Pierre Ramus - Bolschewismus, Diktatur und Anarchismus

(Zugleich eine Polemik gegen Erich Mühsams Idealisierung des Bolschewismus)

I.

In Nr. 46 (19.—25. Oktober) des ersten Jahrganges unseres Blattes haben wir den Beitritt des früheren Anarchisten Erich Mühsam zur "Kommunistischen Partei Deutschlands" unseren Lesern mitgeteilt und daran die Bemerkung geknüpft: "Möge ihn dereinst sein Übertritt nicht ebenso gereuen, wie heute ihn seine Stellung bei Kriegsausbruch reut".

Die letztere Bemerkung bezog sich auf ein Geständnis Mühsams in einer Abwehr gegen einen wahrheitsgemäßen, aber von gehässigen Motiven eingegebenen Angriff seines heutigen "kommunistischen" Genossen Franz Pfemfert, der ihn fortgesetzt mit Vorwürfen über einige, gewiß nicht einwandfreie Worte verfolgte, die Mühsam leider bei Kriegsausbruch geschrieben hatte. Diesem Vorwurf gegenüber gestand Mühsam wirklich ein: "Zunächst: ich habe am 3. August einige Worte geschrieben, die ich später sehr bereut habe". (Zeitschrift "Ver", Wien, 1. Oktober 1917.) Wodurch unsere obige Bemerkung sowohl sachlich als auch inhaltlich berechtigt erscheint.

Früher, als wir vermutet hatten, ist Erich Mühsam dazu gelangt, seinen Beitritt zur "K.P.D." bereuen zu können. Aus den Dezemberausgaben unseres reichsdeutschen Bruderblattes "Der freie Arbeiter", wie der unklarverschämt bolschewistischen Wiener "Revolution" entnehmen wir, daß er die "K. P. D." schon wieder verlassen hat; in Wirklichkeit ist er durch die parteidiktatorischen Beschlüsse der Zentrale genannter Partei außerhalb des Rahmens derselben gestellt worden, was doch unzweifelhaft erweist, daß sein Beitritt höchst unbedacht gewesen ist und ihm alle objektiven Voraussetzungen dafür gefehlt haben, durch diesen Beitritt die "Einigung des revolutionären kommunistischen Proletariats unabhängig von theoretischen Doktrinen auf einer bereits vorhandenen Grundlage herbeizuführen".

Somit hat es sich sehr bald herausgestellt, daß es durchaus falsch gewesen ist, zu behaupten und zu meinen, daß diese "bereits vorhandene Grundlage" in der "K.P.D." vorhanden wäre oder sei. Eher denn doch in dem, was wir Mühsam sofort entgegengehalten, haben, erfreulich gedeihenden, revolutionären Syndikalismus Deutschlands, der zumindest wirklich kommunistisch ist, während sogar darin die "K.P.D." nur eine Pseudopartei ist. Diesen Syndikalismus scheint der Bolschewik Mühsam leider nicht bemerken zu wollen.

Stellen wir also fest, daß alle diejenigen, die wohl auch ein wenig "von den Erfahrungen der Revolution belehrt", aber gerade deshalb nicht jene Wandlung durchgemacht haben, die bei Mühsam zu verzeichnen ist, und ihm in seinem Beitritt zur "K.P.D." nicht gefolgt sind, sich nur jene Enttäuschungen erspart haben, deren Opfer Mühsam bis jetzt immer wieder geworden ist. Und zwar auf Grund eben jener, vor dem Kriege mit mir genugsam von ihm bekämpften, sozialdemokratischen (alias "kommunistischen") Taktik, in die er sich seit Ausbruch der Revolution verstrickt hat.

Wenn ich mir erlaube, ihm daraus einen Vorwurf zu machen, so ist es nicht der seiner Gesinnungsänderung, denn dazu ist jedermann auf Grund einer subjektiv als besser erachteten Erkenntnis berechtigt, sondern der, daß er nicht die nötige Konsequenz des Denkens bekundet, die ihn veranlassen würde, rücksichtslos zu erklären, daß er gegenwärtig nicht die Propaganda des Anarchismus, sondern die des Bolschewismus für opportun erachte und deshalb den anarchistischen Standpunkt, zumindest temporär, aufgebe.

