Chomsky's Porträt von Ulrike Heider (Gespräch Ende der 80er Jahre)

"Trotz alledem ein Moralist"

Noam Chomsky: Ich wuchs in den 30er Jahren zur Zeit der größten Depression auf. Ich bin Jahrgang 1928. Ende der 30er Jahre entwickelte ich intellektuelles und politisches Bewusstsein. Meine Eltern befassten sich vor allem mit der jüdischen Kultur, mit Hebräisch usw., aber viele meiner entfernteren Verwandten, meine Onkel und Tanten gehörten der Arbeiterklasse an. Sie lebten alle in New York, damals fast alle arbeitslos. Sie waren in einer ganzen Reihe politischer Aktivitäten verwickelt. Einige von ihnen waren Trotzkisten, andere hatten sich zu libertären Kritikern des Bolschewismus entwickelt. Die Kultur der Arbeiterklasse war damals sehr lebendig, man interessierte sich für Freud, das Budapester Streichquartett und für Shakespeare.

Es war eine sehr lebendige und aufregende intellektuelle Umgebung, tatsächlich eine der anregendsten, die ich je gesehen habe. Ich vergleiche sie ohne weiteres mit dem Harvard Faculty Club. Sie schneidet bei diesem Vergleich sehr gut ab.

Ulrike Heider: Ich traf den Sprachforscher Noam Chomsky im Bostoner MIT, dem berühmten Massachusetts Institute of Technology. Obwohl der dortige Lehrstuhl zu denen gehört, die in den USA gewöhnlich Nobelpreisträgern vorbehalten sind, ist sein Arbeitszimmer klein und bescheiden eingerichtet.

Chomsky ist ein freundlicher, unkonventioneller Mann in Jeans, Turnschuhen und kariertem Hemd. Er kocht seinen Kaffee selber und behandelt die Institutssekretärin wie seinesgleichen. Eigenschaften wie Eitelkeit und Schulmeisterei gehen ihm völlig ab.

Chomsky verkörpert das Gegenteil von dem, was man sich unter einem berühmten Wissenschaftler vorstellt, dessen Bücher in mindestens 10 Sprachen übersetzt wurden. Die Schlichtheit seines Auftretens entspricht vielmehr dem autoritätskritischen Bewusstsein eines Menschen, der sich seine politische Meinung mehr im Leben als an der Harvard Universität gebildet hat.

Sprecher: Noam Chomsky ist einer der ganz großen Humanwissenschaftler unseres Jahrhunderts. Als Schüler von Zellig Harris, dem Vertreter des amerikanischen Distributionalismus in der Linguistik, studierte er Sprachwissenschaft und Mathematik. In den 50er Jahren wurde er als Begründer einer neuen Beschreibungssprache für Syntax, der generativen Transformationsgrammatik bekannt. Seine darauf beruhenden Arbeiten zum Spracherwerb haben in den letzten 20 Jahren zu einer weltweiten Neuorientierung des Sprachunterrichts geführt.

Noam Chomsky: Ich lebte in Philadelphia. Als ich alt genug war um allein Zug zu fahren, mit 11 oder 12 Jahren, besuchte ich meine Verwandten in New York und arbeitete am Zeitungsstand meines Onkels. Viel Zeit verbrachte ich auch mit Spaziergängen stadtabwärts der vierten Avenue. Eine Gegend, die damals voll von Buchantiquariaten war. Viele davon gehörten ausgesprochen interessanten Leuten und zeugten von deren Interessen. Viele waren politisch und einige davon tatsächlich libertär. Etwas was mich stark zu interessieren begann.

Ich ging auch zu den Büros anarchistischer Gruppen, zur Freien Arbeiterstimme, zur jüdischen Anarchistengruppe und zu anderen, um Flugblätter mitzunehmen und mit den Leuten zu reden.

Sprecher: Zur zweiten Quelle politischen Bewusstseins wurde der Zionismus. Schon früh sympathisierte Chomsky mit dessen nicht-stalinistischem linken Flügel. Ziel dieser Bewegung war ein sozialistisches binationales Palästina, aufgebaut auf das kollektive Arbeitssystem der vom utopischen Sozialismus inspirierten ersten jüdischen Siedler. Die Mehrheit der linken Zionisten aber war moskaufreundlich, so dass Chomsky sich ihren Gruppen nicht anschließen mochte. Auch später, während eines mehrmonatigen Kibbutz-Aufenthalts im Jahre 1952, erschreckte ihn die Toleranz der meisten sozialistischen Zionisten gegenüber dem Stalinismus.

Dass er vom jüdischen Separatismus und Nationalismus nie etwas hielt, mag mit den abschreckenden Erfahrungen zusammenhängen, die er mit Deutschen und anderen Patrioten gemacht hatte.

Noam Chomsky: Wir waren die einzige jüdische Familie in einer größtenteils deutsch-katholischen und irisch-katholischen Gegend, die nicht nur äußerst antisemitisch war, sondern auch starke pro-Hitler Elemente in sich barg. Ich erinnere mich an Bierparties bei der Kapitulation von Paris. Es war eine heikle Umgebung. Wenn die Kinder aus der katholischen Schule kamen, mussten mein Bruder und ich zuhause bleiben, weil das gefährlich war. Später am Nachmittag, wenn sie die Gruselgeschichten vergessen hatten, die man sie in der Schule gelehrt hatte, konnte man vielleicht Ball mit ihnen spielen.

Ulrike Heider: Die pro-Hitler Haltung der deutschen Nachbarn – erzählte Chomsky weiter – sei 1941 nach dem Angriff auf Pearl Harbor umgeschlagen. Dieselben Leute seien plötzlich zu glühenden amerikanischen Patrioten geworden.

