Rudolf Rocker - Staat und Krieg

Sozialisten der verschiedensten Richtungen haben sich längst daran gewöhnt, die kapitalistische Wirtschaft für alle Sünden und Gebrechen der heutigen Gesellschaftsordnung verantwortlich zu machen und in ihr die eigentliche Ursache aller Kriege zu erblicken, die seit Jahrhunderten das soziale Leben der Völker schwer erschüttert und periodisch aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Diese Auffassung verdankt ihren Ursprung vornehmlich dem Glauben, alle gesellschaftlichen Übel auf dieselbe Ursache zurückführen zu müssen, der das Denken der Menschen dazu verleitete, nach einem bestimmten Universalmittel Ausschau zu halten, von dem man sich die völlige Beseitigung aller sozialen Mißstände versprach. Nachdem man sich unter dem Einfluß der marxistischen Lehre mit dem Gedanken vertraut gemacht hatte, in den jeweiligen Produktionsverhältnissen die treibende Kraft aller politischen und ideologischen Veränderungen in der Struktur der Gesellschaft entdeckt zu haben, ergaben sich alle weitere Folgerungen ganz von selbst.

Wie die Bourgeoisie als Klasse das feudale - Wirtschaftssystem der Aristokratie verdrängt und durch die kapitalistische Wirtschaft ersetzt hatte, so wurde nunmehr dem Proletariat die historische Mission zugeschrieben, den Kapitalismus durch den Sozialismus abzulösen. Als notwendiges Übergangsstadium für diese große gesellschaftliche Wandlung betrachtete man die sogenannte Diktatur des Proletariats, der man die Aufgabe zudachte, die Klassenunterschiede zu beseitigen und nach getaner Arbeit pflichtgetreu abzudanken, damit sich die klassenlose sozialistische Gesellschaft als Assoziation der Produzenten frei entfalten könnte wie der Vogel Phönix aus der Asche. In der Theorie machte sich das alles auch sehr einfach; die ganze Sache war ja so klar, daß man sie mit den Händen greifen konnte. Daß man die neue Lehre anspruchsvoll als wissenschaftlichen Sozialismus ausgab, im Gegensatz zu den Traumgebilden der sogenannten Utopisten, trug nicht wenig dazu bei, ihren Anhängern jene kritiklose Sicherheit der Überzeugung einzuflössen, die sich über jedem Zweifel erhaben fühlte und jede andere Meinung als kleinbürgerlich in Verruf brachte. Generalisierungen sind immer ein bedenkliches Mittel, wenn es sich um die Begründung von Ideen handelt, da sie sich fast immer auf Hypothesen stützen, die noch durch keine praktische Erfahrung erprobt werden konnten. In sozialen Fragen aber sind sie doppelt gefährlich, besonders wenn man bestimmten gesellschaftlichen Vorgängen einen gesetzmäßigen Verlauf beizulegen versucht, für den im Voraus keine Beweise zu erbringen sind.

Heute, wenn wir mit Wirklichkeiten zu rechnen haben, die niemand in ihrem vollen Umfang voraussehen konnte, begreifen wir das besser oder sollten es wenigstens besser begreifen, wenn wir uns wirklich Mühe geben, die furchtbaren Erfahrungen der letzten Vergangenheit nach ihren praktischen Ergebnissen zu beurteilen. Die oberflächliche Behauptung, daß der Kapitalismus die Ursache aller Kriege sei, erscheint uns heute doch etwas zu einfach, um von denkenden Menschen noch ernst genommen zu werden. Sie ist schon deshalb hinfällig, weil der Krieg nicht nur eine Erscheinung des kapitalistischen Zeitalters ist, sondern in allen Perioden der menschlichen Geschichte vorkam, als von einer kapitalistischen Wirtschaft noch keine Rede sein konnte. Es gibt überhaupt keine Epoche der Geschichte, die den Krieg nicht gekannt hätte, von den Feindseligkeiten halbwilder Völkerstämme um die besten Jagdgründe oder Weideplätze, bis zu den endlosen Kriegen, die nach der Gründung der ersten Staatsgebilde bis heute ihren Fortgang nahmen.