Letzeres wäre Sache des Empfindens, Temperaments, der Veranlagung und schließlich eine persönliche Angelegenheit des Betreffenden. Leider nimmt Mühsam nicht diesen Standpunkt ein, sondern verübt eine wahre Todsünde an seinen eigenen, wie gegen den Geist unserer Idee, Weltanschauung und prinzipiellen Taktik, indem er immer aufs neue versucht, die absolut unversöhnlichen Gegensätze zwischen kommunistischem Anarchismus und Bolchewismus — denn um diesen handelt es sich, nicht um "Kommunismus", den diese Partei nur als ein zugkräftiges Schlagwort, keineswegs als Idee und Aktion vertritt — bewußt zu vertuschen und dadurch eine noch größere Verwirrung zu stiften, als sie vom Bolschewismus bereits ohnehin zum Unheil der Revolution und der zielklaren Aktivität der Arbeiterbewegung gestiftet worden ist. Denn der Bolschewismus ist der Hauptschuldträger an dem Untergange der historischen Phasen der Revolution, die wir durchleben.

Jedermann, der Bakunin und seinen Kampf in der Arbeiterbewegung, wie seine herrlichen Schriften kennt, weiß, welchen mit Recht erbitterten Kampf Bakunin gegen jegliche "revolutionäre Diktatur", jede "revolutionäre Regierung" geführt hat. Was soll man nun dazu sagen, wenn Mühsam diesen Bakunin heranzieht als Kronzeuge zugunsten eines Lenins, indem er uns seinen Standpunkt folgendermaßen plausibel machen will: "Begreift man, wie ich es tue, unter "Diktatur des Proletariats" die Machtuniversalität in den Händen des ganzen Proletariats, das von den Betriebsräten angefangen von unten herauf revolutionär organisiert ist, so ist dieser Gedanke durchaus nicht im Widerspruch zu Bakunins föderalistischem Revolutionarismus, wie denn der Aufbau des Rätesystems, wie die Sowjetrepublik ihn durchgeführt hat, keineswegs in dem Sinne zentralistisch ist, wie die deutschen Marxpfaffen sich einbilden. Gewiß beruft sich Lenin auf Marx und Engels, aber er nimmt in Theorie und Praxis soviel von Bakunin, daß die Errichtung eines Bakunindenkmals in Moskau neben dem Marxens nur ein völlig konsequenter Dankbarkeitsakt war. Es wäre den deutschen Anarchisten ebenso wie den Sozialdemokraten aller Richtungen nur dringend zu wünschen, daß sie sich von jeder Bibelgläubigkeit befreiten und sich vom Erlebten in ihren Anschauungen stärker befruchten ließen, als vom Erlesenen."

Nun ist es unbestreitbar, daß alles, was Mühsam in Obigem sagt, nur Erlesenes und absolut nichts Erlebtes ist, was übrigens kein Argument gegen das darin Gesagte sein soll. Ein Argument dagegen ist bloß dies, daß das Bakunindenkmal in Moskau nicht von Lenin und der Bolschewikiregierung, sondern von den in dieser Stadt außerordentlich stark vertretenen, russischen Anarchisten errichtet worden ist. Sieht man in der sowjetstaatlichen Bewilligung einer solchen Errichtung ein ungeheures Verdienst der Bolschewikiregierung, so übersehe man doch nicht, daß in Belgien vor dem Kriege eine monarchistische Regierung die Bewilligung zur Errichtung eines Ferrerdenkmals erteilt hat; wie auch seit mehreren Wochen das Ferrerdenkmal in Brüssel mit behördlicher Genehmigung wiedererrichtet ist.

Es ist weiterhin absolut falsch, zu behaupten, daß der Aufbau des "Rätesystems", wie die Sowjetrepublik ihn durchgeführt hat, keineswegs in dem Sinne zentralistisch ist, wie nicht nur die deutschen Marxpfaffen es behaupten. Tatsache ist, daß das Rätesystem, wie es von der russischen Arbeiterklasse bereits 1905 und vor der Machteroberung durch den Bolschewismus in 1917 verwirklicht worden ist, durch die politische zentralistische Form der Diktatur des Sowjetstaates, in die es durch Lenin und seine herrschende Partei geschnürt ward, in seiner wirtschaftsautonomen, föderalistischen Form praktisch illusorisch gemacht, aufgehoben worden ist.