Aufschlussreich sei auch der mehrmalige Meinungswechsel seiner eigenen kommunistischen Verwandten gewesen. Erst nach Abschluss des Hitler-Stalin Pakts und dann zum Zeitpunkt von Hitlers Angriff auf die Sowjetunion.

Noam Chomsky: Es waren alle sehr lehrreiche Erfahrungen und aus diesem ganzen Hintergrund entwickelte ich eine bestimmte Sichtweise und einen bestimmten Standpunkt, den ich in vielerlei Hinsicht beibehalten habe.

Sprecher: Noam Chomsky hat einmal gesagt, er stehe mit seiner politischen Position meist allein da und gehöre einer winzigen Minderheit an. In den 60er Jahren entwickelte der Linguist Chomsky seine Syntaxtheorie zu einer umfassenden mathematisch fundierten Sprachtheorie weiter, die heute zum fortgeschrittensten Instrument bei der Analyse der Syntax natürlicher Sprachen geworden ist.

Auch jegliche Forschung, die sich im Rahmen des Versuchs elektronischer Herstellung künstlicher Intelligenz auf künstliche Spracherkennung und Sprachproduktion bezieht, ist ohne Chomskys Erkenntnisse nicht denkbar. Seine Sprachalgebra könnte einst zur Entwicklung der Denkmaschine führen.

Der Wissenschaftler ist in den USA und in Europa aber nicht nur als Linguist, sondern als Kritiker des amerikanischen Imperialismus, des Stalinismus und der israelischen Außenpolitik bekannt. Die Tatsache allerdings, dass er sich als Libertär-Sozialist bzw. Anarchist versteht, wird erfolgreich verdrängt.

Ulrike Heider: Dabei hat er nie ein Blatt vor dem Mund genommen. In seinem ersten einflussreichen politischen Buch „Amerika und die neuen Mandarine“ von 1969 zitierte er Bakunin, den Vater des klassischen Anarchismus, mit dessen visionärer Kritik an Spezialisten und Technokraten (1). Er verglich den Machthunger der bürgerlich-liberalen Intellektuellen mit denen der bolschewistischen Funktionäre, und an der Geschichte des spanischen Bürgerkrieges von 1936 zeigte er, wie sich beide in ihrem Hass auf die soziale Revolution der spanischen Anarchisten einig waren.

Das Standardwerk über Anarchismus, das der französische Libertär-Sozialist Daniel Guérin veröffentlichte, erschien in seiner amerikanischen Ausgabe von 1970 mit einem Vorwort von Noam Chomsky.

Noam Chomsky: Unter Anarchismus verstehe ich nicht etwa eine Summe von Prinzipien und Verpflichtungen, sondern eine Tendenz im menschlichen Denken und Handeln (2). Eine Tendenz, die so alt wie die Menschheitsgeschichte ist und zum Verständnis und zur Überwindung von Herrschaftsstrukturen führt. Wir entdecken jetzt immer mehr solche Strukturen. Nicht, dass sie vorher nicht da gewesen wären, wir haben einfach mit ihnen gelebt und sie nie in Frage gestellt. So gab es eine Zeit in der man Sklaverei für natürlich hielt. Es sei für Sklaven das Beste, Sklaven zu sein. Alles andere würde ihnen schaden.

Von einem bestimmten Zeitpunkt menschlicher Aufgeklärtheit an wurde es dann klar, dass das ein unhaltbarer Standpunkt war. Und erst zu unseren eigenen Lebzeiten, in den letzten Jahrzehnten entstand ein allgemeines Problembewusstsein mit Blick auf den Sexismus.

Nicht, dass es das vorher nicht gegeben hätte, nicht dass es keine feministische Bewegung gegeben hätte. Aber jetzt erst ist es ins allgemeine Bewusstsein eingedrungen. Diese Formen von Unterdrückung und Hierarchie zu erkennen. Es geschieht wieder und wieder. Jede positive Entwicklung in der Menschheitsgeschichte – denke ich – war eine Art Verwirklichung dieser Tendenz.

Anarchisten sind einfach Menschen, die darin weitergehen. Die fragen sich, wie politische Strukturen und ökonomische Organisationen, Gemeinde, Familie usw. zu einer Art von Autorität führen, die der menschlichen Natur ins Gesicht schlägt. Die man nicht dulden sondern abschaffen sollte.

Sprecher: Das Spektrum dessen, was man heutzutage unter Anarchismus versteht, ist breit. Es reicht vom individualistischen Künstler, den die Politik gestohlen bleiben kann, über den Mystiker, der die Welt durch Meditation erlösen will, bis zum Befürworter eines ungezügelten Laissez-faire im Kapitalismus.

Ulrike Heider: Chomsky meint den Anarchosyndikalismus. Dieser dezentrale und basisdemokratische Gesellschaftsentwurf ging aus dem klassischen Anarchismus der ersten Internationale und dem Syndikalismus hervor. Die gesamte gesellschaftliche Organisation - begonnen mit der Produktion - wird dabei von der Basis her durch gewählte Räte besorgt. Deren Koordinationsgremien sind auf lokaler und beruflicher Ebene föderiert.

Chomsky hält das für ein den Erfordernissen der modernen Gesellschaft entsprechendes Grundmodell.

Noam Chomsky: Natürlich gehört dazu auch das traditionelle Verständnis vom Staat, den es als eigenständiges Herrschafts- und Unterdrückungssystem zu überwinden gilt. Dieses System dient den Interessen der Kapitalistenklasse, aber auch denen der Geschäftsführenden- und Koordinierendenklasse. Von der Sorte, wie sie während der bolschewistischen Revolution an die Macht kamen, um deren sozialistische Tendenzen schnell zu zerstören.

