Parteien einpfercht, und neuen Diktaturen unterstellt, würde sie eine ganz andere Einstellung, ihm gegenüber gewinnen, als heute, wo ein Blick in ein sozialistisches Blatt meist nur spitzfindige Polemik, wenn nicht wüstes Gezänk, wahrzunehmen erlaubt.

Bei Fortdauer dieser kleinlichen Rechthaberei würde natürlich auch die proportionelle Teilung der Arbeitswerkzeuge usw, zum Streit führen. Prestigefragen und Unnachgiebigkeit machen aus der besten Sache einen Streit, man diplomatisiert, und polemisiert Jahraus, Jahrein, und dem langwierigsten Prozessverfahren und diplomatischen Winkelspiel steht längst die Ewigkeit sozialistischer Polemiken gleichwertig zur Seite. Eine Rationalisierung des Sozialismus tut dringend not.

Zum Glück gibt es noch genug lebendige intellektuelle Kräfte, denen ich die Vorbereitung der hier skizzierten neuen sozialistischen Mentalität ans Herz legen möchte. Diese guten Köpfe überblicken den Zustand des Kapitalismus, die Menge und örtliche Verteilung der Rohstoffe, Bodenschätze, Nährstoffe, usw., die Verkehrsund Transportmittel, die Erfordernisse der technischen Leitung der Produktion, usw. Sie kennen auch den Grad der Organisation der Arbeiter und die Stärke ihres sozialistischen Willens, und durchschauen das Wesen der heute zwischen den Arbeitern errichteten Parteischranken, die sie ebenso verhängnisvoll trennen wie staatliche Grenzen, nationaler Hass und sonstiger Irrwahn. Wie die Menschen nicht dank ihrer Regierungen sondern trotz derselben leben, so lebt auch der Sozialismus nicht dank seiner Führer, sondern trotz derselben und viele in ihm schlummernde Kräfte verkümmern heutzutage. Es gibt auch noch vielerlei ausserhalb aller Parteien, freiwillige Bemühungen, auf so vielen Gebieten menschlicher Persönlichkeitsentfaltung.

Aus all dem und vielem anderen kann man wohl die praktischen Grundlagen eines Solidaritätspakts schaffen, wenn man über den Wust von angesammelten Organisationsvorurteilen, Streitfragen, Führerinteressen, fatalistischer Routine, usw. geistig rationalisierend hinwegschreitet.

Solche Arbeiten würden auch erkennen lassen, welchen Grad regionaler oder internationaler Ausdehnung die einzelnen Produktionszweige erfordern, ebenso die für jeden derselben geeignetsten Grössenverhältnisse. Das ganze soziale Inventar der Erde würde unbefangen in Bezug auf seine Verwendbarkeit für eine gänzlich internationale profitlose, und das grösste Allgemeinwohl anstrebende Menschengemeinschaft untersucht werden. Für das sich so ergebende praktisch beste würde dann jede sozialistische Richtung wirken und es wäre so eine Grundlage für wirklichen, tatkräftigen Internationalismus gegeben. Vermutlich würde sich ergeben, dass manche Betriebszweige und Einrichtungen gar nicht, oder vernünftigerweise nicht geteilt werden und auch nicht mehrfach ins Leben gerufen werden sollten. In solchen Fällen empfiehlt sich ihre Neutralisierung. Für nicht gleich zu lösende Probleme empfiehlt sich ein vorläufiger modus vivendi, bis sich später auf Grund weiterer Erfahrungen ihre Lösung findet. All dies ist möglich, wenn man nur will. Wie viele internationale Einrichtungen gibt es nicht schon, während vor hundert Jahren fast nichts derartiges bestand!

Wie schnell verschwinden Streitfragen, wenn aus wichtigeren Gründen eine ‘entente’ gesucht wird! In wieviel unentwirrte Einzelschicksale greifen nicht Amnestien spielend ein! So sollte es auch den Sozialisten möglich sein, den sie heute immobilisierenden Ballast abzustreifen.