Wer das bezweifelt, dem raten wir, vom Standpunkt des Föderalisten aus die seit Juli 1918 angenommene Verfassung der russischen Sowjetdiktatur zu studieren und insbesondere den Abschnitt über die "Organisation der Zentralgewalt". Diese wird von einem Kongreß — also indirekt — erwählt, deren sämtliche Fehler aller parlamentarischen Körperschaften gleichfalls innewohnen. Es genügt, zu wissen, daß 25.000 Wähler einen Delegierten entsenden, um sich einen Begriff von dem Rechte der Minoritäten in diesem System einer Rätediktatur zu machen, die, wie Mühsam kühnlich behauptet, "nicht im geringsten den anarchistischen Grundsätzen widerspricht". ("Revolution".)

Dieser Kongreß, der ein auf etwa 28 Departements verteiltes 60—70-Millionenvolk zu vertreten hat, wählt das Zentralexekutivkomitee in einem Bestand von nicht mehr als 200 Personen. Also eine Oligarchie von 200 Personen herrscht über mindestens 60 Millionen Menschen. Welche Macht diese Körperschaft, deren sie verkörpernde "Gedanke durchaus nicht im Widerspruch zu Bakunins föderalistischem Revolutionarismus" (übrigens ein schönes Wort; als ob Bakunin nur ein Revoluzzer gewesen wäre!) auszuüben vermag, dafür folgende wörtliche Zitate aus der Verfassung der russischen Sowjetdiktatur:

"31. Das Allrussische Zentralexekutivkomitee bildet das oberste, gesetzgebende, verfügende und kontrollausübende Organ ..."
"32. Das Allrussische Zentralexekutivkomitee gibt die allgemeine Richtung für die Wirksamkeit der Arbeiter- und Bauernregierung und aller Organe der Sowjetmacht im Lande an ..."
"33. Das Allrussische Zentralexekutivkomitee überprüft und genehmigt die vom Sowjet der Volkskommissare oder von den einzelnen Ressorts eingebrachten Dekretentwürfe und andere Anträge und erläßt selbst Dekrete und Verfügungen."
"35. Das Allrussische Zentralexekutivkomitee bildet (sollte heißen: stellt zusammen) den Sowjet der Volkskommissare für die allgemeinen Verwaltungsgeschulte ..."
"40. Das Allrussische Zentralexekutivkomitee hat das Recht, jede Bestimmung oder jeden Beschluß der Sowjets der Volkskommissäre aufzuheben oder zu suspendieren."

So also sieht in Wahrheit die russische Staatsverfassung gegenwärtig aus. Von einem wahren Rätesystem gar keine Spur, vielmehr haben wir einen hierarchisch-zentralistischautoritären Mißbrauch des Rätesystems vor uns, eine der ungeheuerlichsten, politischen Usurpationen in der Geschichte des Proletariats, die sich nur denken läßt, einen positiven Betrug, verübt an dem arbeitenden Volk Rußlands und seinen autonomen Räteassoziationen, die absolut keiner diktatorischen Machtgewalt und Machtspitze bedürfen.

II.

Wenn Mühsam behauptet, daß für ihn "Diktatur des Proletariats" ein Proletariat sei, "das von den Betriebsräten angefangen von unten herauf revolutionär organisiert ist", so behaupte ich, er versucht sich oder andere zu täuschen, wenn er diesen Gedanken in der Sowjetdiktatur Rußlands als verwirklicht verkündet. Laut ihrer Verfassung räumt jene Betriebsräten überhaupt keinerlei wirtschaftlichpolitisches Recht ein; sie kennt nur "Provinzial-, Gouvernements-, Kreis- und Bezirksorgane der Sowjetmacht, ebenso wie Deputiertensowjets". Und was deren Autonomie, die "Autonomie der Lokalsowjets", und ihre föderative Initiative, überhaupt ihr "von untenauf revolutionär organisiert"-sein anbelangt, so wird es am besten durch folgende, erste Bestimmung der Verfassung über die "Kompetenzen der lokalen Organe der Sowjetmacht" illustriert; diese haben folgenden Zweck zu dienen:

a) "Verwirklichung aller Verordnungen der betreffenden höheren Organe dar Sowjetmacht."

Ich bezwecke mit diesem Aufsatz keine erschöpfende Analyse und Charakteristik des Bolschewismus. Aber ich fühle mich dem Ideal meiner Weltanschauung gegenüber verpflichtet, den positiv irreführenden Behauptungen Mühsams entgegenzutreten.