Der Anarchosyndikalismus war eine Bewegung, die ihre Blüte in Spanien erreichte, wo sie sehr fruchtbar war. Für große Teile der Spanischen Revolution spielte sie eine bedeutende organisatorische und inspirierende Rolle, sowohl in bäuerlichen Kollektiven als auch in industriellen Kooperativen.

Sprecher: Die libertäre Spanische Revolution, welche die Fabriken der Selbstverwaltung der Arbeiter und die Landwirtschaft dem Kollektivismus der Bauern überließ, war Bestandteil des Antifaschistischen Kampfes der Anarchisten.

Aber sie widersprach den Interessen der anderen Gegner, der unter General Franco an die Macht geputschten Faschisten. Die bürgerlichen Republikaner fürchteten die Revolution – traditionsgemäß – wie die Sünde, und die von Moskau abhängigen Kommunisten wollten es nicht mit den Engländern verderben, deren in Spanien steckendes Kapital auf dem Spiel stand.

So kam es, dass sich vor allem die Kommunisten aktiv an der Zerstörung anarchistischer Landwirtschaftskooperativen und kollektivierter Fabriken beteiligten und den Faschisten damit einen großen Gefallen taten.

Ulrike Heider: Solcher Bruderkampf der bolschewistischen Kommunisten gegen die Anarchisten war nicht neu. Schon während und nach der russischen Oktoberrevolution verfolgten Lenin und Trotzki ihre linksradikalen Konkurrenten.

Bis 1921 waren die russischen Anarchisten und andere libertär-sozialistische und populistische Revolutionäre, wie die Matrosen von Kronstadt und die Anhänger des Bauernführers Machno aus der Ukraine, fast alle im Exil, im Gefängnis oder tot.

Noam Chomsky: Ich halte den bolschewistischen Coup für äußerst konterrevolutionär. Ich meine die russische Revolution selbst hatte, wie die meisten von den Massen getragenen Revolutionen, einen sehr komplexen Charakter. Die vorbolschewistische Russische Revolution hatte sehr vitale soziale Strukturen entwickelt, Räte, Fabrikkomitees und spontane direkte Aktionen.

Es entstand jenes ganze Netzwerk von Strukturen, dass für Massenbewegungen in ihrem Kampf zur Befreiung von der Tyrannei typisch ist. Unter anderem barg das die Elemente einer möglichen sozialistischen Gesellschaft in sich.

Die Bolschewisten räumten damit auf.

Sie beseitigten die Fabrikkomitees, beschränkten die Räte auf bloße Formalexistenz und zerstörten die wesentlichen Körperschaften der Arbeiterklasse. Ihr Hauptfeind war tatsächlich die Arbeiterklasse, die es zu dem zu machen galt, was Lenin und Trotzki „die Arbeitsarmee“ nannten, unter der ordnenden Herrschaft eines obersten Machthabers. Das, was später Stalinismus wurde. Es ginge zu weit zu sagen, dass Lenin Stalin war. Er war es nicht. Aber das Fundament der stalinistischen Gesellschaft wurde damals gelegt.

Ulrike Heider: Chomsky, hat einmal gesagt, er bekenne sich zum Anarchismus, weil dessen Vertreter als einzige die eigentliche Basis unseres Zeitalters erkannt hätten. Diese Basis sei der gesellschaftliche Totalitarismus in Ost und West. (3)

Noam Chomsky: Ich meine, dass die libertären Elemente der sozialistischen Bewegungen den Totalitarismus konträr gegenüberstehen. Die kapitalistische Form der Freiheit dagegen enthält stark totalitäre Elemente. Nicht im politischen System aber in der Art, in der das ökonomische System funktioniert.

Sprecher: Mitte der sechziger Jahre, als er längst ein etablierter Akademiker war, schloss sich Chomsky den Bewegungen der Neuen Linken an, in denen er ein Wiederaufleben des anarchistischen Denkens erkannte (4). Ein paar Jahre später galt er als der einflussreichste intellektuelle Vietnamkriegsgegner der USA.

Die Verbindung von naturwissenschaftlichem Weltrang, unbestechlichem sozialen und moralischen Gewissen und Mut zum Eingreifen in tagespolitische Diskussionen in der Person Noam Chomskys haben schon den Vergleich mit Persönlichkeiten wie Albert Einstein und Robert Oppenheimer provoziert.

Ulrike Heider: Sämtliche Retrospektiven auf die Neue Linke und den Vietnamprotest erklärte mir der einstige Aktivist fast ärgerlich, seien völlig irreführend. Entweder stammten sie vom ehemaligen Präsidenten der Students for a Democratic Society (SDS) und anderen Führungspersönlichkeiten, deren subjektiver Erinnerung wenig zu tun hätten mit dem was wirklich geschah. Oder es handle sich um Kommentare von Leuten, die die Neue Linke wegen ihres Kampfes gegen jegliche Autorität fürchteten.

Die Ereignisse dieser Jahre seien ein großer Schock für alle Mächtigen und Privilegierten im Lande gewesen. Bis hin zu den Vertretern der alten Linken, den Moskaukommunisten.

Noam Chomsky: Ich engagierte mich in der Antikriegsbewegung, vor allem als Reaktion auf das was einige Studenten taten, die sich in den frühen 60ern an den Colleges zu organisieren begannen.