Seinen eigentlichen militärischen Charakter erhielt der Krieg erst mit der Entwicklung der ersten Staaten, die durch die Einführung besonderer Armeen den Krieg erst zu einem Mittel der Eroberung machten. In allen Zeiten der bekannten Geschichte wurde der Krieg von Staaten sanktioniert, organisiert und ausgeführt. Seine unmittelbaren Ursachen waren sehr verschieden, wie sie es noch heute sind, obgleich dabei immer machtpolitische Interessen den Ausschlag gaben, was schon in den gegenseitigen Rivalitäten der verschiedenen Staaten begründet war. In vielen Kriegen spielten religiöse Glaubensgegensätze eine eine wichtige Rolle. Wie in den Kreuzzügen, in den jahrhundertelangen Fehden der islamitischen Staaten mit der christlichen Welt, m den Hugenottenkriegen, dein Dreißigjährigen Krieg usw., die mit besonderer Erbitterung geführt wurden wie alle Kämpfe, in denen es sich um religiöse Streitfragen oder ideologische Gegensätze anderer Art, handelte, wie z. B. in den Revolutionskriegen der verschiedensten Länder. Zahlreiche Kriege wurden durch dynastische Interessen oder durch das Ringen einzelner Großstaaten um die Hegemonie über Europa hervorgerufen. Dazu gehören der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich, der Spanisch-Österreichische Erbfolgekrieg und alle späteren bewaffneten Konflikte auf dem Kontinent von Napoleon bis Hitler.

Zweifellos haben in all diesen Kämpfen, die häufig ganze Landesteile in Wüsten verwandelten, auch wirtschaftliche Fragen mitgespielt, da es sich ja in jedem Kriege um die militärische und politische Unterwerfung des Gegners handelt und jede politische Unterdrückung mit der wirtschaftlichen Ausbeutung des Besiegten verbunden ist. Es gibt zwischen all diesen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens innere Zusammenhänge, die keiner bestreiten wird, der sich ernstlich mit diesen Fragen beschäftigt. In den meisten Fällen sind die verschiedenen Formen des historischen Geschehens so eng mit einander verwebt, daß sie Überhaupt nicht zu trennen sind. Aus diesem Grunde ist jeder Versuch, in einem bestimmten Faktor der sozialen Lebensäußerungen die eigentliche Triebfeder aller geschichtlichen Vorgänge sehen zu wollen, ein ganz hoffnungsloses Unternehmen, das zu den schlimmsten Trugschlüssen verleitet, wie gerade heute jeder erkennen muß, der aus den Begebenheiten der jüngsten Geschichte überhaupt etwas gelernt hat.

Indem man der kapitalistischen Wirtschaftsordnung die ganze Verantwortung für alle sozialen Unzulänglichkeiten, darunter auch die eigentliche Ursache für den Krieg aufbürdete, übersah man fast vollständig, daß der moderne Kapitalismus sich erst in einer Zeit entwickelte, als überall in Europa bereits eine ganze Reihe nationaler Großstaaten bestanden, an die sich die neue Wirtschaft anpassen mußte. Daß die Produktionsverhältnisse, die, nebenbei gesagt, nur einen Teil der Wirtschaft ausmachen, nicht allmächtig sind und nicht, wie Marx behauptete, "die gesellschaftlichen Bewußtseinsformen" und "den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt bestimmen", geht schon daraus hervor, daß der königliche Absolutismus in Europa jede Entwicklungsmöglichkeit der Produktionsverhältnisse durch seine unsinnigen Ordonnanzen und Reglementierungen jahrhundertelang verhindern konnte, obgleich das gesellschaftliche Bewußtsein längst vorhanden war, daß unter jenem Regime jede Verbesserung der wirtschaftlichen Lebensbedingungen ausgeschlossen war, wie dies aus den Schriften der sogenannten Physiokratischen Schule deutlich genug hervorgeht. Erst nach dem Sturz der absoluten Monarchie und den großen politischen Veränderungen, die das Zeitalter der Revolutionen fast überall in Europa herbeiführte, konnte sich die neue Wirtschaftsordnung erst richtig herausbilden.