Gerade derjenige, der Anhänger des Rätegedankens ist, muß den Bolschewismus, der ihn mißbrauchend entstellt bekämpfen; wie der Bolschewismus ja auch den Kommunismus mißbrauchend entstellt, im Tun durchaus staatskollektivistisch ist, nur in der Phrase "kommunistisch"; wie er, während er straff zentralistisch ist, auch das Wort "Föderalismus" mißbrauchend entstellt — welch letzteres er nicht tut, um Bakunin entgegenzukommen, wie Mühsam glauben machen möchte, sondern um sich den verschiedenen national-föderativen, rein bürgerlich-staatlichen Tendenzen der verschiedenen russischen Volkseinheiten anzuschmiegen. Kurzum: im Bolschewismus steckt nicht ein einziges Wesensprinzip einer wahren sozialistisch-revolutionären Befreiungsidee, sondern er ist das zur Macht gelangte System des jeden Sozialismus verfälschenden Marxismus, in reinster Frühform seiner Wesensart.

Eben so unhaltbar, wie die obigen Behauptungen Mühsams sind auch alle seine sonstigen in dieser Beziehung, wenn geprüft von Sachkenntnis, die nicht nur aus Erlesenem herrührt, sondern aus dem Erlebten unserer russischen Kameraden. Bezeichnet Mühsam die "Diktatur des Proletariats" als "Machtuniversalität der Gesamtheit in den Händen des ganzen Proletariats", so ist dies eine schöngeistige Phrase, aber keine soziologische Möglichkeit. Ebensowenig, wie Volksherrschaft (Demokratie) wirklich das Volk zur Herrschaft gelangen läßt, ebensowenig kann eine Diktatur noch existieren, könnte die ganze Verfassung der Sowjetdiktatur bestehen, wenn wirklich alle Proletarier Diktatoren geworden wären.

Übrigens gewährt uns diese Polemik die Gelegenheit, dem praktischen Resultat einer zweijährigen "Diktatur des Proletariats" in seiner ganzen, nicht nur erlesenen, sondern erlebten Aktualität näher zu treten, einer Diktatur, wie sie nun seit über zwei Jahren in Rußland besteht. Bekanntlich wird als Rechtfertigung für die infame Ungeheuerlichkeit der Anforderung einer Diktatur stets die Behauptung ins Feld geführt, nur sie sei im Stande, die Bourgeoisie zu beseitigen, den Kapitalismus zu stürzen, den Kommunismus herbeizufuhren. Ich stehe nicht an, zu konstatieren: Wenn dies wahr ist, dann ist eine Diktatur berechtigt. Aber eben, weil es nicht wahr ist, haben wir in dem Streben nach der Diktatur keine sozialistische Taktik, vielmehr ausschließlich die durch die Theorie des Marxismus gestützte, politische Hochstapelei der Machtgier und des Volksbetruges zu erblicken.

Betrachten wir doch objektiv, wie nach zweijährigem Bestand die "Diktatur des Proletariats" in Rußland dieses dem Kommunismus näher gebracht hat. Ich stütze mich in dem Folgenden auf die Berichterstattung eines dem Bolschewismus unverkennbar sympathisch gegenüberstehenden Mannes, Professors W. T. Goode, der in einer langen Serie von Artikeln die Eindrücke seines sechsmonatigen Aufenthaltes im bolschewikischen Rußland in der englischen liberalen Tageszeitung "Manchester Guardian", im Oktober 1919, niedergelegt hat. Diese Aufsätze sind so objektiv geschrieben, daß die Bolschewiki, Spartakisten und Kommunisten Deutschlands und Österreichs sie mit Vorliebe zitieren. Für jeden wahren Sozialisten, insbesondere für einen kommunistischen Anarchisten, sind sie aber der beste Beweis dafür, daß nach zweijähriger Diktatur in Rußland weder die Bourgeoisie noch die Klassenherrschaft abgeschafft, aber auch kein Kommunismus eingeführt worden ist.