Sie brauchten was man später „Führer“ nannte. Leute, die nachfolgen, die warten bis andere das Fundament gelegt und die harte Arbeit getan haben, um dann aufzutauchen, Reden zu halten, Ideen zu liefern und ihre Bildung einzubringen. Etwas wozu sie aufgrund ihrer eigenen - meist privilegierten - Lebensumstände in der Lage sind. Ich konnte in dieser Hinsicht etwas tun.

Es war eine Mischung aus direktem Widerstand, hunderten von Redebeiträgen, Organisationstreffen und Unterstützung der Netzwerke der Kriegsgegner. Man hatte damals noch keinerlei Veröffentlichungsmöglichkeiten. Die Bewegung war sehr isoliert, man darf nicht vergessen, dass der amerikanische Liberalismus den Krieg kräftig unterstützte, solange bis er den Interessen der amerikanischen Elite abträglich zu werden begann.

Ulrike Heider: Noch heute ist Chomsky voll der Bewunderung für den Mut der Kriegsdienstverweigerer. Er nannte die bürgerlich Privilegierten, die sich leicht hätten drücken können, stattdessen aber die Perspektive jahrelangen Exils auf sich nahmen. Und er verwies auf die Unterprivilegierten aus den Ghettos, die noch mehr riskierten.

Er berichtete auch von seiner Zusammenarbeit mit den Schwarzen Panthern und scheute sich nicht, auf die berüchtigten Polizei- und Geheimdienstmorde an deren besten Sprechern hinzuweisen.

Die Neue Linke als solche, fuhr er fort, habe alles in Frage gestellt, vom Kleiderstil über die zwischenmenschlichen Beziehungen, die Musik, die herrschenden Ideologien bis hin zum Aufbau der Gesellschaft. Und die sei es gewesen, die nach Jahrhunderten des Schweigens und Lügens den Völkermord an den indianischen Eingeborenen in Erinnerung gebracht habe.

Noam Chomsky: Tatsächlich hatte sich der größte Völkermord in der Menschheitsgeschichte und auf der ganzen Hemisphäre abgespielt, und das alles wurde unterschlagen.

Ich meine, bis in die 60er Jahre hinein gab es nur Cowboy und Indianer Stories. Die Bereitschaft, sogar unter Wissenschaftlern, sich diesen Fragen zu stellen, ist ein Ergebnis des Zusammenbruchs der ideologischen Kontrolle während der 60er.

Das Land hat zweifelsohne sehr gewonnen. Ich meine, all das hatte eine nachhaltige Wirkung auf die amerikanische Kultur. Die Gesellschaft ist viel freier und offener als sie es je war. Das Maß an Opposition war in den 80er Jahren höher als Ende der 60er und ganz bestimmt höher als Mitte der 60er.

Was z. B. geschah mit der Reagan Regierung während der Iran-Contra Anhörungen? Der Staat wurde in den Untergrund getrieben. Um die internationale Gewalt weiter ausüben zu können musste der Staat zu klandestinen Maßnahmen greifen. Die konnten sich einfach nicht mehr leisten, was Kennedy und Johnson machen konnten. Es war ein Reflex auf die Neue Linke.

Sprecher: Diese Sicht widerspricht der weit verbreiteten Medienversion vom Schicksal der amerikanischen Neuen Linken. Deren Bewegungen, heißt es, seien zu Beginn der 70er Jahren in kürzester Zeit zerfallen. Nichts sei davon übrig geblieben als eine vage Erinnerung an die Hippies. Das ist genau das, was den Mächtigen dieses Landes, die von der Neuen Linken einst zur Beendigung des Vietnamkrieges gezwungen wurden, recht wäre. Es ist auch das, was in das pauschalierend negative Amerika-Bild vieler Europäer passt. Deren vom Dünkel der sog. „Kulturnation“ getrübtes Bewusstsein kann sich jenseits des Ozeans nur Kaugummi kauende Barbaren vorstellen.

Ulrike Heider: Chomsky erzählte mir wie sich die Nachfolgebewegungen der Neuen Linken in den 70er und 80er Jahren ständig vergrößerten, wie sie ihre Interessen verbreiteten und wie die Bereitschaft ihrer Angehörigen zum zivilen Ungehorsam wuchs. In den späten 80er Jahren sagte er, habe sich das zu einer Art „Kulturkampf“ ausgewachsen, denn die gebildeten Eliten seien gleichzeitig verängstigt vom Trend zur Basisdemokratie und sozialer Reform in den 60ern mehr und mehr nach rechts gegangen.

Noam Chomsky: Auf der anderen Seite entwickelten sich diese Massenbewegungen spontan und unorganisiert. Viele davon, tatsächlich die größten, waren ein Produkt der 70er Jahre. Die Frauenbewegung z. B. war weitgehend ein Kind der 70er ebenso wie die Ökologiebewegung. Und die Solidaritätsbewegungen für Lateinamerika sind alle Produkte der späten 70er und der 80er Jahre. Sie haben verschiedenste Wurzeln. Es sind keine Jugendlichenbewegungen mehr, keine Studentenbewegungen. Die Lateinamerika-Solidaritätsbewegungen sind in Teilen des mittleren Westens besonders stark, wo sie sich aus traditionellen, kirchlichen Gruppen und Ähnlichem entwickelten. Sie sind ziemlich mittelklasseorientiert, sehr auf die Dritte Welt orientiert und sehr internationalistisch. Tatsächlich erinnern sie in vieler Hinsicht stark an den traditionellen Arbeiterklassen-Internationalismus, obwohl ihre sozialen Wurzeln ganz andere sind.