Das kapitalistische Wirtschaftssystem, das nicht wie das alte vornehmlich auf lokalen und regionalen Bedarf eingestellt war, sondern auf Massenproduktion und daher auf den Import von Rohstoffen für seine Industrien und auf den Export fertiger Waren für fremde Märkte, war schon seiner Natur nach international, konnte aber trotzdem nicht den engen Rahmen des nationalen Staates sprengen und war gezwungen, sich diesem einzufügen, umsomehr, als seine Entwicklung von dem neuen Staat begünstigt wurde, der versuchte, es seinen machtpolitischen Bestrebungen dienstbar zu machen wie jede Institution innerhalb seiner Einflußsphäre. Wenn es auch wahr ist, daß die Träger der kapitalistischen Wirtschaft auf die Gestaltung des modernen Vertretungsstaates einen starken Einfluß hatten, so bleibt es' doch nicht weniger wahr, daß der neue Staat durch die Verleihung weit ausgedehnter Monopole der kapitalistischen Wirtschaft erst richtig auf die Beine geholfen hat und als der eigentliche Schöpfer aller Wirtschaftsmonopole betrachtet werden muß. Der Schacher mit Monopolen begann bereits in der Vorperiode des eigentlichen Kapitalismus, in der Ära des sogenannten Merkantilismus, und hat sich seitdem ununterbrochen fortgesetzt, bis er endlich heute in einer ganzen Anzahl von Ländern in einen teilweisen und in Rußland mit seinen Satelliten in einen totalitären Staatskapitalismus ausmündete.

Kein Wirtschaftssystem, wie verkehrt und ungerecht seine Grundlagen immer sein mögen, hat am Kriege ein unmittelbares Interesse, schon deshalb nicht, weil die Wirtschaft ein viel zu kompliziertes Gewebe ist, dem jeder gewaltsame Eingriff gefährlich werden muß, und das nur in der Zeit des Friedens am besten gedeihen kann. Sogar der Umstand, daß manche Industrien aus den Vorbereitungen zum Kriege und dem Krieg selbst große Profite ergattern, ändert nichts an der Tatsache, daß der Krieg der Wirtschaft als Ganzes ungeheure Wunden schlägt, die nur im Laufe langer Zeiträume allmählich geheilt werden können. Über die unheimliche Rolle der sogenannten Rüstungsindustrien ist bereits sehr viel geschrieben worden, aber man vergißt dabei allzu häufig, daß diese Unternehmungen in der Wirklichkeit nichts anders als vom Staate sanktionierte Privatmonopole waren wie die Krupp-Werke in Deutschland, die Schneider-Werke in Frankreich, die Skoda-Werke in der Tschechoslowakei, die Putiloff-Werke in Rußland, die Armstrong-Werke in England und zahlreiche ähnliche Unternehmungen in denselben und anderen Ländern. Sie wurden vom Staate begünstigt, weil er sie zur Förderung seiner machtpolitischen Bestrebungen benötigte. So lange es sich um kurze Kriege zwischen einzelnen Ländern handelte, waren die Auswirkungen nicht so offensichtlich; heute aber, wo sich der kleinste Krieg zu einer Weltkatastrophe entwickeln kann, wo auf beiden Seiten sich ganze Koalitionen von Staaten gegenüberstehen, kann sich niemand mehr verhehlen, daß der Krieg der gefährlichste Feind der Wirtschaft ist. Wer sich darüber bisher noch nicht klar war, dem mußten die schauerlichen Ergebnisse der vergangenen beiden Weltkriege für die gesamte Weltwirtschaft eine Lehre erteilen, die nur ein geistig Blinder mißverstehen kann.