Das Fazit der Beobachtungen W. T. Goodes faßt er selbst in folgendem Schlußtitel zusammen: "Der Mißerfolg der Etablierung des Kommunismus" ("M. G.", 25. Oktober 1919). Und er sagt: "Die bolschewistischen Führer haben in dem einzigen Land, in dem solch ein Experiment gemacht werden konnte, damit begonnen, ein System des Kommunismus zu etablieren. Das Resultat, wie ich es gesehen habe, beweist, daß sie in dieser besonderen Beziehung einen Misserfolg haben. Das System ist nicht Kommunismus. Der Staat als Arbeitgeber, als Verteiler der Waren, als Lieferant der Nahrungsmittel — (sind diese Funktionen für uns kommunistisch? P. R.) die reinen Staatsfunktionen und die individualistischen (Goode meint darunter: kapitalistische, P. R.) arbeiten Seite an Seite, während in jedem Lebensgebiete die konventionellen Verhältnisse und üblichen Einrichtungen, gegen die die Bolschewiki sich erhoben hatten, sie bezwungen und zu Anpassungen veranlaßt haben, die in ihren Abänderungen in einer sonderbaren Umwandlung der ursprünglich marxistischen Idee resultierten."

"Alles dies will besagen, daß in dem Fortschritt ihrer Staatsexistenz die Umstände sich als zu übermächtig für die Bolschewiki erwiesen haben. Die fortwährenden Zugeständnisse, die gemacht worden sind, und die Konzessionen, die innerhalb des russischen Lebens erteilt worden sind, sie sind bloß ein kleines Anzeichen dafür, welche viel größere Veränderungen und Umwundlungen sich vollzogen hätten, hätte man die Grenzen Rußlands dem Verkehr mit der westlichen Welt öffnen können."

Damit — und das beweist Goode in allen seinen Abhandlungen — ist der Beweis geliefert, daß die "Diktatur des Proletariats" nicht diejenigen Resultate zeitigt, die ihre Befürworter versprechen, sondern das gerade Gegenteil derselben. Die Repräsentanten der Diktatur werden zu Sachwaltern einer rein kapitalistischen Wirtschaftsform der Ausbeutung, die sich von der gegenwärtigen nur dadurch unterscheidet, daß sie im Staatszentralismus gipfelt, also eine besondere Abart des schon bisher bestandenen Staatskapitalismus verkörpert. Das Proletariat bleibt nach wie vor besitzlos, eignet auch nicht die Produktionsmittel und ist nach wie vor im Joche der Lohnsklaverei und Unterdrückung. Seine früheren Parteiführer sind nun allerdings seine politisch und wirtschaftlich allmächtig gewordenen Herrscher und Ausbeuter geworden.

Hat sich die "Diktatur des Proletariats" nach zweijährigem Bestande in Rußland als unfähig erwiesen, die Abschaffung der Klassenherrschaft zu bewirken, nur eine neue herbeigeführt, so ergeben sich uns aus dieser praktischen Tatsache wichtige, neue theoretische Lehren, die unsere alten ausgezeichnet stützen. Denn da die Diktatur somit den Sturz der Bourgeoisie, überhaupt bevorrechteten Gesellschaftskategorien nicht herbeizuführen — also ihren einzigen Wesensgrund nicht zu erfüllen — vermochte, so ist dadurch der Beweis geliefert, daß sie zur Vollbringung jener, ihr scheinbar zugeschriebenen Aufgabe untauglich, vielmehr das gefährlichste und giftigste Mittel zur Vereitelung jeder Verwirklichung des Sozialismus ist!

Und zwar aus folgenden Gründen: Das Problem der sozialen Revolution, überhaupt des Sozialismus, ist nur zu verstehen, kann nur verwirklicht werden, wenn nicht nur die gegenwärtige Bourgeoisie, sondern mit ihr zugleich jegliches Proletariat in der Gesellschaft abgeschafft wird. Geschieht dies nicht, so ist die Verwirklichung des Sozialismus völlig ausgeschlossen, wird nicht einmal beabsichtigt, da, so lange es ein Proletariat in der Gesellschaft gibt, geben kann und muß, es auch immer wieder irgend eine Bourgeoisie, also eine bevorrechtete und ausbeutende Klasse gibt.

Indem die "Diktatur des Proletariats" unfähig ist zur Beseitigung von jeglichem bourgeoisen wie staatlichen Schmarotzertum, ist sie das Mittel, um dieses, aber mit diesem zugleich auch das Proletariat zu verewigen, weil jede Herrschaft ein Proletariat braucht, um ausbeuten und sich auf Kosten der Gesellschaft schmarotzerhaft erhalten zu können. Die "Diktatur des Proletariats" ist somit, da, wie Rußland zeigt, sie nicht die Bahnbrecherin des Kommunismus ist, nichts anderes als die Aufrechterhaltung der bestehenden Ausbeutungsordnung unter einer reaktionär-despotischen politischen Herrschaftsform, deren Nutznießer die proletarischen Parteiführer sind, deren Ausbeutungs- und Beherrschungsmaterial nach wie vor das Proletariat bildet.