Ulrike Heider: Als ich Chomsky bat, sich zur politischen Weltlage zu äußern, begann er mit einer Analyse der amerikanischen Nachkriegspolitik. Deren erste Aufgabe, erklärte er, sei die Zerschlagung der Kräfte des antifaschistischen Widerstandes und der Arbeiterbewegung gewesen. All jener radikaldemokratischen Bewegungen von Frankreich bis Südkorea, die in den 40er Jahren an Einfluss gewonnen hatten. Stattdessen habe es gegolten, jene konservativen Eliten wiederherzustellen, deren Wortführer wegen ihrer Nähe zum Faschismus in Misskredit geraten waren. Man habe das scheinheilig „Demokratisierung“ genannt.

Noam Chomsky: Die nächste Aufgabe war es, die früheren Feinde der USA wieder aufzubauen. Den Vereinigten Staaten war klar, dass Deutschland und Japan als deren „natürliche Führer“ galten. Man musste sie rekonstruieren. Europa musste um eine Art deutsches Zentrum organisiert werden und Asien um ein japanisches Zentrum. Hauptmotiv dafür war die Angst vor den Folgen der Überproduktion der USA. Damals konnte man sich noch nicht vorstellen, dass Japan jemals zum Konkurrenten werden könnte. Aber es war klar, dass die industrielle Welt neu geordnet werden musste.

Sprecher: Laut Chomskys Analyse begannen die USA in den 70er Jahren ihren Einfluss als Weltmacht einzubüßen. Europa, gestützt auf die deutsche Produktion, habe sich mehr und mehr als eigenständige ökonomische Macht erwiesen. Drei große miteinander konkurrierende Blöcke begannen sich abzuzeichnen und die Weltlage zu bestimmen. Ein auf die D-Mark aufgebauter Europablock, ein um den Yen zentrierter Japanblock und ein auf den Dollar konzentrierter US-Block. Das wovor Henry Kissinger einst in seiner berühmten „Europarede“ gewarnt habe, sei inzwischen fast voll entwickelt. Ein Europa mit in sich geschlossenem Handelssystem, das die USA ausklammert.

Die ökonomische Emanzipation der alten Welt aber werde von einer gegenteiligen Tendenz im Kulturbereich begleitet.

Noam Chomsky: Mein Eindruck von Europa dieser Tage ist, dass es eine kulturelle Kolonie der USA wird. Die Beziehung Europas zu den USA erinnert in gewisser Hinsicht an die Beziehung Indiens zu England während deren imperialistischer Herrschaft. Europa fühlt sich unabhängig und verachtet die USA sogar. Aber wenn man sich anschaut, wie sie den jüngsten Moden im intellektuellen und in anderen Bereichen denen der USA fast sklavisch folgen, dann ist es fast komisch zu beobachten und das, denke ich, wird ein bedeutender Faktor zusätzlich zu den ökonomischen Beziehungen sein, der die Zukunft bestimmen wird.

Ulrike Heider: Sollte die in letzter Zeit in Europa immer lauter werdende Klage über den amerikanischen Kulturimperialismus einen versteckten Gegensinn haben? Entspricht sie vielleicht einer Überkompensation eigener imperialistischer Bedürfnisse in ökonomischer Beziehung? Dann wäre weniger eine amerikanische Kulturinvasion als eine europäische Nachahmungssucht im Gange. Ausdruck der Hoffnung, sich die Waffen des Konkurrenten anzueignen, um diesen damit einst umso wirkungsvoller zu schlagen.

Noam Chomsky: Die Vereinigten Staaten haben immer noch am meisten Macht auf der Welt. Ihre Kontroll- und Repressionsmöglichkeiten aber sind geringer geworden. Das gleiche gilt für die Sowjetunion, die ihre Glanzzeiten in den späten 50er Jahren hatte und seither tendenziell verfällt.

Die bipolare Welt hat sich geändert, die bewegt sich jetzt auf drei große kapitalistische Industriedemokratien zu. Mindestens drei größere Konkurrenten sind mit ihren Beziehungen untereinander und mit dem Problem beschäftigt, wie sie sich das kollabierende imperialistische Russland einverleiben sollen.

Der größte Teil der Dritten Welt treibt auf eine Katastrophe zu. Es gilt die Dritte Welt irgendwie aufrecht zu erhalten auf einen Level, der sie befähigt, für billige Arbeitskräfte, für Rohstoffe und für Märkte zu sorgen.

Ulrike Heider: Zur Zeit meines Interviews mit Chomsky befanden sich die USA in einer Art Gorbatschow-Fieber, schon vor seinem USA Besuch wurde der Reformpolitiker allenthalben als Friedens- und Freiheitsheld gefeiert. Liberale, Linksliberale und einstige Angehörige der Neuen Linken sahen die Morgenröte im Osten aufsteigen und schwärmten vom Konzept der gemischten Ökonomie: von Glasnost und Perestroika. Chomskys Stimme fehlte in diesem Freudenchor.

Sprecher: Gefragt nach Gorbatschows Reformpolitik und der Entwicklung in der UdSSR äußerte er noch einmal seine Einschätzung der russischen Revolution, als erfolgreiches Unterfangen zur Zerstörung des Sozialismus. Die Folgen bezeichnete er als ein totalitär befehligtes Wirtschaftssystem. Dieses System, fuhr er fort, habe sich im Lauf der Zeit als unfähig erwiesen in der modernen Welt zu bestehen, man musste es ändern. Als Gorbatschow zur Macht kam, habe er diese Erkenntnis verkörpert.

Noam Chomsky: Ok, daher stammen Glasnost und Perestroika. Glasnost tendiert dazu, die politische und intellektuelle Sphäre zu öffnen, zumindest bis zu einem gewissen Grad, keineswegs vollständig.