Die ungeheuere Verwüstung ganzer Länder, die wahnsinnige Verschwendung kostbarer Rohstoffe für die Zwecke sinnloser Zerstörung, die gewaltsame Vernichtung aller normalen Handels- und Austauschbeziehungen zwischen den verschiedenen Ländern, die Tatsache, daß in vielen Staaten große Schichten der Mittelklasse völlig ausgetilgt wurden durch die sozialen Wirkungen des Krieges, das grenzenlose Elend, das er über ganze Erdteile gebracht hat, das sich heute immer mehr zu einer gefährlichen Bedrohung der gesamten herrschenden Wirtschaftsordnung auswächst, -  das alles zeigt klar und deutlich, daß fortgesetzte Katastrophen jede Wirtschaft in ein Chaos verwandeln und das gesellschaftliche Leben der -Auflösung und offenen Barbarei ausliefern müssen. Wer nach all diesen Erfahrungen noch immer behauptet, daß die kapitalistische Wirtschaft direkt am Kriege interessiert ist, der behauptet damit, daß ihre Träger ein direktes Interesse daran besitzen, Selbstmord zu begehen. Er vergißt, daß, abgesehen von den primitiven Gesellschaftsverbänden der Vorzeit, alle Kriege durch die Machtpolitik der Staaten hervorgerufen wurden, einerlei ob es sich dabei vornehmlich um politische, wirtschaftliche oder ideologische Ursachen handelte.

Natürlich wäre auch der Staat nie imstande gewesen, die Menschen für den Krieg zu gewinnen, wenn es ihm nicht stets gelungen wäre, in allen Schichten der Bevölkerung Anhänger für seine Pläne zu finden, die sich entweder durch falsche Vorspiegelungen betören ließen oder aus eigenem Antrieb seinen Absichten entgegenkamen. Man kann daher auch nicht mit gutem Gewissen behaupten, daß die Bourgeoisie als angeblicher Träger der kapitalistischen Wirtschaft für den Krieg im allgemeinen oder auch nur für alle Kriege der kapitalistischen Periode allein verantwortlich sei. Daß die Eroberungskriege der Mazedonier, Perser und Römer oder die Raubzüge von Dschinghis-Khan, Tamerlan, Attila und die endlosen Fehden zur Zeit der Völkerwanderung, die jahrhundertelang große Gebiete Europas und Asiens mit Mord und Brand erfüllten, als Ergebnisse der jeweiligen Produktionsweise zu erklären sind, glauben heute nur noch wenige; obgleich es auch hier nicht an Stimmen fehlte, die jene Vorgänge als geschichtliche Notwendigkeiten bezeichneten, die durch die materiellen Verhältnisse der Zeit bedingt waren. Mit derselben Logik könnte man von einer historischen Mission des organisierten Gangstertums in Amerika sprechen, was auch nicht geistvoller wäre.

Tatsache aber ist, daß sie in den vergangenen beiden Weltkriegen nicht nur die Bourgeoisie, sondern auf beiden Seiten Menschen aller Gesellschaftsschichten für den Krieg einsetzten, darunter auch die große Mehrheit der organisierten Arbeiterschaft. Auf die Beweggründe dieser Erscheinung werde ich noch bei einer anderen Gelegenheit zu sprechen kommen; vorläufig genügt es, diese unbestreitbare Tatsache selbst zu betonen. Wenn es sogar wahr wäre, daß die Produktionsverhältnisse die gesellschaftlichen Bewußtseinsformen bestimmen, wie Marx erklärte, so geht doch aus der oben erwähnten Tatsache klar hervor, daß das Bewußtsein der Menschen nicht durch ihre Klassenzugehörigkeit, sondern durch die Vorstellungen des Einzelwesens bestimmt wird, welcher Gesellschaftsschichte er immer angehört. Dies zeigt sich schon dadurch, daß in allen großen sozialen Kämpfen der Geschichte große Massen des unterdrückten Volkes sich dazu verleiten ließen, die Vorrechte ihrer Herren zu verteidigen, während sich gerade die vorgeschrittenen Teile der Privilegierten für eine Veränderung der sozialen Bedingungen einsetzten. Das gilt auch für den Sozialismus, denn die übergroße Mehrheit seiner geistigen Vorkämpfer ist nicht aus dem Lager des Proletariats, sondern aus den oberen Gesellschaftsklassen hervorgegangen. Sogar der Einwand, daß bei den Arbeitern häufig ihre Unwissenheit sie daran verhindert, ihre wirklichen Interessen zu erkennen, beweist gar nichts, denn Unwissenheit ist kein wirtschaftlicher, sondern ein psychologischer Faktor, dem man bei allen anderen Klassen und sogar bei den Intellektuellen ebensohäufig begegnet. Wäre dies nicht der Fall, so wäre das geistige Chaos, aus dem beide Weltkriege hervorgingen, und das ihnen folgte, überhaupt undenkbar.