Unbedingt nützliche und notwendige Einrichtungen wie Hygiene und Krankenpflege, Beleuchtung, Wasserversorgung, Kanalisation, elektrische Kraftgewinnung. Transportmittel, Brennstoffzufuhr, wichtige Bergwerke usw., all dies technisch vollendet funktionieren zu sehen, liegt im Interesse aller. Alle nützliche Arbeit wird hier von den Technikern, Arbeitern, und einigem rechnenden und registrierenden Bureaupersonal besorgt. Solche Einrichtungen werden weder von einer Richtung oder von ihren eigenen Arbeitskräften monopolisiert werden, und ebensowenig von besonderen lokalen, oder territorialen Gemeinschaften geleitet werden, die dadurch indirekt behördliche Funktionen erlangen würden. Diese delikate Frage, der wir nicht vorgreifen können, muss im Sinne der aufrichtigsten Ausschaltung aller Einzelbestrebungen und der Anerkennung nur des technisch notwendigen behandelt werden. Ihre Erörterung würde die technischen Kräfte dem Sozialismus näher bringen, eine dringende Notwendigkeit, wie das Beispiel von Soviet-Russland täglich zeigt.

In einer solchen sozialistischen Weltgemeinschaft würden also Anarchisten mit eigenen Produktionsmitteln ihr Leben gewinnen ohne mit einem Staat etwas zu tun zu haben. Sozialdemokraten mögen unter sich eine Disziplin, eine Hierarchie, einen Marxkultus errichten, ungestört. Von einfacher Kooperation bis zum freiesten Kommunismus würden alle Arten der Einzel- oder gemeinsamen sozialen Betätigung Ausdruck erlangen. Irrtümer und Fehlschläge, überall unvermeidlich, können so noch am leichtesten eingeschränkt werden. In Russland muss Jahraus Jahrein das ungeheuere Land alle Irrtümer der Diktatoren des Panmarxismus mit bitterer Not und Elend bezahlen, bis dann wieder der ganze Organismus einer neuen Kur unterzogen wird. Wären in Russland vom Sommer 1917 ab, verschiedene Arten lokalen sozialistischen Lebens möglich gewesen, hätte längst durch Erfahrung eine Auslese der lebenskräftigsten Varietäten stattfinden können. Verdanken in der Natur neue Arten dem Nacheinander oder dem Nebeneinander verschiedener Entwicklungsmöglichkeiten ihren Ursprung?

Gewiss würden, bei diesem friedlichen Nebeneinanderleben, die Fanatiker und verhetzten Leute sich allmählich beruhigen, das private Leben würde, wie heute, alle Kreise einander näherbringen, und dann mag sich zeigen, ob die Freiheit anziehender ist, als die Autorität, und welchen Grad von Freiheit für sich zu verwirklichen jeder das Zeug hat.

Dieser Art also könnte der Beginn einer sozialistischen Weltgemeinschaft sein, in der jede nicht ihre eigene Diktatur anstrebende Richtung sich auswirken könnte, und die auch die physische und moralische Kraft hätte, diktaturfreundlichen antisozialen Elementen entgegenzutreten, als solidarische Einheit bei aller sonstigen Verschiedenheit unter sich.

Ist dies ein wünschenswertes Ziel, dann bahne man ihm den Weg, durch vorbereitende Arbeit, von dieser Stunde an, dann ‘lasse man die Toten ihre Toten begraben’, und wende sich an die lebenden Kräfte im Sozialismus aller Richtungen, welche Richtungen sich ebensowenig unter einander kennen, wie die Nationen, wodurch die Erde nicht mehr ein einfaches, sondern ein mehrfaches Chaos zu bilden beginnt.

Nichts ist leichter, als unentwegt für die ausschliessliche Geltung der eigenen Idee einzutreten, aber da hält man entweder nur Monologe oder der Fluch der Macht verwandelt den Besten in den grausamsten Diktator. Deshalb empfehle ich seit lange den Weg des friedlichen Nebeneinander aller nicht aggressiven sozialistischen Richtungen auf lebensfähiger ökonomischer Grundlage für eine jede derselben, und mit dem festen Willen, physisch und moralisch solidarisch, der heutigen und jeder kommenden Gesellschaft entgegen zuschleudern den Ruf und die Tat: Nie wieder Diktatur!

Aus: Internationale Revue i 10 1927-1929. [Ingeleid door Arthur Lehning]. Kraus Reprint, Nendeln 1979

Originaltexte: http://www.dbnl.org/tekst/_int001inte01_01/_int001inte01_01_0163.php und http://www.dbnl.org/tekst/_int001inte01_01/_int001inte01_01_0196.php (einige Scanfehler von www.anarchismus.at korrigiert)