Perestroika bedeutet eine Art industrielle Rekonstruktion, letztendlich in dem Stil, den der Internationale Währungsfond den Ländern der Dritten Welt empfiehlt und gewaltsam aufzwingt.

Ich meine, das wirkliche Problem ist, dass Glasnost und Perestroika nicht zusammenpassen. Konkret gesagt Perestroika verlangt, dass eine Fabrik, die bestimmten ökonomischen Anforderungen nicht gerecht werden kann, geschlossen wird. Die Arbeiter müssen arbeitslos werden. Das ist Kapitalismus.

Glasnost lässt das nicht zu. Wenn die Fabrik das Recht hat sich zu organisieren, wenn es Fabrikräte oder eine lokale Vertretung der Arbeiterklasse gibt, dann werden diese Leute sich gegen die Zerstörung ihres Lebens im Dienst der so genannten „ökonomischen Realität“ wehren.

Ulrike Heider: Industrialisierung, wie sie in Osteuropa angesagt sei, sei bisher überall nur mit Gewalt durchgesetzt worden. Er verwies auf die amerikanische Sklavenhalterei und auf die Ausbeutung der Immigranten. Und er riet mir, mich in den Bostoner Slums vom Elend im hochindustrialisiertesten Land der Welt zu überzeugen. Wenn die Menschen auf Kosten derer Industrialisierung gehe, etwas zu sagen hätten, dann müsse dieser Prozess auf humaner Weise vorangetrieben werden, im Sinne der menschlichen Bedürfnisse statt im Interesse des Profits.

Sprecher: Chomsky sitzt mit seiner Einschätzung der Ereignisse in der UdSSR zwischen allen Stühlen. Sowohl traditionelle als auch geläuterte Moskaukommunisten verprellt er mit seiner kategorischen Absage an Leninismus und Bolschewismus. Die Rechten schreckt er mit seiner sozialen und eindeutig antikapitalistischen Haltung ab. Die Anhänger Gorbatschows schließlich, die glauben „freien Markt“ und „Sozialstaat“ gleichzeitig haben zu können, dürften in Chomsky einen Miesmacher sehen. Er verkörpert den klassischen Libertär-Sozialisten in seinem Drei-Fronten-Krieg gegen Kapitalismus, autoritären Kommunismus und Reformkapitalismus.

Ulrike Heider: Es gibt auf der Welt nur wenige hoch dotierte Wissenschaftler, die sich politisch engagieren. So schien mir die Frage nach der Verbindung zwischen Chomskys linguistischer Theorie, seinen politischen Engagement und seinem Bekenntnis zum Anarchismus nahe zu liegen.

Noam Chomsky: Das ist eine Frage, die man mir gewöhnlich stellt und in gewisser Weise wundert mich das immer. Es setzt voraus, dass es eine Verbindung geben muss. Als ob jemand nicht verschiedene Interessen haben könnte. Als ob sie alle einer einzigen Quelle entspringen müssten.

Ja, wenn man tief genug in einem Menschen hineinsieht wird man finden, dass alles irgendwie zusammenhängt. Aber in diesem Fall ist die Verbindung ziemlich schwach und abstrakt.

Sprecher: Sie liegt in der abstrakten Annahme einer ursprünglichen Menschennatur. Chomsky greift damit auf Jean-Jacques Rousseau, den Philosophen der französischen Revolution zurück, der den Menschen nicht nur ursprüngliche Güte sondern auch eine angeborene Fähigkeit zur Selbstperfektion zuschreibt. Bislang, meint Chomsky, könne man nur über diese Natur spekulieren (5), eines Tages aber werde die Wissenschaft ihre Geheimnisse lüften. Dann werde man daraus gesellschaftliche Strukturen ableiten können, die den Menschen angemessen seien. Vorläufig sei es vor allem die Sprachforschung, die gewisse spekulative Ansätze eines solchen Wissens gewähre.

Noam Chomsky: Ich denke es steht außer Frage, dass die Systeme des Wissens, das wir erwerben - besonders des Sprachvermögens - auf genetisch bedingten Strukturen beruhen, die sich im Laufe der Entwicklung verwirklichen. Unsere Sprache ist wie ein zirkulatorisches System. Es entwickelt sich in bestimmter Weise aus unserer biologischen Veranlagung heraus, ein wenig modifiziert durch die Umgebung, in der wir uns entwickeln. Ich denke das Gleiche gilt für andere Systeme, für den gesunden Menschenverstand, für das Verständnis von Persönlichkeit, für das Verständnis sozialer Strukturen usw.

Sprecher: Die Sprache, sagt Chomsky, sei kreativ und innovativ. Die Menschen wiederholten nicht wie Papageien, was schon gesagt wurde, sondern produzierten neue Gedanken. Diese Fähigkeit frei zu denken, sich auszudrücken, sich mit anderen Menschen auszutauschen und andere Gesellschaften zu verstehen, sei ein grundlegender Zug der menschlichen Natur.

Noam Chomsky: Ich war immer stark von der anarchistischen Autoritätskritik beeinflusst. Auch die beruht auf einem Konzept von menschlicher Natur. Dieses Konzept ist nicht ganz klar ausformuliert. Aber wenn man glaubt, dass es richtig ist eine moralische Position zu beziehen, irgendeine Position, die sagt, dies ist richtig und das ist falsch, dann beruht das letztendlich auf einer bestimmten Idee von der menschlichen Natur.

Wenn man aus moralischen Gründen gegen Sklaverei ist, nicht bloß weil es ökonomisch nicht funktioniert, dann tut man das, weil man eine Art „Freiheitsinstinkt“ - wie Bakunin es nannte – voraussetzt, der den Kern der menschlichen Natur ausmacht.