Wenn der Krieg eine Erscheinung ist, die bisher in allen bekannten Epochen der Geschichte zum Ausdruck gelangte, so hat es aber auch in keiner Zeit an Menschen und Bewegungen gefehlt, welche die furchtbaren Wirkungen des Krieges auf die gesellschaftlichen Lebensbedingungen richtig erkannten, von dem chinesischen Weisen Laotze bis Zeno und den späteren Stoikern. Große religiöse Bewegungen wie der Buddhismus und das ursprüngliche Christentum, bevor es unter den Einfluß der Kirche geriet, verdammten den Krieg und setzten sich für den Frieden unter den Menschen ein. Die zahlreichen christlichen Sekten des Mittelalters, von den Gnostikern, Manichäern und Bugomilen bis zu den Brüdern vom freien Geiste, die alle von der Kirche als Ketzer Verfolgt wurden, verfolgten dieselben Bestrebungen. An allen diesen Bewegungen beteiligten sich Menschen der verschiedensten Gesellschaftsklassen. Auch die größten Vertreter des europäischen Humanismus, die noch nicht von nationalistischen Vorurteilen verblendet waren und die menschliche Kultur als Ganzes im Auge hatten, verurteilten den Krieg mit Lionardo da Vinci "als die größte menschliche Dummheit". Aus ihren Reihen gingen die ersten Ansätze des Internationalen Völkerrechts hervor, das in dem Holländer Grotius seinen stärksten Vertreter fand. Auch in unserer Zeit hat es nicht an solchen Bestrebungen gefehlt, die aber nie an eine bestimmte Klasse gebunden waren. Tatsache ist, daß viele der bekanntesten Wortführer der heutigen Pazifistischen Bewegung aus dem Lager der Bourgeoisie und sogar der Aristokratie kamen. Über den großen moralischen Einfluß von Gandhis Tätigkeit soll hier gar nicht gesprochen werden, da sie allen bekannt ist.

Gerade weil man die Wirtschaft zum Angelpunkt alles gesellschaftlichen Geschehens machte und im Kapitalismus die notwendige historische Voraussetzung für die Verwirklichung des Sozialismus gefunden zu haben glaubte, verkannte man den machtpolttischen Einfluß des Staates und ließ sich sogar dazu verführen, dem politischen Zentralismus immer größere Zugeständnisse zu machen, wie es die große Mehrheit der organisierten Arbeiterbewegung zu ihrem eigenen Unglück getan hat. Zu welchen Verschrobenheiten diese Ideengänge Menschen verleiten konnte, zeigte die Stellung Wilhelm Liebknechts zur Zeit des Südafrikanischen Krieges, der das Vorgehen Englands damit rechtfertigte, daß ebenso wie es im Interesse' der sozialen Entwicklung liege, daß das Kleinkapital vom Großkapital aufgesaugt werde, so läge es auch im Interesse des Fortschritts, daß die kleineren Staaten von den Großstaaten verdrängt würden. Nach dieser Logik gab es überhaupt ' keinen Unterschied mehr zwischen Recht und Unrecht. Die späteren Vertreter des totalitären Staates haben denn auch aus solchen Lehren die letzten Konsequenzen gezogen, indem sie einer politischen Maschine Geist und Seele des Menschen opferten. Gerade heute, wo wir auf der Schwelle einer neuen Epoche angelangt sind, welche die Zukunft der Menschheit auf lange Zeit hinaus entscheiden wird, ist die Erkenntnis dieser inneren Zusammenhänge doppelt notwendig, wenn wir den Kreislauf der Blindheit nicht von neuem beginnen und einem größeren Abgrund hilflos entgegentaumeln wollen.

Aus: Rudolf Rocker - Aufsatzsammlung Band 2 1949-1953, Verlag Freie Gesellschaft,1980

Originaltext: Newsgroup de.alt.soc.anarchie