Eine solche, von Theorie wie Praxis — von letzterer immer deutlicher — längst als ehrlosester Volksbetrug der Machtgier gebrandmarkte Methode will Mühsam, weil er ihr auf den Leim gegangen, in die klare Vernunfttheorie des kommunistischen Anarchismus einschmuggeln. Geradezu köstlich ist es, wenn er von der "Weitherzigkeit Lenins" schwärmt, uns erzählt, daß "Lenin gerade dem ganzen Proletariat die Diktatur übertragen will, was durch den Rätegedanken gewährleistet wird", und daß Lenin "den kommunistischen Anarchisten den Anschluß an die Bolschewiki, ohne Überzeugungsopfer zu fordern, längst möglich gemacht hat".

Jede dieser Behauptungen ist unwahr und unrichtig. Oder hat Mühsam nie etwas gehört von der gewaltsamen Auflösung von mißliebigen Sowjets? Weiß er nichts von der Abschaffung der Soldaten- und Marineräte in der russischen Roten Armee? Ist ihm unbekannt, daß diese mittels Waffengewalt gegen Arbeiter und Proletarier nicht nur einmal vorgegangen ist? Und kennt er nicht die von seinem Kameraden Karl Radek über "Anarchismus und Räteregierung" (Verlag Willascheck & Co., Hamburg) verfaßte sophistisch-verlogene Schrift, die das wahre Verhältnis unserer russischen Bewegung zur Sowjetdiktatur blitzhell beleuchtet — ein Verhältnis, das übrigens erst im November 1919 leider abermals zu einer entsetzlichen Auseinandersetzung geführt hat!

Es ist mir unbekannt, woher Mühsam sein Idealisierungsmaterial des Bolschewismus schöpft; meine Quellen kann ich ihm ungescheut nennen: Es sind die eigenen Publikationen der Bolschewiki und direkte, verläßliche Informationen, die ich von in Rußland die Räteregierung erlebenden Kameraden erhalte.

Mühsam hat das volle Recht, zu sein, was ihm beliebt. Aber ich spreche ihm das Recht ab, die Tatsachen verdecken, verdunkeln und vertuschen zu wollen, um seinen jetzigen Standpunkt rechtfertigen zu können. Es geht um viel mehr, als daß es auf letzteres ankäme.

Ich begrüße es, wenn er den Arbeitern zeigen will, "wie sich ein für allemal von jeglichem Bonzentum zu befreien", aber der Eintritt in eine Partei, die geführt ist von Bonzen eines Zentralexekutivkomitees und die Verherrlichung des Bonzen Lenin ist schwerlich der Weg dazu. Von einem Kämpfer wie Mühsam hätte man doch annehmen dürfen, daß ihm bewußt geworden, wie der Eintritt in jede Partei gleichbedeutend ist mit Selbstunterwerfung unter ihr Parteibonzentum. Sagt er, daß "die Gegensätze zwischen anarchistischem und bolschewistischem Kommunismus nicht gar so groß sind", so behaupte ich: sie sind glücklicherweise unüberbrückbar groß für jeden, der im anarchistischen Kommunismus Freiheit der Persönlichkeit, Beseitigung jeder Monopolherrschaft und Abschaffung jedes Lohnsklavensystems, also jeder Ausbeutungsmöglichkeit erblickt.

Eben weil der Bolschewismus diese Grundforderungen eines vernunftgemäßen Kommunismus nicht erfüllt, muß jeder kommunistische Anarchist ihn bekämpfen. Oder wird dieser Kampf immer dann zur "talmudistischen Wortklauberei", wenn man selbst die Möglichkeit und Gelegenheit hat, Herrscher und Monopolist, Lohnherr, Staatsmann und Kriegsindustrieller — sämtliche dieser Funktionen umfaßt der Bolschewismus, vulgo staatskommunistische Marxismus! — zu werden und sind plötzlich alle diese Funktionen integrale Bestandteile des Sozialismus geworden, weil deren Inhaber sie im Namen des "Bolschewismus" ausüben und im Namen des Proletariats dessen furchtbarste Neuversklavung bewirken?

Aus: "Erkenntnis und Befreiung", 2. Jahrgang, Nr. 11, 12 (1920). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.