Ulrike Heider: Ich fragte, ob eine so vorausgesetzte menschliche Natur nicht leicht im Sinne der Rechtfertigung des Gegebenen von Autorität, Ungleichheit, Ausbeutung und Rassismus missbraucht werde könne. Chomsky räumte ein, dass dies zwar oft genug geschehe, aber nicht der Annahme einer menschlichen Natur, sondern verschiedenen weiteren Annahmen entspringe. Zum Beispiel der, dass Menschen, die man als männlich und weiblich oder schwarz und weiß unterscheiden kann, deshalb generell anders seien und anders behandelt werden müssten. So könne ein Test zeigen, dass das sprachliche Ausdrucksvermögen von Frauen etwas besser ist als das von Männern. Daraus abzuleiten, dass nur Frauen Schriftsteller werden sollen, wäre idiotisch und rassistisch.

Noam Chomsky: Andererseits könnte man sich fragen warum Menschen, die sich für progressiv halten, so oft denken sie müssten die menschliche Natur für ein rein historisches Produkt halten. Marx und viele Marxisten haben oft so argumentiert. Warum glauben sie das? Warum würde es sie stören zu entdecken, dass Menschen eine wahre intellektuelle, moralische und psychische Natur besitzen?

Ulrike Heider: Chomsky, der seit Jahrzehnten wie kaum ein anderer die Verbrechen der Machthaber dieser Welt anklagt, tut dies auf unverblümt moralische Weise. Am heftigsten ist seine Schelte, wenn er den Opportunismus der Intellektuellen und Akademiker anprangert. Im Osten schreibt er diesen technokratischen Eliten einen Großteil der Schuld an Stalinismus zu, im Westen die an Faschismus und Imperialismus. Gleichzeitig wird er nicht müde, an die Verantwortlichkeit der Intellektuellen zu appellieren.

In seinem Buch „Amerika und die neuen Mandarine“ bescheinigt Chomsky dem Widerstand gegen den Vietnamkrieg ein unumstößliches moralisches Element, das keine Diskussion erlaubt. Er hofft, dass die Widerständler durch ihr Handeln zu besseren Menschen werden. Zweifelnd fragte ich, ob Moral nicht etwas höchst Subjektives sei. Zum Guten wie zum Schlechtem interpretierbar und anwendbar.

Noam Chomsky: Es gibt niemanden, der nicht vorgibt, moralisch zu sein. Man lese die Himmler-Reden. Die sind voll von Moralismus und von Huldigungen der Herrlichkeit und Größe seiner eigenen Taten. Daran sieht man, dass es da keine Grenzen gibt, dass es nichts gibt, was nicht moralisch gerechtfertigt werden kann. Aber ich denke, man soll die Menschen trotzdem ermutigen, ihre eigenen wahren moralischen Werte zu bestimmen und danach zu handeln.

Ulrike Heider: Weitere Zweifel hegte ich in Bezug auf den Begriff „moralische Elite“, den Chomsky im selben Buch auf eine Kriegsgegnerorganisation aus den 50er Jahren anwendet.

Noam Chomsky: Ich denke, Sie haben recht mit ihrer Skepsis gegenüber einer moralischen Elite. Ich bezog mich damit auf ein Zitat von Einstein und es galt einer Gruppe, die in einem bestimmten Sinn eine Avantgarde war, die der Dienstkriegsverweigerer nämlich. Aber das war eine andere Avantgarde als die der Bolschewiki.

Sie sagten nicht, wir sind die, die verstehen wie die Gesellschaft geleitet werden muss, und wir werden sie in eurem Interesse mit dem Knüppel über euren Köpfen leiten, denn wir sind intelligent und weitsichtig genug um zu verstehen, was das Beste für euch ist. Das war eine moralische Elite in einen ganz anderen Sinn. Sie sagten, was geschieht ist mörderisch, und wir sind bereit, für unsere Opposition dagegen zu leiden. Wir wollen, dass ihr euch uns anschließt.

Sprecher: Dass moralische Empörung und moralisches Verantwortungsbewusstsein seit jeher die Hauptantriebskräfte zum politischen Engagement von Intellektuellen waren, steht außer Zweifel. Ob man das mit der angeborenen Güte und Moral des Menschen argumentierend auf jede Art von Widerstand verallgemeinern kann, ist schwerer zu entscheiden. Woher kommt die Rebellion der Enterbten und Entrechteten, der Hungernden und Ausgebeuteten? Aus physisch-ökonomischer oder moralischer Not? Und es ist nicht gerade dieser Widerstand von unten, der die Gesellschaft verändert? Wie verhalten sich Hunger und Gerechtigkeitssinn zueinander? Wie wichtig oder unwichtig ist die Moral der Intellektuellen? Wie relevant ihr Handeln im Rahmen der Klassenkämpfe? Das sind Fragen zu deren Beantwortung das Wissen um eine menschliche Natur wahrscheinlich nicht ausreichen würde.

Ulrike Heider: Chomsky identifiziert sich nicht zufällig mit dem sozialen Anarchismus. Eine Gesellschaftslehre in der die Moral eine große Rolle spielt. Diese, sich auf die menschliche Natur berufende Moral, besteht vor allem in der Weigerung, mit den inhumanen und autoritären Waffen des Gegners zu kämpfen. In der Pariser Kommune von 1871, lehnte es die von Bakunin beeinflusste libertäre Fraktion ab, Geiseln zu erschießen. Ähnlich verhielten sich die Anarchisten im Spanischen Bürgerkrieg: Nach ihrem militärischen Sieg in Katalonien verzichteten sie auf die konsequente Übernahme der politischen Macht, weil sie keine Diktatur errichten wollten.

Sprecher: Den Anarchisten blieben politische Gestaltungsmöglichkeiten bis heute versagt. Von Gegnern auf der Rechten und der Linken bekämpft und als politischer Faktor ausgerottet, wurden sie zu den ewigen Verlierern der Geschichte. Es blieb ihnen nicht mehr und nicht weniger als ihre Moral, die unbesudelte Weste und das utopische Versprechen einer Gesellschaft in Freiheit und Gleichheit. Chomskys Moralismus entspricht der Stärke und der Schwäche der Anarchisten und aller von ihnen geprägten Bewegungen bis hin zur neuen Linken.

Noam Chomsky: Unter Anarchismus verstehe ich nicht etwa eine Summe von Prinzipien und Verpflichtungen, sondern eine Tendenz im menschlichen Denken und Handeln. Eine Tendenz, die so alt wie die Menschheitsgeschichte ist und zum Verständnis und zur Überwindung von Herrschaftsstrukturen führt. Anarchisten sind einfach Menschen die darin weitergehen. Sie fragen sich wie politische Strukturen und ökonomische Organisationen, Gemeinde, Familie usw. zu einer Art von Autorität führen, die der menschlichen Natur ins Gesicht schlägt, die man nicht dulden sondern abschaffen sollte.

Fußnoten:
1.) „Der Theorie des Herrn Marx zufolge soll das Volk den Staat nicht nur nicht zerstören, sondern ihn stärken und ihn seinen Wohltätern, Wärtern und Lehrern zur Verfügung stellen – den Führern der kommunistischen Partei, vor allem Herrn Marx und seinen Freunden, die fortfahren werden, [die Menschheit] auf ihre eigene Weise zu befreien. Sie werden die Zügel der Regierung in eine starke Hand legen, weil das unwissende Volk einer strengen Vormundschaft bedarf; sie werden eine einzige Staatsbank gründen und in ihren Händen alle kommerziellen, industriellen, landwirtschaftlichen und selbst wissenschaftlichen Tätigkeiten konzentrieren; dann werden sie die Massen aufteilen in zwei Armeen – eine industrielle und eine landwirtschaftliche – unter der direkten Aufsicht von Staatsingenieuren, die einen neuen, privilegierten wissenschaftlich-politischen Stand bilden werden.” (siehe Amerika und die neuen Mandarine, Suhrkamp, Frankfurt 1969, S. 74)
2.) „Der anarchistische Historiker Rudolph Rocker (...) traf wohl den Sachverhalt richtig, als er schrieb, der Anarchismus sei ‚kein festes, in sich geschlossenes Gesellschaftssystem, sondern eher ein bestimmter Trend in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit, der im Gegensatz zur geistigen Führerschaft sämtlicher klerikaler und Regierungsinstitutionen freier, ungehinderter Entfaltung aller Individuen und gesellschaftlichen Kräfte im Leben strebt.’” (siehe „Bemerkungen zum Anarchismus“, Aus Staatsraison, Suhrkamp, Frankfurt 1974, S. 104; Originaltext siehe http://www.chomsky.info/books/state01.htm)
3.) „Er [Bakunin] sagte [schon lange vor der bolschewistischen Revolution] voraus, dass es zwei Formen von modernen Intellektuellen geben würde, das, was er als die ‚rote Bürokratie’ bezeichnete, die die Kämpfe des Volkes benutzen würde, um zu versuchen, das Kommando und die Kontrolle über die Staatsmacht zu übernehmen und die bösartigste und rücksichtsloseste Diktatur der Geschichte zu errichten, und die andere Gruppe, deren Vertretern klar sein würde, dass sie auf diese Art keinen Zugang zur Macht gewinnen können und die daher zu Dienern privater Machtkonzentrationen und der staatskapitalistischen Demokratie würden, wo sie, wie Bakunin es ausdrückte, ‚das Volk mit des Volkes Knüppel schlagen’ und von Demokratie und Volksherrschaft reden, aber in Wirklichkeit tatsächlich das Volk schlagen würden.“ Siehe Prospects for Democracy (1996), Teil 6: „Propaganda: Controlling Democracy“, http://www.akpress.org/2096/items/prospectsfordemocracy.
4.) „In seinem Manifest von 1865 sagte Bakunin voraus, ein Element der sozialen Revolution werde ‚jener intelligente und wahrhaft edle Teil der Jugend’ sein, ‚der, obgleich seiner Geburt nach zu den privilegierten Klassen zählend, in seinen hochherzigen Überzeugungen und brennenden Bestrebungen die Sache des Volkes zu der seinen macht’. Vielleicht kann man im Aufkommen der Studentenbewegung der sechziger Jahre die ersten Schritte zur Erfüllung dieser Prophezeiung sehen.“ (siehe „Bemerkungen zum Anarchismus“, Aus Staatsraison, Suhrkamp, Frankfurt 1974, S. 119)
5.) „Hume hatte erkannt, dass unsere moralischen Urteile einen unbeschränkten Anwendungsbereich haben und auf allgemeinen, endlich vielen allgemeinen Prinzipien beruhen müssen, die Teil unserer Natur sind, obwohl sie jenseits dessen liegen, was er als unsere ‚ursprünglichen Instinkte’ bezeichnete. Diese Natur schließt seines Erachtens das ein, was er die Art von natürlichen Instinkten nannte, auf denen all unser Wissen und all unsere Überzeugungen gründen.“ (MIT-Vortrag „The Idea of Universality in Linguistics and Human Rights“ vom 15. März 2005, siehe http://mitworld.mit.edu/video/257/)

Originaltext: http://zmag.de/artikel/trotzalledem-ein-moralist/